_flip_joker_2018-10
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
THEATER KULTUR JOKER 5<br />
Mit Handschuhen ins Abenteuer<br />
Das Lucerne Festival wagt mit dem Schwerpunkt<br />
„Kosmos Stockhausen“ viel<br />
28.<strong>10</strong>.18 Freiburg Konzerthaus<br />
Pierre-Laurent Aimard nach elf Klavierstücken in der Kirche MaiHof<br />
Foto: Manuela Jans<br />
„Es besteht Lebensgefahr“,<br />
kreischt ein Kind mit Hasenohren<br />
(Fionn Berchtold) durch<br />
das Megaphon. „Es geht um<br />
ihre Zukunft!“ Das Publikum<br />
vor dem Luzerner Theater bleibt<br />
entspannt. Und lässt sich ein auf<br />
diesen besonderen, einstündigen<br />
Musiktheaterabend „Kindertotenlieder“<br />
in der hölzernen<br />
„Box“, die Intendant Benedikt<br />
von Peter neben dem eigentlichen<br />
Theatergebäude permanent<br />
als Außenspielstätte nutzt.<br />
In diesen von ihm selbst inszenierten<br />
Gustav-Mahler-Liedern,<br />
einer Koproduktion mit dem<br />
Lucerne Festival, möchte der<br />
innovative Theatermacher, der<br />
ab der Spielzeit 2020/21 als neuer<br />
Intendant des Basler Theaters<br />
beginnt, Verlust und Trauer musiktheatralisch<br />
erlebbar machen.<br />
Deshalb wird man einzeln und<br />
fürsorglich an seinen Platz begleitet.<br />
Deshalb ist der Raum bis<br />
auf wenige Schwarzlichtröhren,<br />
die später ausgeschaltet werden,<br />
abgedunkelt. Nur eine Kerze in<br />
der Mitte spendet Licht. Man<br />
soll selbst die Einsamkeit und<br />
Leere spüren, die der Dichter<br />
Friedrich Rückert nach dem Tod<br />
zweier seiner Kinder in Worte<br />
und Gustav Mahler in Musik<br />
gefasst hat. Ein Paar (Sarah<br />
Alexandra Hudarew und Jason<br />
Cox) steht im Dunkeln und hat<br />
sich voneinander abgewendet.<br />
Der britische Sound-Künstler<br />
Matthew Herbert imaginiert mit<br />
eingespielten Geräuschen den<br />
Alltag dieses Paares, wenn um<br />
8.33 Uhr das Zähneputzen beginnt<br />
und wenig später der Zünder<br />
eines Gasherds durch die<br />
Lautsprecher klickt. Erst nach<br />
zehnminütiger Geräusch-Collage<br />
beginnt die Mezzosopranistin<br />
Sarah Alexandra Hudarew mit<br />
dem ersten Lied „Nun will die<br />
Sonn‘ so hell aufgehn“. Sie wird<br />
begleitet von zwölf Mitgliedern<br />
des Luzerner Sinfonierochesters<br />
unter der Leitung von Clemens<br />
Heil, die im Raum verteilt sind<br />
und sich gleich nach dem letzten<br />
Akkord auf eine andere Position<br />
begeben (Bühne: Márton Ágh),<br />
während der Ton elektronisch<br />
weiterklingt. Aufwühlen kann<br />
die Produktion aber nicht. Statt<br />
Beklemmung entsteht eher Langeweile.<br />
Der Schmerz ist mehr<br />
behauptet als gefühlt.<br />
Neue Räume entdecken möchte<br />
auch das Lucerne Festival.<br />
Die meisten Veranstaltungen<br />
wie die insgesamt über dreißig<br />
Symphoniekonzerte finden beim<br />
einen Monat dauernden Klassikfestival<br />
zwar nach wie vor<br />
im akustisch hervorragenden<br />
Kultur- und Kongresszentrum<br />
Luzern (KKL) statt, aber für die<br />
kleinformatigeren Projekte trägt<br />
man das Festival noch weiter in<br />
die Stadt hinein. Im Kulturzentrum<br />
Neubad, einem früheren<br />
Schwimmbad, trifft man sich<br />
zu später Stunde, um Karlheinz<br />
