Berliner Zeitung 08.12.2018
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8./9. DEZEMBER 2018 9<br />
Georg Burth (1901–1972) war seit<br />
1930 kaufmännischer Angestellter<br />
in der Hauptverwaltung der IG<br />
Farben in FrankfurtamMain.Von<br />
Mai 1942 an Buchhalter der IG Farben in<br />
Auschwitz, 1943–1945 Leiter des Versicherungsbüros<br />
der I.G. Auschwitz. Nach dem<br />
Krieg lebte Burth inSpeyer. Oberetwas mit<br />
der dort 1947 gegründeten Staatlichen Akademie<br />
fürVerwaltungswissenschaften zu tun<br />
hatte,weiß ich nicht. Er schrieb am 30.7.1942<br />
an seinen Vorgesetzten in der Frankfurter<br />
Zentrale der I.G.Farben einen ausführlichen,<br />
wohl eher privaten Bericht über seine Arbeit<br />
in Auschwitz. Darin heißt es: „Dass die Zahl<br />
der Unterkunftsbaracken immer mehr anwächst<br />
und so bald eine große Barackenstadt<br />
entsteht, können Siesich bei der großen Gefolgschaftsstärke<br />
wohl vorstellen. Dazu<br />
kommt noch der Umstand, dass einige 1000<br />
fremdländische Arbeiter dafür sorgen, dass<br />
unsere Lebensmittel nicht schlecht werden.<br />
So finden wir Italiener, Franzosen, Kroaten,<br />
Belgier,Polen und als‚engste Mitarbeiter‘ die<br />
sogenannten Strafgefangenen aller Schattierungen.<br />
Dass dabei die jüdische Rasse eine<br />
besondere Rolle spielt, können Sie sich denken.<br />
DieVerpflegung und Behandlung dieser<br />
Sortevon Menschen ist zweckentsprechend.<br />
Irgendwelche Gewichtszunahmen dürften<br />
hier wohl kaum zu verzeichnen sein. Dass<br />
bei einem geringsten Versuch, eine Luftveränderung<br />
vorzunehmen, die Kugel pfeift, ist<br />
eine ebenso feststehende Tatsache wie die,<br />
dass schon viele infolge ‚Hitzschlag‘ abhanden<br />
kamen.“<br />
Von systematischem Vergasen ist hier<br />
nicht die Rede. Burth hatte 1947 erklärt, er<br />
habe erst Mitte 1944 von betrunkenen SS-<br />
Männern vom Massenmord in Auschwitz<br />
gehört. Auch wer inAuschwitz war, wusste<br />
nichts von Auschwitz? Die Anführungszeichen<br />
bei „Hitzschlag“ legen aber doch nahe,<br />
dass er wusste, warum die einen Arbeitskräfte<br />
so häufig durch neue ersetzt werden<br />
mussten. Möglicherweise war ihm zu wichtig,<br />
dass sie zu Tode kamen, als dass er sich<br />
noch sehr für das Wieinteressierte.<br />
Ein paar Zeilen später ändert sich sein<br />
Ton: „Nun zu mir persönlich. Ichbin mit den<br />
mir übertragenen Aufgaben außerordentlich<br />
zufrieden, die Arbeit macht mir große<br />
Freude, und ich kann wohl sagen, dass ich<br />
immer mehr in das Arbeitsgebiet hineinwachse.“<br />
Wasdie Arbeit des Versicherungsbüros<br />
der I.G. Auschwitz war,weiß ich nicht.<br />
Aber Georg Burth ist ein beredtes Beispiel<br />
dafür, dass es immer jemanden gibt, der<br />
auch noch im falschesten Leben sich ein für<br />
ihn richtiges einzurichten versteht.<br />
Diese Edition von Auschwitz-Dokumenten<br />
ist, soweit ich sehe, die umfangreichste,<br />
die man derzeit bekommen kann. Niemand<br />
wirdsie in einem Schwung vonder ersten bis<br />
zur letzten Seite lesen. GeorgBurths sarkastischer<br />
Tonist ja nur eine der vielen Varianten<br />
des Schreckens.<br />
Ein paar Seiten später findet sich eine<br />
Aufstellung des Häftlingsarztes Otto Wolken<br />
(1903–1975)über die Häftlinge aus den vier<br />
Transporten, die es zwischen dem 15. April<br />
und dem 27. April1942 gab: Innerhalb von17<br />
Wochen seien 91 Prozent, innerhalb von 16<br />
Wochen 98 Prozent, innerhalb von 16Wochen<br />
92,5 Prozent und wiederum innerhalb<br />
von 16Wochen 94,8 Prozent der Menschen<br />
aus den einzelnen Transporten getötet worden.Wolken<br />
hat bis zum 15. Transportam17.<br />
Juli 1942 akribisch Buch geführt. Seine Zahlen<br />
