Berliner Kurier 21.10.2018
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18 JOURNAL BERLINER KURIER, Sonntag, 21. Oktober 2018<br />
Hashtag-Debatten: So werden,<br />
oft leicht verächtlich,<br />
Probleme genannt, die<br />
unter einem bestimmten<br />
Schlagwort in sozialen Netzwerken<br />
diskutiert werden –gekennzeichnet<br />
durchdie Raute (#).Sturm im Wasserglas,<br />
denken die, denen diese Welt<br />
fremd ist. Doch sie irren sich: Die DebatteMeToobewegtdiegesamtewestliche<br />
Welt, und das seit inzwischen einem<br />
Jahr. Losgetreten wurde sie<br />
durch dieEnthüllungenüber die mutmaßlichen<br />
sexuellen Übergriffe des<br />
Filmproduzenten Harvey Weinstein.<br />
Dochdas Bewusstseinfür gesellschaftliche<br />
Probleme ist allgemein derzeitso<br />
stark wie lange nicht.Dass es um mehr<br />
geht als Sexismus, zeigt unsere Auswahl<br />
derHashtags, die das vergangene<br />
Jahrgeprägt haben.Einige Grundsätze<br />
des Westens sind erschüttert worden –<br />
denndass sieinWahrheitnicht für alle<br />
gelten, wird auch durchdie politischen<br />
EntwicklungendervergangenenJahre<br />
deutlich. Alle Menschen sind gleich?<br />
Anscheinend nicht, wenndie mit mehr<br />
Macht die anderen ungestraft misshandeln<br />
dürfen. Opfern sexueller Gewalt<br />
wird geholfen? Dann würden sie<br />
nicht attackiert, sobald sie den Mund<br />
aufmachen. Wer den Pass hat, darfein<br />
Land seine Heimat nennen? Menschen<br />
mit Migrationshintergrund erzählen<br />
eine andere Geschichte. Die<br />
Hashtags stehen für Glaubenssätze,<br />
die ins Wanken geraten sind. Und für<br />
Debatten, die überfällig waren. Jetzt<br />
werdensie geführt –auch,weilsich jeder<br />
beteiligen kann, der einen Internetzugang<br />
hat.<br />
Margarethe Gallersdörfer<br />
#Aufschrei<br />
Es ist die Proto-MeToo-Debatte: 2013 schildert die<br />
Journalistin Laura Himmelreich, heutige Chefin<br />
der deutschsprachigen Ausgaben des Magazins Vice,<br />
in einem Porträt über den damaligen FDP-Spitzenkandidaten<br />
Rainer Brüderle, wie dieser eines<br />
Abends an einer Hotelbar anzügliche Bemerkungen<br />
über ihre Oberweite gemacht habe. Nach einem<br />
Austausch über eigene Erfahrungen mit sexueller<br />
Belästigung twittert die Aktivistin und Feministin Anne<br />
Wizorek (Foto): „Wir sollten diese Erfahrungen unter<br />
einem Hashtag sammeln. Ich schlage #aufschrei vor“.<br />
Durch MeToo ist fast in Vergessenheit geraten, welche Wellen die „Aufschrei“-Debatte in<br />
Deutschland schlug. Zeitungen, Online-Portale, TV- und Radiosender beschäftigten sich wochenlang<br />
mit sexueller Belästigung und struktureller Diskriminierung, die fast jede Frau<br />
kennt: die ungewollte Berührung, die abfällige Bemerkung, der eklige Witz.<br />
Noch erstaunlicher: Auch am heimischen Esstisch, im Freundes- und Kollegenkreis werden<br />
Gespräche geführt, immer wieder das männliche Erstaunen kolportiert: „Ich wusste nicht,<br />
dass es so schlimm ist.“<br />
Der Tenor ist, dass „Aufschrei“ die Gesellschaft dauerhaft verändern werde. Nur vier Jahre<br />
später zeigt MeToo, dass der Themenkomplex Sexismus, Diskriminierung, sexuelle Gewalt<br />
und Machtmissbrauch so aktuell ist wie eh und je. Eine Debatte reicht da nicht aus.<br />
#Why Ididn’t report<br />
Opfern, die erst viel später von sexuellen<br />
Übergriffen gegen sie erzählen,<br />
wird immer diese Frage gestellt:<br />
Warum bist du nicht gleich zur Polizei<br />
gegangen? Auch Christine Blasey<br />
Ford (Foto) wird mit ihr konfrontiert,<br />
als sie im September 2018 den<br />
Kandidaten für das Oberste Gericht<br />
der USA, Brett Kavanaugh,<br />
unter Eid<br />
einer versuchten<br />
Vergewaltigung<br />
in der<br />
Highschool<br />
beschuldigt<br />
–also vor<br />
mehr als 30<br />
Jahren.<br />
Als US-Präsident<br />
Trump deshalb<br />
Fords Glaubwürdigkeit in<br />
Zweifel zieht, springen Tausende<br />
Twitter-Nutzer für sie in die Bresche.<br />
Unter #WhyIdidntreport<br />
(„Warum ich nicht angezeigt habe“)<br />
erzählen sie Geschichten von Trauma<br />
und Verrat.<br />
Es gibt gute Gründe für Opfer, sexuelle<br />
Gewalt für sich zu behalten.<br />
Manchmal sind sie zu jung oder verstehen<br />
aus anderen Gründen erst<br />
später, was ihnen geschehen ist.<br />
Manchmal halten Angst und Scham<br />
sie stumm. Und manchmal sagen sie,<br />
was passiert ist, und werden gedemütigt,<br />
der Lüge bezichtigt, bedroht.<br />
So wie jetzt Christine Blasey Ford.<br />
#SheToo<br />
Für Kritiker ist der Fall Asia Argento ein Triumph<br />
oder zumindest ein Beweis für die angebliche<br />
Heuchelei von MeToo. Die italienische<br />
Schauspielerin (Foto, 43) hatte sich mit Rose<br />
McGowan und Alyssa Milano an die Spitze der<br />
Bewegung gestellt, nachdem sie offenbart hatte,<br />
eines der zahlreichen mutmaßlichen Opfer von<br />
Harvey Weinstein zu sein. 1997 soll er sie in seinem<br />
Hotelzimmer in Cannes sexuell genötigt<br />
haben. Im August 2018 der Paukenschlag: Asia<br />
Argento ist selbst mutmaßliche Täterin.<br />
Im Jahr 2013 soll Argento den damals 17-jährigen<br />
Schauspieler Jimmy Bennett sexuell genötigt<br />
haben, in einem Hotelzimmer. Besonders<br />
bemerkenswert: Im April 2018 zahlte Argento<br />
Bennett laut New York Times 380000 Dollar.<br />
Im Zuge dieser Enthüllungen entsteht der<br />
Hashtag #SheToo, unter dem diskutiert wird,<br />
was eigentlich klar sein sollte: Auch Frauen sind<br />
Täterinnen, auch Männer können Opfer sexueller<br />
Übergriffe werden, und das nicht nur durch<br />
andere Männer.<br />
SheToo zieht die Debatte weg von der „Männer<br />
sind Täter, Frauen sind Opfer“-Polarisierung –<br />
auch wenn es bei der Mehrheit der Übergriffe<br />
stimmt.<br />
Die Fälle Cristina<br />
García, Avital Ronell,<br />
Asia Argento<br />
und andere zeigen<br />
zweierlei.<br />
Erstens: Machtmissbrauch<br />
ist<br />
nicht Männersache.<br />
Und zweitens:<br />
Auch mutmaßliche<br />
Opfer<br />
können zu Täterinnen<br />
werden.