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Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

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26 Erinnerungen Lizzi Jalkio<br />

Kinder schlossen – zuerst ängstlich, später selbstsicher – Freundschaften mit Tieren,<br />

Käfern und Schmetterlingen. Es sind gute Kinder, durchschnittliche Kinder,<br />

keines übermäßig schön oder übermäßig intelligent, keines hat bemerkenswerte<br />

Talente, aber sie lieben Tiere und Blumen und sind glücklich, am Leben zu sein.<br />

Wir singen und lachen viel, und die Dinge sind sehr, sehr gut.<br />

Alles verläuft in geregelten Bahnen. Mein Mann hat eine hohe Lebensversicherung.<br />

Wenn wir alt sind, werden wir auf unserer Bank in der Sonne sitzen und<br />

nichts tun. Wenn Lizzi achtzehn ist, wird sie eine hübsche Summe Geld haben. Sie<br />

kann dann entweder etwas anfangen oder heiraten. Sie ist versorgt. Wir haben auch<br />

für Peter eine Versicherung. Vielleicht wird er meinem Mann in der Fabrik nachfolgen,<br />

aber zuerst sollte er reisen und die Welt kennen lernen. Dafür braucht man<br />

Geld, und wir sparen auch für das Jüngste.<br />

Je<strong>des</strong> Jahr zu Weihnachten fange ich an, für eine große Reise im Sommer zu<br />

sparen. Ich würde gerne Prag oder Berlin sehen oder an das Meer fahren. Aber<br />

sobald der Sommer kommt, bin ich bereits so glücklich mit meinen Plänen, dass<br />

es eigentlich keinen Grund zu reisen mehr gibt. Ich bekomme Ansichtskarten <strong>von</strong><br />

meinen Freunden. Ich beneide sie nicht. Zuhause ist es am schönsten.<br />

Mein Mann hat viele Ehrentitel, so wie sie respektierte Leute bekommen, aber<br />

er kümmert sich kaum um Politik und mag es nicht, zu irgendwelchen Veranstaltungen<br />

zu gehen. Einmal in der Woche spielt er Karten, und manchmal gehen wir<br />

ins Kino, das ist alles. Etwas, worum uns jeder beneidet: Wir haben immer das beste<br />

und neueste Radio, und jeden Abend kommt die ganze weite Welt zu uns in unser<br />

Haus.<br />

Im Radio habe ich auch Schuschniggs letzte Rede gehört, und ich wusste, dass<br />

nun alles vorbei war. Unser ganzes bisheriges Leben brach für mich in diesem Moment<br />

zusammen. Ich kann mich noch erinnern, dass ich aufgestanden bin und zum<br />

ersten Mal die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen habe. Nicht nur<br />

die Welt hatte sich verändert, sondern auch wir wurden anders, irgendwie krank.<br />

Ich glaube, ein Aussätziger muss sich so fühlen, wie wir es taten. Wir kannten das<br />

Nazi-Regime aus Erzählungen und wussten, was uns erwartete. Wir dachten, vieles<br />

sei übertrieben, aber was wir tatsächlich glaubten, war immer noch genug. Die<br />

ganze Nacht über wurde auf der Straße gelärmt und gesungen, wir hätten ohnehin<br />

Lizzi Jalkio Erinnerungen 27<br />

nicht geschlafen. Wir hörten Radio. Das alles ist nicht allzu lange her, trotzdem<br />

habe ich das meiste da<strong>von</strong> vergessen. War es die Nacht <strong>des</strong> Fackelzuges, den meine<br />

Kinder nicht länger sehen konnten? War es die Nacht, in der die deutschen Truppen<br />

und die SA die Grenze überschritten haben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur,<br />

dass ich meinen Mann anflehte, uns über die Grenze zu bringen, alles zurückzulassen.<br />

Mein Gott, Frauen folgen ihrem Instinkt. Aber mein Mann wollte die Fabrik,<br />

die er aus dem Nichts aufgebaut hatte, nicht im Stich lassen. Auch nicht die Versicherungen<br />

und alles andere. Er verschloss seine Augen und dachte, dass uns nichts<br />

geschehen könnte. Hoch dekorierte Frontsoldaten würden anders behandelt. Was<br />

würde man uns und unserem untadeligen Leben antun wollen? Es gebe viele Juden,<br />

die in Deutschland leben, und denen scheine es ganz gut zu gehen. Wahrscheinlich<br />

werde man nicht mehr so viel verdienen, und vielleicht müssten die Kinder in ein<br />

anderes Land geschickt werden, aber man müsse gründlich über alles nachdenken.<br />

Man dürfe nicht überstürzt reagieren.<br />

Dann kam ein Sonntag, an dem wir ausgingen. Die roten Hakenkreuzfahnen<br />

kreischten <strong>von</strong> den Dächern herab, und die Menschen grüßten sich hilflos mit dem<br />

neuen „Heil Hitler“-Gruß. Sie grüßten auch uns, und wir wussten nicht, wie wir<br />

antworten sollten. Sie sagten uns, dass nun alles in Ordnung sei. Es würde Brot und<br />

Arbeit geben. Eine alte Frau erklärte: „Für uns ist es wirklich ein Glück, dass Hitler<br />

in dieses Land gekommen ist, die Nazis hätten uns sonst völlig ruiniert.“ Ein Mann<br />

erklärte mir, dass es jetzt endlich Gerechtigkeit geben werde. Jetzt würden Arbeiter<br />

endlich arbeiten können, und er werde im Büro sitzen. Ich fragte ihn vorsichtig, ob er<br />

denn etwas <strong>von</strong> dieser Arbeit verstehe. Er antwortete: „Nein, aber ich bin ein langjähriger<br />

Illegaler, und das genügt!“ Der nächste Tag war ein Arbeitstag, und wie gewöhnlich<br />

gingen wir zur Fabrik. Mir kam vor, dass es diesmal irgendwie nicht so gut nach<br />

Holz roch. Ich bildete mir ein, dass die ganze Fabrik wie eine Bierhalle roch. Falls<br />

die Begeisterung auch ein wenig abgenommen haben mag, so war die Trunkenheit<br />

immer noch da. Der neue Fabriksaufseher, der sich meinem Mann vorstellte – derselbe,<br />

der bisher ein Vertrauensmann <strong>des</strong> vorigen Regimes war und davor ein Vertreter<br />

der Sozialdemokraten gewesen war –, stand auf etwas wackeligen Beinen. Plötzlich<br />

gab es nur noch „Illegale“. Jeder wollte herumkommandieren. An diesem Tag wurde<br />

nicht gearbeitet. Am Abend war ich mit den Kindern zuhause, mein Mann in der<br />

Fabrik, als ein Polizist und ein SA-Mann bei mir auftauchten. Wo hätte ich meinen<br />

Mann versteckt? Ich würde streng bestraft werden für irgendwelche Lügen. Mein<br />

Mann wurde <strong>von</strong> der Fabrik abgeholt und kam unter Bewachung nach Hause. Dann

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