zeigen, dass das Auschwitz, aus dem er so<br />
launig berichtete, eine bestens funktionierende<br />
Mordmaschine war.<br />
DieTabelle ist so grausam wie Burths arischer<br />
Humor,und der Bericht, den die polnische<br />
Widerstandsbewegung im November<br />
1942 an die polnische Exilregierung in London<br />
sendet, ist in seiner Nüchternheit nicht<br />
weniger ergreifend. Manbeobachtet sich dabei,<br />
wie man sich wundert, dass 1942 2900<br />
„Die Arbeit macht mir<br />
große Freude“<br />
289 Dokumente zum Konzentrationslager Auschwitz und zu den<br />
Todesmärschen vom Februar 1944 bis zum Mai 1945<br />
Häftlinge vergast wurden, aber 4000 erschossen,<br />
und 2000 an Typhus starben oder<br />
mit Phenolininjektionen zu Tode gebracht<br />
wurden. 3000 starben an der Ruhr. Der Bericht<br />
an die Exilregierung fügt den Zahlen<br />
Berichte hinzu, aus denen hervorgeht, dass<br />
die Lagerleitung größten Wert darauf legte,<br />
die Unterschiede zwischen den Häftlingen<br />
zu nutzen. So ließ sie zum Beispiel die Gefangenen<br />
des ersten Warschauer Transports<br />
durch Schlesier ermorden. „Die unmittelbaren<br />
Autoritäten im Lager“ sind deutsche<br />
rückfällige Kriminelle, „die auf ihre ganz eigene<br />
Art, mit einem Lächeln auf den Lippen,<br />
in der Lage sind, massenhaft wehrlose Häftlinge<br />
mit Knüppeln umzubringen“. Der Leser<br />
blättertzurück auf die Liste der Mordmethoden:<br />
1200 Häftlinge wurden „getötet im<br />
Bunker,amPfahl, durch Schläge und auf andereWeise“.<br />
Dann eine Zahl: „Bei den Gaskammern<br />
liegen 15 000 Kleidungsstücke, obwohl sie<br />
täglich mit Fuhren weggebracht werden.“<br />
DerLeser kriegt sie nicht zusammen mit der<br />
Zahl von 2900 Vergasten. Er liest weiter und<br />
stellt fest: DieZahlen stimmen nicht. Es wurden<br />
viel mehr vergast. Für die Statistik und<br />
die Information der Hinterbliebenen erfand<br />
VonArnoWidmann<br />
Das Gleis, das die Züge mit den zu ermordenden Juden ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau brachte.<br />
DasKZAuschwitz<br />
DieReihe „Die Verfolgung und Ermordung der<br />
europäischen Juden durch das nationalsozialistische<br />
Deutschland 1933 bis 1945“ ist eine<br />
Edition vonDokumenten zur Geschichte der Judenvernichtung<br />
durch den NS-Staat. Herausgegeben<br />
wird sie vomBundesarchiv,vom Institut<br />
für Zeitgeschichte und vomLehrstuhl für<br />
Neuere und Neueste Geschichte an der Universität<br />
Freiburg.<br />
Zwölf Bände sind bereits erschienen, 16 sind<br />
geplant. Zuletzt kam der vonAndrea Rudorf bearbeitete<br />
Band 16 heraus: „Das KZ-Auschwitz<br />
1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche<br />
1944/45.“ Die Reihe erscheint in den Verlagen<br />
Walter de Gruyter und Oldenbourg.Band16<br />
hat883 Seiten und kostet 59,95 Euro.<br />
IMAGO<br />
man Krankheiten, um nicht „vergast“ schreiben<br />
zu müssen. „Das gesamte Gelände der<br />
D-Kammer ist eine geschlossene Zone, wer<br />
sich ohne Grund dort aufhält, unterliegt der<br />
Todesstrafe (dies gilt auch für Angehörige der<br />
SS, der Wehrmacht und Häftlinge). DieVergasung<br />
von 3 500 Menschen dauert zwei<br />
Stunden.“<br />
Es gibt auch –sagen wir das schreckliche<br />
Wort –Happy-End-Geschichten in diesem<br />
Band. Denbeiden slowakischen Juden Alfréd<br />
Wetzler (1918–1988) und Rudolf Vrba<br />
(1924–2006) gelang im April 1944 die Flucht<br />
aus Auschwitz. Sie berichteten von ihren Erfahrungen.<br />
Der „Vrba-Wetzler-Bericht“ war<br />
die erste Schilderung des Vernichtungslagers,<br />
der große Gruppen der westlichen öffentlichen<br />
Meinung Glauben schenkten.<br />
Vrba schloss sich den Partisanen und deren<br />
Slowakischem Nationalaufstand an. Wetzler<br />
