_flip_joker_2018-10
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38 KULTUR JOKER interview<br />
Fortsetzung des Interviews:<br />
che Filme werden wie eine Schubert-Ballade<br />
erzählt. Im Falle des<br />
kommenden Casanova-Films, der<br />
in St. Petersburg und Venedig um<br />
das Jahr 1760 spielt, werde ich<br />
entsprechend „historisch“ gefärbte<br />
Musik aufführen.<br />
Kultur Joker: Wie positionieren<br />
Sie sich als Stummfilmmusiker zum<br />
Film? Machen Sie bloß die Begleitung<br />
oder stehen sich für Sie Musik<br />
und Film gleichwertig gegenüber?<br />
Günter A. Buchwald: Was Sie<br />
als „Film“ bezeichnen bedeutet für<br />
mich das Zusammenspiel aus visueller<br />
Schicht und musikalischer<br />
Schicht. Film ist immer ein komplettes<br />
Erleben von Bild und Ton.<br />
Generell kann man schon sagen,<br />
dass wir den Film begleiten. Aber<br />
dann hängt es auch vom jeweiligen<br />
Film ab: Manchmal können wir<br />
den Film einfach laufen lassen, ja<br />
wir dürfen nicht viel machen, und<br />
manchmal müssen wir den Film<br />
sozusagen „an die Hand nehmen“,<br />
damit er auch heute noch geschaut<br />
werden kann. Die Musik muss beim<br />
Film auch vordenken können, kommende<br />
Szenen ankündigen, manchmal<br />
alles sogar zusammenhalten.<br />
Mein Verhältnis zum Film ist sehr<br />
vielfältig und variantenreich. Man<br />
kann das nicht eindeutig festlegen,<br />
das hängt immer vom Film ab.<br />
Kultur Joker: Spielen Sie nur<br />
selbstkomponierte Musik oder auch<br />
bestehende?<br />
Günter A. Buchwald: Wenn ich<br />
mit dem Klavier, der Violine oder<br />
mit meinem Ensemble, Trio oder<br />
Quartett, spiele, dann improvisiere<br />
ich. Wenn ich ein Orchester dirigiere,<br />
dann spielen wir nach Noten.<br />
Entweder Noten, die, etwa bei<br />
Eduard Künnekes Musik zu Das<br />
Weib des Pharao, bei den zeitgenössischen<br />
Kompositionen zu Metropolis<br />
oder bei neuerer Musik zu den<br />
Filmen von Buster Keaton, bereits<br />
existiert oder Selbstkomponiertes.<br />
Für Nosferatu, Faust und jetzt Casanova<br />
habe ich eigene Musik komponiert.<br />
Da dachte ich, dass es dazu<br />
noch nicht die richtige Musik gibt.<br />
Kultur Joker: Gefallen Ihnen manche<br />
Originalkompositionen also<br />
nicht, sodass Sie dann lieber eigene<br />
Musik komponieren?<br />
Günter A. Buchwald: Die historische<br />
Stummfilmmusik besteht<br />
ja nicht nur aus Originalkompositionen,<br />
die wenigsten sogar<br />
sind Originale. Meist hat man aus<br />
hunderten Musikversatzstücken,<br />
quasi aus dem Steinbruch der Musikgeschichte,<br />
eine Musikkompilation<br />
erstellt und zur Aufführung<br />
gebracht. Ich vergleiche das immer<br />
mit gemischtem Salat. Manchmal<br />
passt das gar nicht. Wenn man etwa<br />
ein bekanntes Stück von Beethoven<br />
verwendet und das an einer Stelle<br />
im Film abschneidet, wo der Zuschauer<br />
eigentlich weiß, dass das<br />
Stück noch weitergeht, dann stört<br />
das. Man merkt einfach, ob eine<br />
Musik für einen Film komponiert<br />
oder nur zusammengestellt ist. Da<br />
bin ich doch Musiker genug, um die<br />
musikalische Qualität als gleichwertig<br />
