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Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

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98 Erinnerungen Victor Gans<br />

nur: „Bislang sind uns Sachen weggenommen worden, die niemals Ihnen gehört<br />

haben.“ Der Polizist lächelte sogar verständnisvoll.<br />

Ich muss zugeben, dass die meisten Polizisten – mit sehr wenigen Ausnahmen<br />

– nicht allzu schlimm waren. Der Hauptgrund dafür könnte sein, dass sie noch<br />

nicht zu Scheusalen geworden sind, dass sie wussten, dass wir unschuldig waren,<br />

und nicht zuletzt, dass das neue Regime ihnen zu einem gewissen Grad auch einen<br />

Schlag versetzt hat. Bis zu Hitlers Machtübernahme hatte die österreichische<br />

Polizei viel Prestige und Autorität genossen, die ihr <strong>von</strong> der SS entrissen wurden,<br />

die alles leitete. Polizisten wurden mehr oder weniger zu Nachtwächtern, während<br />

Deutsche aus dem Dritten Reich, großmäulig und unbeliebt, alle administrativen<br />

Angelegenheiten regelten. Man konnte es in ihren Gesichtern lesen, wenn<br />

grauhaarige Polizisten im Rang eines Inspektors vor diesen Halbstarken in SS-<br />

Uniformen Habtacht standen. Wir hatten so eine Freude, als ein junger Ganove in<br />

SS-Uniform namens Martin in unsere Zelle kam, unsere Namen wissen wollte und<br />

warum wir im Gefängnis seien. Als Heinrich antwortete: „Das weiß ich wirklich<br />

nicht“, bekam er die einfache Antwort: „Weil du Jude bist.“ Er sagte das einfach<br />

so, obwohl Göring gerade erst verkündet hatte, dass niemand verhaftet würde, nur<br />

weil er Jude sei. Selbstverständlich mussten wir Haltung annehmen, wenn dieser<br />

junge Martin uns verhörte. Angesichts der Tatsache, dass seine Besuche immer<br />

während der Nacht erfolgten, wenn wir in unserer Unterwäsche waren, waren wir<br />

nicht gerade präsentabel. Er nahm immer ein ansehnliches Gefolge <strong>von</strong> Polizisten<br />

mit, die in angemessener Entfernung strammstanden. Auch ihnen war es nicht<br />

sehr gut ergangen. Einige Monate früher wären sie mit so einem jungen Halunken<br />

anders verfahren – ein Tritt in den Hintern hätte seinen Zweck erfüllt. Jetzt, unter<br />

dem Dritten Reich, hieß es „Stillgestanden!“ vor diesen erbärmlichen Charakteren.<br />

[…]<br />

Es war verboten, die Hände hinter dem Rücken zu verschränken, und es gab<br />

auch für dieses idiotische Verbot einen guten Grund. Im Gefängnis zu sitzen war<br />

für jeden schlimm, aber noch schlimmer für schwere Raucher, und nur diejenigen<br />

können das verstehen, die mit deren Not wirklich mitfühlen können. Stundenlang<br />

in einer Zelle ohne Zigarette kann einen in den Wahnsinn treiben. Hin<br />

und wieder fand ein Glücklicher einen Glimmstängel am Gang. Dieser Schatz<br />

wurde versteckt, aber es gab auch das Problem <strong>des</strong> Zündholzes, das man dafür<br />

brauchte. Das wurde mithilfe der „Fazis“ (derjenigen, die das Essen brachten oder<br />

Victor Gans Erinnerungen 99<br />

Putzarbeiten verrichteten) gelöst, häufig Gefangene, die schon lange hier waren<br />

oder die <strong>von</strong> einigen Aufsehern aus verschiedenen Gründen begünstigt wurden.<br />

Diese „Mittelsmänner“ hatten ihre Quellen, um an Zigaretten oder Zündhölzer<br />

zu gelangen, aber leider gab es <strong>von</strong> diesen nur wenige. Es war ein glücklicher<br />

Tag, wenn man einem solchen Gewinner während eines Hofgangs begegnete. Es<br />

war ein aufregender Moment, wenn einer der Männer zu verstehen gab, dass er<br />

einen Glimmstängel hatte – was bedeutete, dass man sich hinter ihn stellen und<br />

die Aufmerksamkeit <strong>des</strong> Aufsehers nicht erregen sollte –, und mit den Händen am<br />

Rücken gelang es schließlich, die Zigarette zu erwischen. Das erklärt das Verbot,<br />

die Hände hinter dem Rücken zu verschränken. Niemand kann begreifen, wie sehr<br />

ich gelitten habe. Vor allem während der ersten Woche, als ich mich nach einer<br />

Zigarette mehr sehnte als nach Freiheit. Freiheit bedeutete nur die Möglichkeit,<br />

nach Herzenslust zu rauchen. […]<br />

Manchmal hatten wir Glück und konnten – am Morgen, wenn die Zellentür geöffnet<br />

wurde oder wenn die Öffnung in der Tür nicht verschlossen war – einige Bäume<br />

und grüne Blätter auf der Straße sehen. Mit kindlichem Vergnügen schätzten wir<br />

deren Anblick, und jeder Samstag war ein besonderer Feiertag, wenn uns Verwandte<br />

frische Wäsche bringen durften. Eine Erinnerung daran, dass es noch ein Draußen<br />

gab. Valy brachte mir Unterwäsche, Socken und sogar ein zweites Paar Schuhe. Es<br />

war wundervoll und gleichzeitig so schrecklich traurig, deine geliebte Frau so nahe zu<br />

wissen und sie dennoch nicht sehen oder sprechen zu dürfen. […]<br />

Wir wurden alle verfolgt vom Gedanken an „Dachau“, das berüchtigte Konzentrationslager.<br />

Ich werde nie die Nacht vergessen, als wir alle <strong>von</strong> Lärm geweckt wurden<br />

und aufsprangen. Smetana, der aus Versehen immer noch seine Uhr bei sich<br />

hatte, bemerkte, dass es drei Uhr morgens war. Wir wussten, dass zu dieser Stunde die<br />

für Dachau Bestimmten abgeholt wurden. Bald hörten wir das Öffnen der schweren<br />

Metalltür, und Schritte kamen näher und näher. Wir hielten den Atem an, und es<br />

gibt keine Worte, um zu beschreiben, wie sich jemand während dieser Sekunden der<br />

Unsicherheit fühlt – ob wir „selektiert“ worden waren. Schritte näherten sich unserer<br />

Tür, und dann … entfernten sie sich wieder. Eine andere Tür wurde geöffnet, und<br />

wir hörten klar und deutlich: „Samuely, los geht’s!“ Dann eine weitere Tür: „Gürtler,<br />

auf deine Beine!“ Also hatten sie sich den alten Samuely geschnappt. Er soll im Park<br />

einige abfällige Äußerungen über das Regime gemacht haben. Falls das so war, hätte<br />

er genug Gründe dafür gehabt, der arme Kerl. […]

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