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Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

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38 Erinnerungen Lizzi Jalkio Lizzi Jalkio Erinnerungen 39<br />

an den Geschäften tun nicht mehr wirklich weh. Man sieht sie, aber bald wird man sie<br />

nicht mehr sehen. Ein Ausflug in den Wienerwald, die Nacht, das Scheinwerferlicht<br />

machen alles noch unwirklicher. Der Abschied <strong>von</strong> meinem Vater, der am Friedhof liegt,<br />

der edelste und beste Mensch <strong>von</strong> allen, die auf Erden gelebt haben, und der, mein Gott,<br />

dafür werde ich dir immer dankbar sein, dies nicht erleben musste. Ich besuche meine<br />

alten Tanten, die hoch oben im vierten Stock in einer abseits gelegenen Straße wohnen,<br />

weit weg vom Umsturz und den Ereignissen der Zeit. Sie lesen keine Zeitung mehr,<br />

sie wissen nichts <strong>von</strong> den Judengesetzen. Sie kommen und gehen, wie es ihnen passt, in<br />

Geschäfte und Kaffeehäuser. Sie wissen überhaupt nichts <strong>von</strong> all dem, und sie befolgen<br />

keine Vorschriften; und bis jetzt ist ihnen noch nichts passiert. Die eine versteht nicht,<br />

warum ich weg will, sie weiß nur, dass sie alt ist und mich gern hat. Ich muss ihr versprechen,<br />

zurückzukommen. Sie bittet mich mit der zittrigen Stimme, die ich so mag und<br />

die einmal Tausende in der Oper bezaubert hat: „Ich werde dich wiedersehen, du wirst<br />

bestimmt zurückkommen.“ Ich versprach alles. Ich küsste ihre Hände. Ich werde sie nie<br />

wiedersehen.<br />

Wir bekamen das französische Visum nicht. Nur ein Reisevisum für zwei Tage, also<br />

sind wir dazu verurteilt, ein Monat länger als erwartet in Wien zu bleiben. Alles ist ziemlich<br />

traurig. Wenn es sehr kalt wird, gehen die Kinder mit einer Einkaufstasche, um<br />

Kohlen zu kaufen. Und ich verlasse jeden Tag das Haus mit vollen Einkaufstaschen. Ich<br />

verkaufe Geschirr, Bücher, alles, was entbehrlich ist. Es ist die Zeit <strong>des</strong> Mor<strong>des</strong> an Ernst<br />

[vom] Rath [deutscher Botschaftssekretär] in Paris. Ich habe den 10. November in Wien<br />

miterlebt, und auch wenn es im fremden Land schrecklich sein sollte, Kinder, nach diesem<br />

Tag scheint nichts mehr schrecklich und unerträglich sein zu können.<br />

Erinnert ihr euch, es war ein kalter, sonniger Tag. Ich ließ euch nicht in die Schule gehen.<br />

Die Zeitungen waren voll mit Anschuldigungen. Alle Juden seien schuldig und sich<br />

ihrer Schuld bewusst. Man sah sie die Häuser entlang schleichen, wir hatten alle Angst.<br />

Am Morgen ging ich zu meinem Kurs, die Straße war um diese Zeit ruhig. Eine Stunde<br />

später, am Nachhauseweg, war alles anders. Auf der Straße waren schreiende Menschenhorden.<br />

An einer Ecke wurde eine Gruppe übel zugerichteter Juden in eine Nazi-Zentrale<br />

getrieben. In der nächsten Straße wurden Geschäfte geplündert, Fenster gingen<br />

klirrend zu Bruch, und ich habe Angst, weiterzugehen. Ein Stück weiter vorne läuft eine<br />

junge Frau über die Straße. Sie hält ein kleines Kind an der Hand. Sie hat die andere<br />

Straßenseite noch nicht erreicht, als eine Burschenmeute über sie herfällt. Sie schlagen<br />

auf die Frau ein, die schreiend weiterläuft, das Kind immer noch an der Hand. Ein Mann<br />

stolpert vorbei, sein Gesicht ein blutiger Fleischklumpen. Er kann sicher nichts sehen,<br />

Blut läuft in seine Augen. In der nächsten Straße brennt der Tempel. Ich bleibe an der<br />

Ecke stehen, kann nicht weitergehen. Dann beginnt eine dicke Frau ein Gespräch mit<br />

mir, und ich gehe mit ihr heim, unter dem Schutz ihres großen Parteiabzeichens, ich lasse<br />

sie erzählen, dass sie auch den Tempel in ihrem Bezirk angezündet hätten und dass es<br />

den Juden recht geschehe, ich schlüpfe durch die Tür und bin zuhause. Inzwischen läutet<br />

das Telefon. Eine Freundin ruft an, sie hätten gerade ihren Mann abgeholt, ich solle meinen<br />

Mann verstecken. Mein Gott, wo? Ein alter Mann kommt zu uns, sie haben gerade<br />

seinen Sohn vor seinen Augen niedergetrampelt. Von unserem Fenster aus sieht man<br />

die Straße. SA-Truppen ziehen <strong>von</strong> Haus zu Haus. Sie führen Gruppen <strong>von</strong> zehn bis<br />

fünfzehn Männern in die Parteizentrale. Ich beobachte, wie sie in das Haus gegenüber<br />

der Straße gehen, sie kommen zum Nebenhaus, dann höre ich Schritte im Stiegenhaus.<br />

Ich glaube, ich habe meinem Mann ein Stück Brot in die Hosentasche gesteckt, „Auf<br />

Wiedersehen, George, irgendwie werde ich dich herausbekommen“, und dann wurden<br />

die Schritte leiser, und niemand kam zu uns.<br />

Man hat viel Leid gesehen und <strong>von</strong> viel Leid gehört in den nächsten Tagen. Wir waren<br />

vier Familien in den kleinen Wohnungen. Viele Menschen wurden verschleppt und<br />

tauchten später irgendwie, irgendwo unter. Man wurde vor Furcht so klein, dass man am<br />

kleinsten Ort Platz hatte.<br />

Einige Tage später zahlte die Firma einen kleinen Teil <strong>von</strong> Georges Ansprüchen aus.<br />

Ich weiß nicht, warum. Ich denke, jeder fühlte sich irgendwie verantwortlich für das<br />

Elend, und jeder wollte sein Gewissen beruhigen. Ich habe <strong>von</strong> mehreren ähnlichen<br />

Fällen gehört.<br />

In letzter Zeit geht es uns etwas besser. Wir haben wieder genug zu essen, wir haben<br />

ein warmes Zimmer, wir konnten sogar die nötigen Sachen für die Reise kaufen. Wir<br />

schickten unser Gepäck nach Bordeaux, und in der Zeit bis zu unserer Abreise lebten wir<br />

wie Zigeuner ohne Bettwäsche, ohne Geschirr, wie auch immer es ging. Zu Weihnachten<br />

hatten wir einen winzig kleinen Baum mit Lichtern, und ich habe einen Tannenzweig<br />

aufbewahrt, ich werde ihn mit in das fremde Land nehmen. Auf Wiedersehen, Heimat,<br />

schöne, geliebte Heimat. Meine Großeltern haben hier gelebt und sind hier begraben,<br />

meine Eltern haben auch Deutsch gesprochen und haben dich geliebt, und wir sind hier<br />

aufgewachsen. Menschlicher Wille kann uns <strong>von</strong> hier vertreiben, kann uns aber niemals<br />

unser Vaterland nehmen. Mit Gottes Hilfe werden wir dich einmal wiedersehen.

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