zur filmischen zu erachten.<br />
Kultur Joker: Der Film „The Artist“<br />
hat versucht, den Stummfilm in<br />
die 2000er zu bringen und hat ihn,<br />
nicht zuletzt über die fünf Oscargewinne,<br />
auch wieder groß ins Gedächtnis<br />
gerufen. Ist der Stummfilm<br />
wieder da?<br />
Günter A. Buchwald: Heutige Regisseure<br />
kommen durch die Renaissance<br />
des Stummfilms auch wieder<br />
auf ältere Filme und beschäftigen<br />
sich so auch mit dem Verzicht auf<br />
Sprache, wodurch das Bild wieder<br />
mehr Bedeutung erhält. Ein Meilenstein<br />
für mich ist dabei Der mit<br />
dem Wolf tanzt. Das ist zwar ein<br />
Tonfilm, aber vieles geschieht auf<br />
visueller Ebene und da erhält auch<br />
die Musik eine bedeutende Rolle.<br />
Aki Kaurismäki hat mit Juha 1999<br />
einen Stummfilm gedreht, den man<br />
auch live begleiten kann. The Artist<br />
gehört zu einer besonderen Gattung,<br />
da er ja den Übergang vom Stummzum<br />
Tonfilm behandelt. Da gibt es<br />
für mich diese magische Stelle, als<br />
der Artist vor dem Spiegel sitzt und<br />
plötzlich – sowohl für ihn als auch<br />
für den Zuschauer – das Abstellen<br />
der Tasse ein Geräusch erzeugt.<br />
Der Freiburger Filmemacher Stefan<br />
Pössiger hat 2002 Eine Hommage<br />
an Charlie Chaplin gedreht zu der<br />
ich auch die Musik gemacht habe.<br />
Dabei hat er mit gehörgeschädigten<br />
Kindern gearbeitet, die nicht sprechen<br />
können. Deshalb hat er einen<br />
Stummfilm gemacht. Der Film lief<br />
auf der ganzen Welt. Wenn man<br />
nicht genau hinsieht, sieht man übrigens<br />
nicht, dass Chaplin dort gar<br />
nicht mitspielt. Er wird von einem<br />
14-jährigen Schüler genial dargestellt.<br />
Kultur Joker: Sie haben die Stummfilmrenaissance<br />
angesprochen, zu<br />
der Sie ja auch gezählt werden. Seit<br />
wann gibt es die?<br />
Günter A. Buchwald: Die Stummfilmrenaissance<br />
geht zurück auf<br />
eine internationale Konferenz von<br />
Filmarchiven im Jahr 1976, dort<br />
wurden entscheidende Maßnahmen<br />
zur Rettung des Filmerbes in die<br />
Wege geleitet. Aber schon ab 1970<br />
gab es in Deutschland Stummfilmevents,<br />
vielleicht einmal im Monat.<br />
Heute gibt es weltweit sicher jeden<br />
Tag irgendwo eine Stummfilmaufführung.<br />
Kultur Joker: Gibt es für Sie einen<br />
Lieblingsstummfilm? Und ist das<br />
der Film, den Sie auch am liebsten<br />
vertont haben?<br />
Günter A. Buchwald: Nein, das<br />
kann ich nicht sagen. Ich habe mittlerweile<br />
mehr als 3000 Filme begleitet,<br />
da einen Liebling herauszugreifen<br />
wäre falsch. Es gibt ja auch nicht<br />
nur ein Genre „Stummfilm“. Bereits<br />
in den ersten 20 Jahren, 1895-1915,<br />
wurden alle Genres, die man heute<br />
kennt, entwickelt: Science-Fiction,<br />
die Liebesgeschichte, der Abenteuerfilm,<br />
der Kriminalfilm und so weiter.<br />
Für jedes Genre, und die Meisterwerke<br />
entstanden ja anschließend<br />
bis 1930, könnte ich mehrere<br />
Lieblingsfilme nennen. Oder: Es<br />
gibt Meisterwerke aus Schweden<br />
oder Deutschland oder von verschiedenen<br />
großen Regisseuren<br />
wie Fritz Lang, Ernst Lubitsch und<br />
