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Kunst KULTUR JOKER 9<br />
Eine Frage der Haltung<br />
Die Fondation Beyeler versucht sich an einer Balthus-Ausstellung<br />
ohne Skandalisierung<br />
In der Fondation Beyeler<br />
wird man es mit Unbehagen<br />
betrachtet haben als vor einem<br />
Jahr Forderungen an das New<br />
Yorker Metropolitan Museum<br />
of Art herangetragen wurden,<br />
Balthus‘ „Thérèse, träumend“<br />
aus dem Jahr 1938 abzuhängen.<br />
Das Bild ist geblieben und wurde<br />
jetzt nach Basel ausgeliehen.<br />
In der Fondation Beyeler kann<br />
man sich in der schlicht „Balthus“<br />
betitelten Ausstellung<br />
nun selbst eine Meinung bilden,<br />
ob die Diskussion über die vermeintliche<br />
Nähe des Werkes zur<br />
Pädophilie eine Berechtigung<br />
hat.<br />
In der Fondation Beyeler, wo<br />
man zwei Jahre an der Schau<br />
gearbeitet hat, ist man jedenfalls<br />
vorbereitet. Nicht nur ist man<br />
nach vorne gegangen: Thérèse<br />
– im wachen Zustand und ein<br />
Jahr später – findet sich auf den<br />
Plakaten, auf Merchandisingprodukten<br />
und selbst auf Taxen<br />
in Basel. Auch Postkarten liegen<br />
aus, auf die man Antworten auf<br />
die Frage „Was fasziniert, irritiert<br />
oder überrascht Sie an Balthus‘<br />
Bildern“ geben und an die<br />
Wand heften kann. Und sollte<br />
einem ein Unwohlsein befallen<br />
angesichts der träumenden Thérèse,<br />
der im Schlaf der Rock so<br />
weit hochrutscht, dass man das<br />
Weiß ihres Schlüpfers sehen<br />
kann, derweil zu ihren Füßen<br />
ein Kätzchen Milch aus einer<br />
Schale schleckt, kann man sich<br />
an die Kunstvermittlerinnen im<br />
Raum wenden. Nichts soll unausgesprochen<br />
bleiben. Nun ist<br />
nicht nur Papier, sondern auch<br />
die Leinwand geduldig – doch<br />
jeder Betrachtende weiß angesichts<br />
der vielen aufgedeckten<br />
Missbrauchsfälle der letzten<br />
Zeit, dass nicht jede Fantasie<br />
Fantasie bleiben muss.<br />
Ausschlaggebend für diese<br />
Ausstellung mit um die 40<br />
Hauptwerken war das großformatige<br />
Bild „Passage du<br />
Commerce-Saint-André“, an<br />
dem Balthus (1908-2001), der<br />
eigentliche Balthasar Klossowski<br />
hieß und schon früh den<br />
Entschluss fasste, Maler zu<br />
werden, von 1952 bis 1954 arbeitete.<br />
An „Passage du Commerce-Saint-André“,<br />
das sich<br />
seit mehreren Jahren als Dauerleihgabe<br />
einer Privatsammlung<br />
in der Fondation Beyeler befindet,<br />
kann man ablesen, was die<br />
charakteristische Atmosphäre<br />
von Balthus‘ Bilder ausmacht.<br />
Bereits seine ersten Bilder aus<br />
den späten 1920er Jahren zeigen<br />
eine Luftleere, wie man<br />
sie aus der Neuen Sachlichkeit<br />
kennt. Wie die Maler der Neuen<br />
Sachlichkeit war auch Balthus<br />
an der Frührenaissance interessiert,<br />
kopierte in Italien Fresken<br />
Piero della Francescas und blieb<br />
immer Autodidakt. Keiner der<br />
Figuren des Bildes „Passage du<br />
Commerce-Saint-André“, das<br />
als Sujet eine lebhafte Straßenszene<br />
vorstellen könnte, nimmt<br />
aufeinander Bezug. Die mittige<br />
männliche Figur wendet dem<br />
Betrachter den Rücken zu, das<br />
Mädchen vorne hat eine nachdenkliche<br />
Haltung eingenommen<br />
und rechts sitzt zusammengekauert<br />
auf dem Bordstein ein<br />
Männchen mit Halbglatze – vermutlich<br />
der Maler. Auch bei seinen<br />
erotisch aufgeladenen Bildern,<br />
bei denen nackte Mädchen<br />
Kniestrümpfe und rote Pantoffeln<br />
tragen, sind diese in seltsam<br />
unnatürlichen Haltungen<br />
dargestellt. Dieses Moment der<br />
affektierten Inszenierung prägt<br />
auch das „Portrait der Madame<br />
Georges Hilaire“ von 1935.<br />
Die erwachsene Frau steckt in<br />
einem Kindchenschema-Körper<br />
mit großem Kopf und schmaler<br />
Taille. Die Pose und die bedeutungsschwere<br />
Farbigkeit könnte<br />
dem Film abgesehen sein.<br />
Überhaupt die Posen, es fällt<br />
schwer die Häufung von Mädchen,<br />
die auf allen vieren auf<br />
dem Boden ein Buch lesen oder<br />
sich gar robbend durch den<br />
Raum bewegen, nicht mindestens<br />
für schwülstig zu halten.<br />
Nur zur Erinnerung:<br />
Balthus<br />