Stockhausens „Stimmung“ für<br />
sechs Vokalsolisten zu lauschen.<br />
Ähnlich wie bei den „Kindertotenliedern“<br />
gruppieren sich<br />
Akteure und Publikum um<br />
eine zentrale Lichtquelle. Nach<br />
und nach betreten die Solisten<br />
das weißgekachelte Becken<br />
und nehmen im Schneidersitz<br />
auf den Kissen Platz. Das andächtige<br />
Publikum wird zur<br />
Gemeinde, das den Obertonklängen<br />
lauscht, die die Basler<br />
SoloVoices mit ihren Kehlen<br />
zaubern – elektronisch verstärkt<br />
und durch den Raum geschickt<br />
(Klangregie: Florian Bogner).<br />
Jean-Christophe Groffe macht<br />
mit seinem profunden Bass<br />
den Anfang und stellt mit dem<br />
Kontra-B den Ton vor, auf dem<br />
die ganze 70-minütige Komposition<br />
fußt. Wiederholung und<br />
Variation prägen das meditative<br />
A-Cappella-Stück, in das<br />
Stockhausen auch einige magische<br />
Götternamen und eigene<br />
erotische Zeilen eingebettet hat.<br />
Mit dem gemeinsamen Meditieren,<br />
der angestrebten Harmonie<br />
und der Gleichberechtigung der<br />
Stimmen übernimmt Stockhausen<br />
im 1968 in Paris uraufgeführten<br />
„Stimmung“ Elemente<br />
der Hippie-Kultur in seine Musik.<br />
Zum 90. Geburtstag hat das<br />
Festival dem 2007 gestorbenen<br />
Avantgarde-Komponisten einen<br />
Schwerpunkt gewidmet,<br />
der an zwei Wochenenden den<br />
Kosmos dieses Klangtüftlers<br />
ausmisst (Dramaturgie: Mark<br />
Sattler). Pierre-Laurent Aimard<br />
stellt sich in der gut gefüllten<br />
Kirche MaiHof mit den elf Klavierstücken<br />
einer gewaltigen<br />
Aufgabe. Zwischen den einzelnen<br />
Werken spürt man kurz<br />
seine Erschöpfung, bevor sich<br />
der französische Pianist wieder<br />
mit einer unglaublichen Präzision<br />
und Intensität in das nächste<br />
Abenteuer stürzt: von den mit<br />
Einzeltönen geprägten, frühen<br />
Klavierstücken von 1952 über<br />
die den Nachhall erkundenden<br />
mittleren bis zu den hochkomplexen<br />
Klavierstücken 9-11, in<br />
denen das Instrument bis an die<br />
Grenzen geführt wird. Aimard<br />
hat sich dafür Handschuhe mit<br />
freien Fingerkuppen angezogen,<br />
um die Glissandi und extremen<br />
Cluster mit der notwendigen<br />
Wucht realisieren zu können,<br />
ohne Schäden davonzutragen.<br />
Am Ende gibt es stehende Ovationen<br />
für immer noch aufregende<br />
Neue Musik. Auch im ausverkauften<br />
Luzerner Saal des KKL<br />
ist die Begeisterung groß, als<br />
sich Simon Rattle, Duncan Ward<br />
und der für Matthias Pintscher<br />
eingesprungene koreanische Dirigent<br />
Jaehyuck Choi am Ende<br />
von Stockhausens epochemachender<br />
Komposition „Gruppen“<br />
(1955-57) gemeinsam vor<br />
die drei Orchestergruppen des<br />
Lucerne Festival Orchestra und<br />
London Symphony Orchestra<br />
stellen, die hufeisenförmig um<br />
das Publikum platziert sind.<br />
Musik als Raumklang mit komplexesten<br />
Rhythmen und differenziertesten<br />
Klangfarben!<br />
Georg Rudiger<br />
22.11.18 Freiburg Bürgerhaus Seepark<br />
13.12.18 Freiburg Bürgerhaus Seepark<br />
11.05.19 Freiburg Bürgerhaus Seepark<br />
30.06.19<br />
Rust<br />
Europa-Park<br />
Tickets unter www.sbegroup.info und<br />
an allen bekannten VVK-Stellen