Friedrich Wilhelm Murnau, da kann<br />
ich jetzt nicht einen Film herauspicken.<br />
Besonders gern vertont habe<br />
ich aber den Klassiker Nosferatu,<br />
den ich beim ersten Mal auch anders<br />
begleitet habe als nach dreißig<br />
Jahren Erfahrung.<br />
Kultur Joker: Gibt es Filme, die Sie<br />
noch gerne begleiten möchten?<br />
Günter A. Buchwald: Carl Theodor<br />
Dreyers Die Passion der Jungfrau<br />
von Orléans habe ich bereits<br />
dem Barockorchester Freiburg als<br />
Filmvorschlag genannt. Ich würde<br />
gerne eine Fassung mit diesem Orchester<br />
für Barockmusik und einem<br />
Freiburger Orchester für moderne<br />
Musik machen. Auch würde ich<br />
gerne einmal Der Müde Tod im<br />
Freiburger Münster an der Orgel begleiten.<br />
Träume habe ich also noch<br />
genug, aber es kommt auch immer<br />
ein Projekt dazwischen.<br />
Kultur Joker: Apropos Projekte:<br />
Welche Konzerte erwarten die Zuschauer-<br />
und ZuhörerInnen neben<br />
der Aufführung von „Casanova“<br />
und der von „Die Stadt ohne Juden“<br />
noch?<br />
Günter A. Buchwald: Am 2. und<br />
3. März 2019 begleite ich mit dem<br />
Freiburger Philharmonischen Orchester<br />
zum ersten Mal einen Buster<br />
Keaton: Steamboat Bill, jr. Überhaupt<br />
wird das Freiburger Theater<br />
aufstocken, es wird zwei Filmkonzerte<br />
pro Spielzeit geben. Die Filmkonzerte<br />
kommen ja immer gut an<br />
und ich weiß, dass das Orchester<br />
diese Abwechslung auch liebt. Da<br />
werde ich immer gefragt: „Wann<br />
machen wir die nächsten Aufführung?“<br />
Zuvor, am <strong>10</strong>. Februar, werde<br />
ich aber noch Chaplins Moderne<br />
Zeiten in Bristol dirigieren.<br />
Kultur Joker: Sie kommen ja gut in<br />
der Welt herum und sind international<br />
gefragt. Was bindet Sie denn<br />
an eine so beschauliche Stadt wie<br />
Freiburg?<br />
Günter A. Buchwald: Ich bin in<br />
Freiburg geboren und aufgewachsen,<br />
bin also ein echtes Bobbele. Für<br />
mich ist Freiburg groß genug, um<br />
nicht Hinz und Kunz zu kennen und<br />
nicht so klein, dass man nicht mit<br />
der ganzen Welt zusammenkommen<br />
könnte, eine überschaubare<br />
Großstadt. Freiburg liegt noch dazu<br />
in der Mitte Europas, ich komme<br />
überall gut hin, gerade auch in die<br />
Schweiz und nach Frankreich. Aber<br />
ich spiele genauso gerne in Villingen-Schwenningen,<br />
Denzlingen<br />
oder Emmendingen wie in Seattle<br />
oder San Francisco. Auch habe ich<br />
hier meine Strukturen, ich bin seit<br />
40 Jahren dem Kommunalen Kino<br />
verbunden. Und ich setze mich für<br />
die Stadt ein. Für das Stadtjubiläum<br />
habe ich die politische Idee, das<br />
Siegesdenkmal zu verhüllen, und<br />
gleichzeitig Übersehenes zu enthüllen.<br />
Wenn es klappt, soll es dazu natürlich<br />
auch Musik geben. Ich habe<br />
mich sehr gefreut, 2012 den Reinhold-Schneider-Preis<br />
gewonnen zu<br />
haben, was mir der Stadt gegenüber<br />
aber auch eine große Verpflichtung<br />
ist.<br />
Kultur Joker: Haben Sie vielen<br />
Dank für das Gespräch!<br />
Freuen Sie sich<br />
auf den Herbst<br />
Fotos: Finesse | Vetono<br />
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