zeigt hier von<br />
Erwachsenen<br />
abhängige Kinder<br />
in unterwürfigen<br />
Haltungen.<br />
Oft in<br />
seiner Karriere<br />
hat Balthus den<br />
Skandal eher<br />
forciert als vermieden.<br />
1933<br />
etwa stellt er<br />
Antoinette de<br />
Watteville im<br />
offenen Negligé<br />
bei der Toilette<br />
dar, die<br />
Zofe hilft ihr<br />
mit den Haaren,<br />
links daneben<br />
sitzt das Alter<br />
Ego des Malers<br />
sinnierend. Antoinette<br />
de Watteville<br />
und Balthus,<br />
die vier<br />
Jahre später<br />
heiraten werden,<br />
sind in „La<br />
Toilette de Cathy“ durch den<br />
Plot von Emily Brontës Roman<br />
„Sturmeshöhe“ überformt ‒ so<br />
wie Balthus bei vielen Bildern<br />
Anleihen bei der christlichen<br />
Ikonografie macht. Nichtsdestotrotz<br />
sind die Bilder dazu<br />
„Passage du Commerce-Saint-André“<br />
Foto: Mark Niedermann<br />
„Les enfants Blanchard“<br />
Foto: RMN-Grand-Palais/Mathieu Rabeau<br />
angetan, viele falsche Freunde<br />
zu haben.<br />
Balthus. Fondation Beyeler,<br />
Baselstr. <strong>10</strong>1, Basel-Riehen.<br />
Mo-So <strong>10</strong>-18 Uhr, Mi <strong>10</strong>-20<br />
Uhr. Bis 1. Januar 2019.<br />
Annette Hoffmann<br />
Jeder wird Genie<br />
Das große Kunstereignis „République Géniale“ im Kunstmuseum Bern<br />
Ganz unbescheiden klingt<br />
das interdisziplinäre Ereignis<br />
„République Géniale“ und<br />
tatsächlich steckt so einiges<br />
dahinter: Kunst, Musik, Performance,<br />
Tanz und Architektur.<br />
Das Großprojekt, das<br />
Menschen zusammenbringen<br />
und Genies fördern soll, findet<br />
seit dem 17. August und<br />
noch bis zum 11. November<br />
im Kunstmuseum Bern statt,<br />
eine Kooperation mit der<br />
Dampfzentrale Bern.<br />
Die Idee geht auf den französischen<br />
Künstler Robert<br />
Filliou (1926-1987) zurück,<br />
der mit der „République Géniale“<br />
seine neue Auffassung<br />
von Kunst und Kunstausbildung<br />
präsentierte. Dabei<br />
gibt es keine klaren Hierarchien<br />
zwischen Besucher<br />
und Kunstwerk mehr. Das<br />
Publikum kommt mit Dar-,<br />
Aus- und Herstellenden zusammen,<br />
Lehrende werden<br />
zu Lernenden. Geprägt vom<br />
Klima der Umbrüche 1968<br />
traf Filliou einen Zeitgeist,<br />
der noch heute ansteckend<br />
wirkt und fortlebt. 50 Jahre<br />
später wird Fillious Idee weitergedacht<br />
und aktualisiert.<br />
Interdisziplinär werden mit<br />
künstlerischen Mitteln gesellschaftsrelevante<br />
Themen<br />
wie Territorium, Klima, Bildung<br />
und das Zusammenleben<br />
auf originelle Weise neu<br />
verhandelt. Permanente, fixe<br />
Konzepte gibt es nicht, dafür<br />
ein wandelbares Ereignis,<br />
bei dem der Zufall nur zu<br />
gerne Gast ist. Unterschiedliche<br />
künstlerische Herangehensweisen,<br />
kollaborative<br />
Projekte, wissenschaftliche<br />
Veranstaltungen und Genießerisches<br />
schaffen eine<br />
Gesamterfahrung bei der<br />
es keine Profis oder Laien<br />
gibt, denn für Filliou ist alles<br />
Kunst und jeder Künstler.<br />
Entgegen reaktioner oder<br />
isolationistischer Parolen ist<br />
die „République Géniale“ ein<br />
Ort, an dem alle zusammenkommen<br />
und sich einbringen<br />
können, ungedacht ihrer Herkunft<br />
und ihrer Ideen.<br />
Die „République Géniale“<br />
vereint die Bereiche Live Art,<br />
Teaching & Learning und<br />
Eat Art miteinander. Für das<br />
reichhaltige Programm bedeutet<br />
das Tanz, Musik und<br />
Theater, Performance, Werkstattgespräche<br />
oder gar ein<br />
künstlerisch-kulinarischer<br />
Food-Stand. Künstler wie<br />
Adam Lindner, Alvin Curran,<br />
die Robert Dance Company<br />
oder John Cage tauchen<br />
ebenso auf wie die Rivolta<br />
Femminile, eine Bewegung<br />
feministischer Aktivistinnen<br />
Italiens der frühen 1970er<br />
Jahre oder die Hochschule<br />
der Künste Bern. Bekanntschaften<br />
sind also schnell und<br />
leicht gemacht und das Genie<br />
auch schon weiterentwickelt.<br />
Und stete Entwicklung ist genau<br />
in Fillious Sinne.<br />
Weitere Infos: www.republiquegeniale.ch<br />
„A word a day to be wiped away“, 2015<br />
Installation, CCA Tbilisi<br />
© Relax (chiarenza & hause & co)