17.12.2012 Aufrufe

Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

auf der reise – Jenny de Nijs<br />

oben links: auf dem Weg in die<br />

neue Heimat – Jennys mutter<br />

Caroline Schulhof<br />

Jenny de Nijs und<br />

ihre Tochter romaine<br />

Jenny de Nijs Erinnerungen 171<br />

9. März 1941<br />

Ach Gott, die Zeit vergeht, und ich komme ewig nicht zum Schreiben, dabei<br />

geht das in kein Buch, zumin<strong>des</strong>t nicht in dieses. Ich möchte schon so gerne<br />

<strong>von</strong> jetzt schreiben, aber schön der Reihe nach. Es ist schwer, sich nach so langer<br />

Zeit zu konzentrieren. Jedenfalls war es nicht leicht, Wien adieu zu sagen,<br />

wo ich es so liebte und eine so schöne Zeit verbrachte. Kurz nachdem Poldi<br />

wegfuhr, feierten wir Sylvester. Es war gar nicht so schlecht. Ivan war da und<br />

Coronicar, und wir unterhielten uns sehr gut. Als wir alle im schönen Speisezimmer<br />

mit dem grünen Kamin roten Sekt tranken und anstießen, wussten wir<br />

alle nicht, was das Jahr 1939 bringen würde. In unserer geliebten Wohnung<br />

blieben wir nur mehr bis Mitte März, dann mussten wir aus dem Haus. Ich<br />

nahm Abschied <strong>von</strong> meinem süßen, roten Zimmer, das frisch lackiert wurde,<br />

um in Hamburg zu vermodern. Alle Möbel standen herum, ausgeräumt, leer<br />

zum Verpacken, das letzte Mal staubte ich die Stäbe an meinem Bett ab und<br />

liebkoste die Matratzen mit den Augen und dachte, wer aller darauf gesessen<br />

ist, und Erinnerungen kamen und kommen jetzt wieder, immer wieder unauslöschbar<br />

in mein Blut! Das arme Finnerl war sehr krank und musste während<br />

all dem Wirbel liegen und übersiedeln. Sie lag auf der Ottomane [Sitzmöbel]<br />

mit demselben Muster wie die Schlafzimmervorhänge und wurde hin und her<br />

geschoben. Die Meißner-Teller wanderten in Zeitungspapier. Ich kaufte mir<br />

schnell neues Geschirr mit Frau Anna. Und ich träumte nicht, dass ich das alles<br />

nicht mehr sehen sollte. Ich gebe noch immer die Hoffnung nicht auf. Dann<br />

übersiedelten wir in die Taubstummengasse 15. Es war ein schönes Haus, die<br />

Wohnung möbliert, 1 Schlafzimmer, sehr nett in weiß, und ein schönes Biedermeierkabinett.<br />

Wir nahmen unsere Bettbank mit. Dann später kauften wir<br />

noch ein neues Radio und einen viereckigen Tisch und 2 Perserteppiche, einen<br />

Schiras und einen Bochara. Wir hatten schöne, aber auch sorgenvolle Tage bei<br />

Frau Schlichter, und jeden Abend kam Spiegelkarl, Dr. Werner oder Ivan und<br />

wir kochten Kaffee in der klassen Glasmaschine. Wir hatten auch Telefon. Mit<br />

der Zeit korrespondierten wir mit Leuten in Australien. Als wir das Permit<br />

[Einreiseerlaubnis] abgelehnt hatten, freute ich mich schon, aber nach alledem<br />

wurde es dennoch bewilligt, man besorgte Schiffskarten, und auf ja und nein<br />

hieß es, morgen fahren wir weg. Ja, das kam alles so schnell, man hatte keine<br />

Zeit zu überlegen, na und schließlich war es der einzige Ausweg zu entkommen,<br />

also der 9. August rückte heran, und weiter schreibe ich nächstens, ich bin<br />

schon müde.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!