_flip_joker_2018-10
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14 KULTUR JOKER Kultour<br />
Mythos und Wirklichkeit revolutionärer Zeiten<br />
Die 1968er Bewegung und ihre Folgen<br />
Zum 50. Mal jährt sich in<br />
diesem Jahr der Höhepunkt einer<br />
Studentenbewegung, die<br />
unter dem Schlagwort „Achtundsechzig“<br />
kursiert. Ein Synonym<br />
für alles, was die Welt<br />
damals bewegte, zu einem<br />
Gesellschaftswandel auf vielen<br />
Ebenen führte. Einer der<br />
Impulse der Jugendbewegung<br />
in der frühen BRD war die Besetzung<br />
wichtiger Ämter und<br />
Positionen durch ehemalige Nationalsozialisten.<br />
Hinzu kam ein<br />
Klima der Intoleranz und Spießigkeit<br />
in der Gesellschaft und<br />
eine Stagnation der Politik, die<br />
mit dem „Wirtschaftswunder“<br />
einher ging. Die 1960er Jahre<br />
waren zweifellos eine der prägenden<br />
Epochen der deutschen<br />
Nachkriegsgeschichte. Über das<br />
Für und Wider scheiden sich bis<br />
heute die Geister. Es lohnt sich,<br />
auch über das Jahr 1968 hinaus<br />
zu denken, das Davor und Danach<br />
zu betrachten, den Mythos<br />
von der Wirklichkeit zu unterscheiden.<br />
Am Rande des Wirtschaftswunders<br />
kam es zu politischen<br />
Gruppierungen, die sich kritisch<br />
gegen den „Konsumwahn“<br />
wendeten. Als Ursprung der<br />
Studentenunruhen gelten die<br />
Schwabinger Krawalle von<br />
1962. In der Kommerzialisierung<br />
sah man ein Angriffsziel,<br />
die Konsumgesellschaft wurde<br />
mit Unterdrückung gleichgesetzt.<br />
Die Studenten wollten<br />
sich frei machen von Konventionen<br />
und bürgerlichen<br />
Zwängen, aber gleichzeitig den<br />
vom Warenangebot betäubten<br />
Konsumenten aufrütteln. Einer<br />
ihrer Vordenker war der<br />
Sozialphilosoph Herbert Marcuse,<br />
der auf die faschistische<br />
Kehrseite der Wohlstandsgesellschaft<br />
hinwies. Es sei nämlich<br />
gerade der Wohlstand, der<br />
zu Bewusstseinsverlust, zur<br />
Duldung von Gewalt und weltweiter<br />
Ungerechtigkeit führe<br />
– eine Feststellung, die sich<br />
leider bis heute zunehmend bewahrheitet.<br />
Die Protestierenden<br />
beriefen sich auf ein Recht zum<br />
Widerstand. Angriffsziel war<br />
besonders die „Bild“-Zeitung,<br />
die Schriftstellern wie Heinrich<br />
Böll und Günter Grass eine faschistische<br />
Sprache vorwarfen.<br />
Der Faschismusvorwurf kam<br />
von beiden Seiten. Polizeiliche<br />
Staatsgewalt versuchte die aufmüpfigen<br />
Studenten im Stile von<br />
SS-Trupps mit Schlagstöcken<br />
mundtot zu machen.<br />
Münsterkonzert<br />
& „Turmfinale“<br />
Sonntag<br />
14. Oktober <strong>2018</strong><br />
17 Uhr<br />
„Verleih uns Frieden“<br />
J. S. Bach / G. B. Pergolesi<br />
„Tilge, Höchster meine Sünden“<br />
BWV <strong>10</strong>83<br />
F. Mendelssohn Bartholdy<br />
„Verleih uns Frieden gnädiglich“<br />
A. Pärt<br />
„Peace upon you, Jerusalem“<br />
„Da pacem, Domine“<br />
Motetten von D. Bartolucci,<br />
F. Biebl, H. Purcell<br />
Raschèr Saxophone Quartet<br />
Simone Schwark, Sopran<br />
Alexandra Rawohl, Alt<br />