arbeitete nach dem Krieg als Landarbeiter.<br />
Vrba studierte Chemie und Biochemie in<br />
Prag, emigrierte 1956 nach Israel und 1976<br />
nach Vancouver, arbeitete dort als Professor<br />
an der University of British Columbia. 1985<br />
interviewte ihn Claude Lanzmann für seinen<br />
Film„Shoah“. Seine Erinnerungen an Auschwitz<br />
„Ich kann nicht vergeben“ sind zuletzt<br />
beim Schöffling Verlag mit einem Vorwort<br />
vonBeate Klarsfeld erschienen.<br />
Es gab, das wird heute gerne übersehen,<br />
einen wissenschaftlichen Nationalsozialismus.<br />
Jedenfalls einen Anspruch und einen<br />
Stolz darauf. Der Nationalsozialismus sollte<br />
nicht nur Empfindung sein, sondernein wissenschaftliches<br />
Fundament haben. Wo ihm<br />
das noch fehlte, daarbeitete man intensiv<br />
daran. Auschwitz war auch ein Forschungslabor.Josef<br />
Mengele (1911–1979) forderte für<br />
seine Untersuchungen Zwillinge an. Über<br />
800 wurden Opfer seiner Experimente. Seinem<br />
Lehrer Otmar von Verschuer vom Kaiser-Wilhelm-Institut<br />
für Anthropologie<br />
schickte er Blutproben nach Berlin. Der versuchte<br />
mit dem Nachweis der Rassespezifizität<br />
von Eiweißkörpern imBlut der Rassenkunde<br />
eine naturwissenschaftliche Grundlage<br />
zu geben. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />
unterstützte diese Arbeiten.<br />
Auschwitz versorgte medizinische Institute<br />
mit Körpernund Körperteilen. DerAnatom<br />
August Hirt zum Beispiel erbat sich aus<br />
Auschwitz Judenskelette für seine Sammlung<br />
an der Universität Straßburg. Seine Mitarbeiter<br />
kamen nach Auschwitz, suchten<br />
sich dort unter den Häftlingen ihre Lieblingsexemplare<br />
aus, vermaßen sie und nahmen<br />
sie, nachdem sie ermordet worden waren,<br />
mit an die Universität.Wo sie noch heute<br />
stehen? Nein. Die Skelettsammlung wurde<br />
nicht aufgebaut. Das sollte etwas für nach<br />
dem Endsieg sein. Zu dem es aber, Russen<br />
und Amerikanernsei Dank, nicht kam.<br />
Werinden Dokumenten des Bandes liest,<br />
der stößt unter den Täternauf Technokraten,<br />
die versuchen, alles möglichst effizient, ruhig<br />
–bin ich versucht zu sagen –ablaufen zu<br />
lassen. Daneben gibt es die Sadisten, die sich<br />
einen Spaß daraus machen, die Gefangenen<br />
nicht nur umzubringen, sondernesauf möglichst<br />
schmerzhafte Weise zu tun. Sie brauchen<br />
den Widerstand des Opfers, den Lustgewinn<br />
ziehen sie in erster Linie aus dem Erlebnis,<br />
ihn brechen zu können. Es gab in<br />
Auschwitz auch Wärter,die den Gefangenen<br />
Essen zusteckten, die versuchten, dem einen<br />
oder dem anderen von ihnen das kurze Leben,<br />
das er noch hatte,zuerleichtern.<br />
Das System Auschwitz brauchte sie wohl<br />
alle.Wer in dem Band liest, der weiß nicht, ob<br />
Auschwitz der Bruchmit der Zivilisation war<br />
oder nicht doch eher die Aufdeckung ihres<br />
Geheimnisses. Das Zusammenwirken von<br />
rationalen, an Effizienz, Pünktlich- und Verlässlichkeit<br />
ausgerichteten Faktoren mit<br />
dem entfesselten Vernichtungswahn scheint<br />
mir gerade nichts Einzigartiges, sondern<br />
eher eine sich immer wieder neu herstellende<br />
Konstellation. Oskar Lafontaine hatte<br />
völlig recht, als ervor vielen Jahrzehnten erklärte,<br />
mit Sekundärtugenden könne man<br />
auch bestens ein Konzentrationslager leiten.<br />
Genauer: Ohne Sekundärtugenden funktioniert<br />
kein Konzentrationslager. Aber es<br />
stimmt auch: Ohne Sekundärtugenden<br />
funktioniert nichts. Ineiner arbeitsteiligen<br />
Welt ist man darauf angewiesen, dass man<br />
sich auf den anderen verlassen kann. Die<br />
Gaskammernmüssen passen:„Abgemagerte<br />
