SOCIETY 374 / 2018
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
DIPLOMATIE<br />
KOMMENTAR<br />
Heimweh<br />
Auslandsaufenthalte können die innere Stabilität<br />
stark beeinflussen. Hier kann Psychotherapie helfen.<br />
Fotos: foto nelson, pixabay<br />
Schon vor 100 Jahren befasste sich der<br />
Psychiater Karl Jaspers mit dem Thema<br />
Heimweh und Jugendkriminalität. Natürlich<br />
führt nicht jede Übersiedlung zur<br />
Delinquenz. Trotzdem erzeugt Heimweh<br />
- wie die psychiatrische und psychoanalytische Literatur<br />
verdeutlicht - einen hohen Leidensdruck.<br />
Aber ab wann spricht man von krankhaftem<br />
Heimweh und wie kann man es erkennen und behandeln?<br />
„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was<br />
erzählen“, heißt es; oft bringt ein Ortswechsel<br />
aber mehr Qual als Freude. Wollte man zunächst<br />
Altes zurücklassen, neue Abenteuer erleben, die<br />
eigene Persönlichkeit ergründen, so kommt es<br />
oft ganz anders. Etwas bremst einen in seinem<br />
Vorhaben - das Unbewusste. Plötzlich ist man in<br />
der Fremde überfordert. Das hat zahlreiche Gründe.<br />
Oft hat der Reisewunsch seinen Ursprung in<br />
der Kindheit. Wer ist nicht mit dem Finger über<br />
den Globus gefahren und sich Abenteuer ausgemalt?<br />
Dieser Wunsch bleibt jedoch infantil, und<br />
der Reisende sieht sich plötzlich im Widerspruch<br />
zwischen Traum und Wirklichkeit.<br />
Wie drückt sich nun Heimweh aus? Bindungslosigkeit<br />
und die daraus resultierende Überforderung<br />
können zu Gefühlen der Angst und<br />
Schutzlosigkeit führen. Auch Sprachlosigkeit<br />
kann auftreten - wegen fehlender Sprachkenntnisse<br />
- oder weil es einem sprichwörtlich die Sprache<br />
verschlägt. So wird die Kontaktaufnahme zu<br />
anderen erschwert - Verschlossenheit und Isolation<br />
folgen, Gedankenkreisen raubt einem den<br />
Schlaf. Aufgrund von Schlaflosigkeit kann man<br />
das ursprüngliche Arbeitsvorhaben nicht mehr<br />
umsetzen. Man beginnt nun, die Heimat paradiesisch<br />
zu verklären - Trostlosigkeit nimmt zu, der<br />
Appetit lässt nach und die Stimmung verdunkelt<br />
sich. Auch kulturelle Unterschiede, Autonomieverlust<br />
und unbearbeitete innerpsychische Konflikte<br />
aus der Heimat, spielen eine Rolle.<br />
Die Psychiatrie würde heute von depressiver<br />
Symptomatik sprechen – Melancholie, die später<br />
zu einer Depression führen kann. Besonders<br />
schlimm trifft es Jugendliche, die noch kein stabiles<br />
Ich entwickeln konnten, und deren psychische<br />
und physische Entwicklungen eine Herausforderung<br />
darstellen. In so einer Lebensphase<br />
kann Heimweh das Fass zum Überlaufen bringen.<br />
Es kann zu schweren Essstörungen kommen - die<br />
Lücke möchte gefüllt werden. Oft betäuben sich<br />
Jugendliche mit Alkohol, Drogen, etc., um eine<br />
kurzzeitige Linderung herbeizuführen. Heute<br />
wird auch der virtuelle Rückzug immer interessanter,<br />
denn online kann man überall sein.<br />
Eine Psychotherapie - bevorzugt muttersprachlich<br />
- ist oft die effektivste und nachhaltigste Methode,<br />
um sein Heimweh zu verstehen und richtig<br />
damit umzugehen. Bei starkem Leidensdruck ist<br />
es indiziert, einen Facharzt für Psychiatrie für<br />
INFO<br />
eine evtl. medikamentöse Einstellung aufzusuchen.<br />
TEXT: Désirée Prosquill<br />
•<br />
DDr. Désirée Prosquill,<br />
Fachärztin für Psychiatrie<br />
u. Psychotherapeutische<br />
Medizin, Psychoanalytikerin<br />
(Kinder/Jugendliche/<br />
Erwachsene) in eigener<br />
Ordination, Ausbildungen in<br />
Wien an der Univ.-Klinik für<br />
Psychiatrie u. Psychotherapie,<br />
im Maßnahmenvollzug,<br />
sowie an der Univ.-Klinik für<br />
Kinder- u. Jugendpsychiatrie<br />
absolviert, Herausgeberin<br />
des Magazins THE<br />
VIENNA PSYCHOANALYST<br />
Kontakt<br />
Laudongasse 31/5/15<br />
1080 Wien<br />
Tel: +43-1-9446343<br />
office@theviennapsychoanalyst.at<br />
<strong>SOCIETY</strong> 2_<strong>2018</strong> | 47