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Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus

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92 Erinnerungen Susan Course<br />

dem Christbaum satt gesehen hatte, ging ich zu meinen Spielsachen. Ich bekam 4 Bücher,<br />

eine Stickerei-Schachtel, eine Perlwebarbeit, ein Mühle- und Dame-Spiel, ein Messer und<br />

Taschentücher, einen Kalender, ein Tintenfass und dieses Tagebuch. Ich bekam es <strong>von</strong> der<br />

Tante Elsa. Den ganzen Abend spielte ich mich mit den neu bekommenen Sachen.<br />

Wien, 9. November 1920<br />

Ein Tag meiner Jugend Heut wachte ich erst sehr spät auf. Ich zog mich schnell an,<br />

meine kleine 4-jährige Schwester wurde auch schon angezogen. Meine kleine Schwester<br />

heißt Paulinchen. Paulinchen freute sich schon sehr, denn sie hatte heute Turnen.<br />

Um 1 /210 gingen wir weg, und <strong>von</strong> 10–11 dauerte die Turnstunde. Wir mussten ein paar<br />

Besorgungen machen. Sobald diese erledigt waren, gingen wir nach Hause. Nachmittag<br />

hatte ich Turnstunde. Als ich nach Hause kam, jausnete ich, übte Klavier, badete und<br />

nachtmahlte und ging ins Bett.<br />

Wien, 14. Jänner 1921<br />

Ein Tag meiner Jugend Heut hab ich erst um 9 Uhr Schule gehabt. Wir hatten folgende<br />

Gegenstände: Religion, Geographie, Französisch, Deutsch. In den Pausen ging es wie<br />

immer sehr lustig zu. Als ich nach der Schule nach Hause kam, aß meine kleine Schwester<br />

gerade das Mittagessen. Sie ist zu klein, um mit den anderen zu essen. Nachmittag hatte<br />

ich Turnen. Am Abend aber saß ich vor und nach dem Nachtmahl und vertraute Dir,<br />

mein Tagebuch, meine Tageserlebnisse an.<br />

Australien, 27. Mai 1941<br />

Am 6. April 1941 ist mein Vater gestorben. Ich habe es erst am 7. Mai erfahren. Ihn werde<br />

ich nicht mehr wiedersehen. Möge es das Schicksal geben, dass ich meine Mutter wiedersehe.<br />

Manchmal glaube ich, es ist undenkbar, dass wir diesen Krieg überleben werden. Ich<br />

kann mir das Ende nicht vorstellen.<br />

In einem Brief an eine Verwandte beschreibt Hertha Langer die Vorfreude<br />

auf deren Ankunft in Australien und die diesbezüglichen Vorbereitungen.<br />

Australien, 6. Februar 1939<br />

Liebstes Lottchen! Vor allem gratuliere ich Dir herzlichst zum Geburtstag. Ihr steht<br />

an der Pforte in die neue Zukunft, und wir wünschen Dir das Beste und Schönste für<br />

das kommende Jahr. Wir werden Deinen Geburtstag in Gedanken miteinander feiern.<br />

Ihr seid uns ja doch schon um ein Stück näher gerückt, und wir können den Tag kaum<br />

Susan Course Erinnerungen 93<br />

erwarten, an dem wir euch vom Schiff abholen können. Unendlich viel Liebes haben wir<br />

alle in Wien zurückgelassen, und es ist nicht leicht, darüber hinwegzukommen. Wollen<br />

wir glauben, dass es uns wie euch gelingen wird, hier eine neue Heimat zu finden. Es ist<br />

ein gutes Land, in das ihr kommt. Dass Peter bisher noch nichts gefunden hat, braucht<br />

euch nicht aufzuregen. Er hatte <strong>von</strong> vornherein die Absicht, auf verschiedene Leute zu<br />

warten, um gemeinsam etwas zu beginnen. Ich glaube, dass ziemlich große Möglichkeiten<br />

für den rechten Mann sind.<br />

Peter hat für Dich auf eine Annonce geantwortet und folgende Antwort bekommen:<br />

I am in receipt of your letter of the 30th in regard to your sister Mrs. C. Müller. The appointment<br />

committee has asked me to tell you, that we are very much interested in what you tell us about your<br />

sister. On her arrival in the middle of March we will be very glad to interview Mrs. Müller, when<br />

she would be able to supply us with her testimonials and full details of her work. It is quite possible,<br />

that we may have a vacancy in which Mrs. Müller might be interested.<br />

Das klingt sehr gut. Ich glaube, Du wirst auf keinen Fall Schwierigkeiten haben, eine<br />

gute Stellung zu finden. Wir haben gehofft, dass ihr uns telegraphisch da<strong>von</strong> verständigen<br />

werdet, wenn ihr Wien verlassen habt. Wir sind sehr aufgeregt, ob alles in Ordnung<br />

gegangen ist. Ich nehme an, dass ihr wirklich am 10. das Schiff in Southampton besteigen<br />

werdet. Hoffentlich wird der berüchtigte Golf <strong>von</strong> Biskaya mit euch ein Einsehen haben.<br />

Susi lässt Dir herzlichst gratulieren, aber sie wollte Dir absolut nichts anderes schreiben,<br />

als dass sie einen toten Hund auf der Straße gesehen hat. Als ich sagte, das sei nicht<br />

das richtige Geburtstagsthema, sagte sie, ich solle auch schreiben, dass ein Hund am<br />

Bahnhof so herzig war. Nächste Woche geht sie wieder in den Kindergarten. In 2 Wochen<br />

könnten wir theoretisch in unser Haus einziehen, aber auf unsere Möbel werden wir<br />

noch sehr lange warten müssen. Wir haben letzte Woche an Kubitschek telegraphiert um<br />

Abfahrtsdatum und den Namen <strong>des</strong> Schiffes. Antwort war: 14. Feber, Dampfer [...]. Das<br />

heißt, dass wir unsere Möbel kaum vor Ende März bekommen werden. Nachdem wir die<br />

Villa ab 1. März gemietet haben, werden wir uns eine Menge Sachen kaufen müssen, um<br />

notdürftig wirtschaften zu können.<br />

Euer 1. Brief außerhalb Deutschlands wird ein Fest für uns sein, und wir warten<br />

sehr darauf. Wir wünschen euch eine schöne und ruhige Reise und gratulieren nochmals<br />

herzlichst.<br />

Hertha Peter Susi

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