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<strong>10</strong> KULTUR JOKER KUNST<br />
Zwischen Wunschvorstellung und<br />
Realität<br />
„Familienbande“ – Fotografien von Katharina Mayer im modo Verlag<br />
Jede Familie erzählt ihre ganz<br />
persönliche biographische Geschichte.<br />
Und sie tut es um vieles<br />
beredter, als es den Familienmitgliedern<br />
vielleicht selbst bewusst<br />
ist: Etwa durch ihre Interaktion<br />
oder Korrelation zueinander,<br />
die Kulisse ihres Eigenheims,<br />
die Haustiere und Gegenstände,<br />
mit denen sie sich umgeben, ihre<br />
Kleidung, Frisur und so weiter.<br />
Diese an sich unsichtbaren<br />
Bande machte die Fotografin<br />
und Becher-Schülerin Katharina<br />
Mayer in ihren Bildern sichtbar.<br />
„Familienbande“ betitelte sie entsprechend<br />
die Bildauswahl, eine<br />
Unterkategorie ihrer langjährigen<br />
Serie „Familia“, die derzeit<br />
in den Räumen des Freiburger<br />
modo Verlags zu sehen ist.<br />
Stets gehe es um die Essenz<br />
dieser schicksalhaften Beziehungen<br />
innerhalb eines Familiengefüges,<br />
äußert sich die Künstlerin<br />
im Katalog. Auch mit Heimat<br />
haben ihre Bilder zu tun, denn<br />
„Heimat ist für mich der Ort<br />
meiner Mutter“. Familie ist also<br />
auch ein Ort. An diesen, nämlich<br />
in den Kreis unterschiedlichster<br />
Familien, begibt sich die Künstlerin<br />
für ihre Aufnahmen mehrere<br />
Stunden lang; wie hinter die<br />
Kulissen einer Bühne oder in das<br />
Innere eines Organismus, aus<br />
dem heraus sie die Strukturen<br />
dieser verbandelten Gemeinschaft<br />
befragt – so gut das eben<br />
aus der Sicht eines Unbeteiligten<br />
in dieser relativ kurzen Zeit geht.<br />
Wer selbst Familie hat, setzt<br />
sich automatisch in Bezug zum<br />
Bild. Doch ist es gerade ihr von<br />
außen kommender Blick, der<br />
diese inhärenten Strukturen aufzuspüren<br />
vermag. Privates wird<br />
dadurch plötzlich öffentlich: Wie<br />
möchte man sich der Fotografin<br />
als Familie präsentieren? Diese<br />
innere Zerrissenheit zwischen<br />
Wunschvorstellung und Realität<br />
scheint die Künstlerin an diesem<br />
Thema besonders zu reizen.<br />
Charmant, ja fast liebevoll konterkariert<br />
sie diese Kluft, wie sie<br />
doch in jeder Familie zu finden<br />
Romafrauen, Düsseldorf 2012 Familie Purdy, London 2006<br />
„Brothers in Arms“, Bad Doberam 20<strong>10</strong><br />
ist. Ab und an greift Katharina<br />
Mayer mit Minimalinszenierungen<br />
in die Aufstellungen ein<br />
und überspitzt dadurch die Szenerie.<br />
Etwa im Bild „Brothers<br />
in Arms“ durch die Farbzusammenstellung<br />
des rosa Vorhangs<br />
hinter einem knallroten Sofa, auf<br />
dem zwei Männer sitzen – Vater<br />
und Sohn? Zwei Brüder? – und<br />
jeweils eine Waffe in die Höhe<br />
recken: Der eine ein Gewehr, der<br />
andere eine E-Gitarre. Oder indem<br />
die Mitglieder einer Familie<br />
so in die Architektur eines Brunnens<br />
hineindrapiert werden, als<br />
würden sie dieser entwachsen.<br />
Hier bestimmt die kompositorische<br />
Lust das Drehbuch, die Familienmitglieder<br />
sind nur mehr<br />
Darsteller von Bildgeschichten.<br />
Hunde inbegriffen, Stofftiere<br />
ebenso.<br />
Manche Szenerien haben ihre<br />
Vorbilder in der Kunstgeschichte,<br />
die von Katharina Mayer<br />
jedoch nicht einfach zitiert werden.<br />
Vielmehr interpretiert sie sie<br />
neu, um zu irritieren. Sie geben<br />
Rätsel auf, ihre dramaturgisch<br />
ausgefeilten, witzigen, skurrilen<br />
oder ernsthaften Kompositionen.<br />
Manche wiederum erscheinen<br />
so natürlich wie ein Schnappschuss<br />
aus dem Familienalbum,<br />
fotografiert von oben oder von<br />
der Bodenkante aus, als befände<br />
sich der Betrachter inmitten der<br />
Gruppe. Sehender Teil der Familienbande.<br />
Noch bis 26. Oktober. modo<br />
Verlag, Terlanerstr. 8, Freiburg,<br />
Mo bis Do <strong>10</strong>-16.30 Uhr, Fr <strong>10</strong>-<br />
13 Uhr und nach Vereinbarung.<br />