Mädchenkantorei<br />
am Freiburger Münster<br />
Leitung: Martina van Lengerich<br />
Karten im Vorverkauf zu 15,- bis 40,- € (Ermäßigung für aktive Mitglieder der Freiburger<br />
Dommusik, „Freunde der Freiburger Dommusik e.V.“, Schüler, Studenten, Menschen mit<br />
Behinderung, Rentner) bei BZ Ticket (Kaiser-Joseph-Str. 229; Tel. 0761 4968888) oder<br />
unter www.reservix.de; Abendkasse Domsingschule Freiburg, Münsterplatz <strong>10</strong>, ab 16 Uhr.<br />
Unter den Festgenommenen<br />
bei den<br />
Schwab<br />
i n g e r<br />
Krawallen<br />
befand<br />
sich<br />
Andreas<br />
B a a d e r ,<br />
Jahre spä-<br />
t e r<br />
am Kauf- hausbrand in<br />
Frankfurt beteiligt. Ein Angriff<br />
auf das Symbol der Konsumgesellschaft,<br />
später von der RAF<br />
weitergeführt mit der Exekution<br />
einiger ihrer Vertreter. Schon in<br />
den frühen Schriften von Ulrike<br />
Meinhoff findet sich der Begriff<br />
„Konsumterror“. Und bereits<br />
Anfang 1960 hatten niederländische<br />
„Provos“ proklamiert:<br />
„Wir leben in einer geschichtslosen<br />
Einheitsgesellschaft. Verhalten<br />
und Konsum werden uns<br />
vorgeschrieben. Das Provotariat<br />
verabscheut den versklavten<br />
Konsumenten.“ Aber dass<br />
die linken Gruppierungen von<br />
Anfang an auf gewaltsamen<br />
Umsturz aus waren, kann man<br />
nicht behaupten. Selbst Ulrike<br />
Meinhoff ging es in ihren vorrevolutionären<br />
Jahren zunächst<br />
ganz konkret um Fragen der<br />
Bildung, des öffentlichen Nahverkehrs,<br />
um die Forderung für<br />
eine reinere Luft. Das ist frappierend<br />
nah an unserer heutigen<br />
Wirklichkeit. Die damalige<br />
massive Kritik am Konsumverhalten<br />
führte in eine ökologische<br />
Richtung, die nicht mit<br />
Gewalt vorangetrieben wurde,<br />
sondern ein Umdenken in der<br />
Politik anstrebte und an die allgemeine<br />
Moral appellierte.<br />
Berlin und der „rote Rudi“<br />
Das Aufbegehren gegen herrschende<br />
autoritäre Verhältnisse<br />
bestimmte das Lebensgefühl<br />
der Jugend. Die Studentenbewegung<br />
in der BRD wandte<br />
sich aber nicht nur gegen die<br />
hiesige politische Lage, sondern<br />
auch gegen die in der ganzen<br />
Welt. Schon 1960 hatten in den<br />
Südstaaten der USA die Sit-ins<br />
gegen Rassendiskriminierung<br />
begonnen, startete in England<br />
eine Kampagne für nukleare<br />
Abrüstung, folgte in Deutsch<br />
Buttons des Widerstands in der Ausstellung<br />
„Bewegt euch! 1968 und die Folgen in Karlsruhe“<br />
im Stadt mu seum im Prinz-Max-Palais Karlsruhe<br />
land der erste Ostermarsch gegen<br />
Stationierung von Atomraketen.<br />
Nach dem ersten Flächenbombardement<br />
in Südvietnam<br />
durch die USA, kam es in Berkley<br />
zu heftigen Studentenunruhen.<br />
Der Protest gegen den<br />
Vietnamkrieg zog international<br />
weite Kreise. An der Universität<br />
Frankfurt am Main fand der<br />
Kongress „Vietnam – Analyse<br />
eines Exempels“ statt. Bei einer<br />
Vietnamdemonstration in Berlin<br />
wurde 1966 das Amerikahaus<br />
mit Eiern beworfen. Im gleichen<br />