Leichen, die kein Fett mehr aufwiesen,<br />
brannten in den äußeren Muffeln schneller<br />
und in den mittleren schlechter.“ Eine Muffel<br />
ist laut Wikipedia ein „hitzebeständiger Einsatz<br />
für Laboratoriumsöfen“. Und weiter:<br />
„Umgekehrt verbrannten die Leichen der<br />
Menschen, die direkt vomTransport ins Gas<br />
geschickt wurden und folglich noch nicht so<br />
abgemagert waren, besser in der mittleren<br />
Muffel. Beim Verbrennen solcher Leichen<br />
brauchten wir den Koks eigentlich nur zum<br />
Anfachen des Ofens,weil das Körperfett von<br />
selbst brannte.Wenn kein Koks zum Anheizender<br />
Generatoren da war,legten wir Stroh<br />
und Holz in die Aschebehälter unter den<br />
Muffeln und sobald das Fett der Leichen<br />
Feuergefangen hatte,verbrannten ganzeLadungen<br />
vonselbst.“<br />
Arno Widmann<br />
denkt an Plautus, der schrieb: „Der<br />
Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“<br />
RÜCKBLICK VON ARNO WIDMANN<br />
PearlHarbour und ein<br />
Tippfehler<br />
8. Dezember 1941<br />
PearlHarbor: Einen Tagnach dem Angriff auf<br />
Pearl Harbor erklären die USA Japan den<br />
Krieg. Japan eröffnet seinerseits eine großangelegte<br />
Offensive inSüdostasien: Mit dem<br />
Kampf um Prachuap Khiri Khan beginnt die<br />
Invasion Thailands,auch Hongkong wirdangegriffen.<br />
Als weitere Folge der japanischen<br />
Expansionspolitik beginnt die Schlacht um<br />
die Philippinen, die bis zum 9. Juni 1942 dauernwird.<br />
Am Ende wirdnach den Atombomben<br />
auf Hiroshima und Nagasaki die Kapitulation<br />
Japans am 2. September 1945 stehen.<br />
Knapp vier Monate nach der Kapitulation<br />
Bei dem Angriff auf PearlHarbor<br />
sank auch die USS Arizona. IMAGO (2)<br />
der deutschen Verbündeten, denen die USA<br />
übrigens nie den Krieg erklärthatten.<br />
8. Dezember 1951<br />
Bauakademie: Mit einem Staatsakt wird die<br />
Bauakademie der DDR eröffnet. Bis1973 hat<br />
sie ihren Sitz in der Hannoverschen Straße<br />
28–30 in Berlin-Mitte, dieses Gebäude wird<br />
später als Ständige Vertretung der Bundesrepublik<br />
Deutschland bei der DDR genutzt, bis<br />
sie 1991 aufgelöst wird.<br />
8. Dezember 2005<br />
Tippfehler: EinBörsenhändler in Tokio erhält<br />
den Auftrag, eine Aktie der Zeitarbeitsfirma<br />
J-Com zum Preis von610 000 Yenzuverkaufen.<br />
Er gibt jedoch stattdessen eine Order<br />
über 610 000 Aktien zum Preis voneinemYen<br />
in sein Handelssystem ein und richtet mit<br />
dem „teuersten Tippfehler der Welt“ einen<br />
Schaden vonca. 300 Millionen Euro an.<br />
Die Ständige Vertretung der Bundesrepublik<br />
bei der DDR<br />
Und am 8. Dezember 1989 in der<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong><br />
Runder Tisch: Vertreter von14Parteien, politischen<br />
Gruppierungen und Organisationen<br />
begannen gesternim<strong>Berliner</strong> Dietrich-Bonhoeffer-Haus<br />
Gespräche am Runden Tisch.<br />
Sie verabschiedeten folgende Erklärung:<br />
„Die Teilnehmer des Runden Tisches treffen<br />
sich aus tiefer Sorge umunser in eine Krise<br />
geratenes Land, seine Eigenständigkeit und<br />
seine dauerhafte Entwicklung. Sie fordern<br />
die Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen<br />
und finanziellen Situation in<br />
unserem Land. Obwohl der Runde Tisch<br />
keine parlamentarische oder Regierungsfunktion<br />
ausüben kann, will er sich mit Vorschlägen<br />
zur Überwindung der Krise an die<br />
Öffentlichkeit wenden. Er fordert von der<br />
Volkskammer und der Regierung, rechtzeitig<br />
vor wichtigen Rechts-, Wirtschafts- und finanzpolitischen<br />
Entscheidungen informiert<br />
und einbezogen zu werden. Er versteht sich<br />
als Bestandteil der öffentlichen Kontrolle in<br />
unserem Land.