Eintritt frei.<br />
Friederike Zimmermann<br />
Entlang des Widerstandes<br />
Die Ausstellung „Material Gestures“ erkundet die Stoffe, aus denen Kunst gemacht ist<br />
Mit dem Material ist es so eine<br />
Sache. Es kann Anlass größter<br />
sinnlicher Freuden sein, doch<br />
manchmal nervt es einfach<br />
nur. Mit seinem Video „Longdistance“<br />
hat William Cobbing<br />
so etwas wie eine Allegorie auf<br />
den Ton geschaffen, mit dem der<br />
1974 geborene Londoner arbeitet.<br />
Zwei blinde Hände greifen<br />
lustvoll in den Ton und kneten<br />
den Steg, der zwei klobige, grob<br />
geformte Köpfe miteinander<br />
verbindet. Immer wieder. Darunter<br />
verbergen sich der Künstler<br />
und seine Assistentin. Weder<br />
ändert sich die Form des Kopfes<br />
noch verkürzt sich die Entfernung<br />
entscheidend. Das Paar ist<br />
in einer nicht enden wollenden<br />
Annäherung auf Distanz gehalten.<br />
Ton kann manchmal eben<br />
auch ein wirklicher Widerstand<br />
sein.<br />
Dass das Material derzeit<br />
verstärkt Thema der Kunst ist,<br />
nachdem unser Alltag immer<br />
virtueller wird, ist sich Heidi<br />
Brunnschweiler sicher. Es ist der<br />
Grundgedanke der von ihr kuratierten<br />
Ausstellung „Material<br />
Gestures. Material und Materialität<br />
in der Gegenwartskunst“,<br />
die in der Galerie für Gegenwartskunst<br />
im Freiburger E-<br />
Werk zu sehen ist. Nicht nur bei<br />
William Cobbing meint Material<br />
Ton. Die Gruppenschau bezieht<br />
den Freiburger Künstler Stephan<br />
Hasslinger ein, der seit Jahren<br />
daran arbeitet, der Keramik die<br />
Schwere auszutreiben, indem er<br />
textile Strukturen, Spitze und<br />
Muster formt. Ton und Keramik<br />
standen über Jahre im Ruf<br />
des Kunsthandwerklichen und<br />
galten nicht eben als besonders<br />
zeitgenössisch. Die letzten Jahre<br />
haben diesen Standpunkt geändert.<br />
Ton ist wieder zu einem<br />
selbstverständlichen Material<br />
geworden, gerade unter der jüngeren<br />
Generation. Carla Lavin<br />
hat einen gänzlich anderen Weg<br />
als Hasslinger gewählt. Die junge<br />
Britin, die in Manchester, in<br />
der Nähe der englischen Töpferei-Industrie<br />
1994 geboren<br />
wurde, interessiert sich gerade<br />
für die Eigenschaften des Tons.<br />
Ihre Installation „Bodies of the<br />
Anthropocene“ breitet sich in<br />
der unteren Galerie aus. Mehrere<br />
ihrer großen Gefäße, die die<br />
Tragfähigkeit des Materials testen,<br />
sind bereits kollabiert, wer<br />
in sie hinschaut, sieht Scherben.<br />
Angetrocknete Tonbrösel liegen<br />
auf dem Boden. Je länger die<br />
Ausstellung läuft, desto größer<br />
werden die Risse werden, die<br />
sich durch die Formen ziehen.<br />
Zwischen die Skulpturen, die<br />
Naturformen wie Blüten aufnehmen,<br />
hat Lavin mehrere<br />
Bildschirme verteilt, auf denen<br />
zu sehen ist, wie Ton in Gruben<br />
gewonnen wird. Ganz bewusst<br />
brennt Carla Lavin ihre Skulpturen<br />
nicht, so dass das Material<br />
wieder verwertet werden kann.<br />
Auch natürlichen Ursprungs<br />
ist der Stoff, aus dem Liesl Raff<br />
ihre Kunst macht. Raff gießt aus<br />
Naturkautschuk, dem sie Farbpigment<br />
beigibt, lange Latexstränge,<br />
die sie auf unterschiedliche<br />
Weise weiter verarbeitet.<br />
In ihrer Installation „Hanging“,<br />
die eine Art Barriere bietet zur<br />
Präsentation ihrer Arbeiten in<br />
der Galerie I. Je nach Gussprozess<br />
und verwendetem Pigment<br />
sind die Stränge, die Raff über<br />
eine Metallstange gelegt hat,<br />
mal mehr oder weniger lang.<br />
In ihrer Skulptur „Figure“ hat<br />
sie einzelne Stränge so um eine<br />
Stange gewunden, dass sie an<br />
Drechslerarbeiten erinnert.<br />
Auch das Material kann täuschen.<br />
Material Gestures. Material<br />
und Materialität in der Gegenwartskunst.<br />
Galerie für Gegenwartskunst,<br />
E-Werk, Eschholzstr.<br />
77, Freiburg. Do, Fr 17-20<br />
Uhr, Sa 14-20 Uhr, So 14-18<br />
Uhr. Bis 28. Oktober.<br />
Annette Hoffmann