Jahr fordert Rudi Dutschke<br />
während einer Vietnam-Woche<br />
zur Außerparlamentarischen<br />
Opposition (APO) auf. Und<br />
1967 wurde der Student Benno<br />
Ohnesorg während des Schahbesuchs<br />
erschossen. Nicht von<br />
einem „faschistischen Bullen“,<br />
wie wir heute wissen, sondern<br />
von dem eingeschleusten<br />
Stasi-IM Karl-Heinz Kurras.<br />
Was 1968 mit dem Aufstand in<br />
Berlin kulminierte, hatte sich<br />
also schon in den Jahren zuvor<br />
angebahnt. Was auffällt, ist die<br />
Gleichzeitigkeit vieler Ereignisse:<br />
man denke nur an den<br />
„Prager Frühling“, die „Mai-Revolte“<br />
in Paris, den Widerstand<br />
an Orten bei uns und weltweit.<br />
Hatte sich der Protest der<br />
Studenten zuerst gegen die Bildungsinstitutionen<br />
mit ihren<br />
alten Strukturen gerichtet, verlagerte<br />
er sich immer mehr auf<br />
die Straße und auf andere Probleme.<br />
Nach dem Tod von Benno<br />
Ohnesorg, dem Inkrafttreten<br />
der Notstandsgesetze, erreichte<br />
der Widerstand eine neue Eskalationsstufe.<br />
Rudi Dutschke propagierte<br />
öffentlich den Systemsturz,<br />
notfalls mit Gewalt. Seine<br />
seltsam gestelzte Ausdrucksweise,<br />
ein Philosophendeutsch,<br />
stand ganz im Gegensatz zum<br />
Studentenjargon („Wer zweimal<br />
Foto: Titelius<br />
mit der selben pennt, gehört<br />
schon zum Establishment“). Der<br />
SDS-Wortführer machte starken<br />
Eindruck durch sein Charisma,<br />
aber vieles was er vortrug, war<br />
nicht allen verständlich. Zeitzeugen,<br />
die 1968 beim großen<br />
Vietnamkongress an der Freien<br />
Universität in Berlin dabei<br />
waren, als Dutschke seine berühmt<br />
gewordene Revolutionsrede<br />
hielt, lästerten „über seinen<br />
hohen Ton, den beseligenden<br />
Singsang“, der an eine Erweckungspredigt<br />
erinnert habe.<br />
Der damalige Berliner AStA-<br />
Vorsitzende Knut Nevermann<br />
sagte 2017 auf einer Podiumsdiskussion<br />
der FU, der Vietnam-<br />
Kongress habe einen Rausch<br />
ausgelöst, der alle erfasst habe,<br />
es seien anschließend 15 000<br />
Demonstranten euphorisiert<br />
durch die Straßen Westberlins<br />
gezogen. Der Tübinger Universitätsprofessor<br />
Bernd Jürgen<br />
Warneke schreibt in seinem<br />
Buch „Mein 68 begann 65“:<br />
„Auch ich hatte in diesen frühen<br />
Bewegungsjahren das Gefühl,<br />
einen ganzen Galeerenvorrat an<br />
Fesseln zu sprengen.“<br />
Einschneidend war das Attentat<br />
auf Rudi Dutschke durch<br />
den Hilfsarbeiter Josef Bachmann.<br />
Nach seiner Festnahme<br />
fand man bei ihm die „Deutsche<br />
Nationalzeitung“, die unter der<br />
Schlagzeile „Stoppt den roten<br />
Rudi“ fünf Porträtfotos von<br />
Dutschke zeigte. In Axel Springer<br />
wurde der Schuldige ausgemacht,<br />
die Blockade des Springer-Hochhauses<br />
beschlossen.<br />
Bei den Osterunruhen kam es<br />
zu den größten Straßenschlachten,<br />
die die BRD bis dahin gesehen<br />
hatte: Barrikaden wurden<br />
aufgebaut, Pflastersteine flogen,<br />
Springer-Zeitungen wurden verbrannt.<br />
Marek Dutschke, ein<br />
Sohn von Rudi Dutschke, äu-