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Berliner Kurier 23.12.2018

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JOURNAL<br />

Und es begab sich<br />

vor 200 Jahren ...<br />

„Stille Nacht,heilige Nacht“ gilt als das<br />

weltweit bekannteste Weihnachtslied. Die<br />

Uraufführung erfolgte am 24.Dezember<br />

1818 in einer Kirche in Oberndorfbei<br />

Salzburg. Eine Spurensuche<br />

F<br />

Früher waren die Nächte stiller, und<br />

die Tage waren es auch. Das wird einem<br />

gerade an einem Dezembernachmittag<br />

wie diesem bewusst, da<br />

sich inOberndorf die Hütten eines<br />

Weihnachtsmarktes um den kleinen<br />

Hügel naheder Salzach, auf dem die<br />

Stille-Nacht-Kapelle steht, winden,<br />

und mindestens zwei Reisegruppen<br />

über das Gelände gelotst werden,<br />

während ihre Busse am Besucherparkplatz<br />

herumrangieren. Einheimische<br />

sagen, das Flusstal gebe ein<br />

fantastisches Echo, aber selbst ein<br />

kräftiger Jodler hätte keine Chance,<br />

die vom Gewirr der Stimmen, von<br />

Gedudel und von Glühweinduft<br />

geschwängerte Winterluft zu durchdringen.<br />

Die oktogonförmige Kapelle fasst<br />

kaum zwanzig Menschen, die sich<br />

gleichwohl immer wiederzuspontanen<br />

„Stille Nacht“-Chören zusammentun.<br />

Und derAndrang ist in diesem<br />

Advent besonders groß: Hier<br />

trugen vor zweihundert Jahren, in<br />

der Christmette im Jahr 1818, der<br />

Oberndorfer Pfarrer Joseph Mohr<br />

und sein Mesner, der im Nachbarweiler<br />

Arnsdorf als Lehrer tätige<br />

Franz Xaver Gruber, das seinerzeit<br />

noch namenlose Lied zum ersten Mal<br />

vor. Mohr spielte Gitarre und sang<br />

die Tenor-Stimme, Gruber sang Bass.<br />

Damals standfreilich noch einerichtige<br />

Kirche an gleicher Stelle, die alte<br />

Kirche St. Nikola, die jedoch infolge<br />

der Flussbegradigungen im späten19.<br />

Jahrhundert offenbar einmal zu oft<br />

von Hochwasser heimgesucht worden<br />

war.„Angeblich war’s baufällig“,<br />

erzählt Josef Standl.<br />

Standl ist Vizepräsident der Stille-<br />

Nacht-Gesellschaft und Koordinator<br />

der Jubiläumsfeierlichkeiten, und er<br />

vermitteltden Eindruck,als könneer<br />

noch immernicht fassen, wie unsentimental<br />

seinerzeit mit dem historischen<br />

Erbe umgegangen wurde:1909<br />

wurde St. Nikola abgerissen, und<br />

mehr als zwanzig Jahre lang türmte<br />

sichein Schutthügel aufdem heiligen<br />

Grund –ehe sichdie Oberndorfer besannen<br />

und darauf die „Gruber-<br />

Mohr-Kapelle“ errichtenließen.Zur<br />

Einweihung im August 1937 kam<br />

Bundeskanzler Schuschnigg, und<br />

Grubers Enkel Felix sang –natürlich<br />

„Stille Nacht“.<br />

ImmerhinkonnteausdemInventar<br />

von St. Nikola einiges für die Nachwelt<br />

bewahrt werden. Darunter das<br />

Kruzifix, von dem ausder Heiland in<br />

jener Nachtvor zweihundert Jahren<br />

über das Geschehen wachte. Es ist<br />

der Stolz des an die frühere Kirche<br />

angrenzenden, ehemaligen „Schulund<br />

Lesehauses“, das seinerzeit auch<br />

Joseph Mohr ein komfortfreies<br />

Quartier bot und heute einvon Standl<br />

kuratiertes Museum beherbergt.<br />

„Ein Zimmer hat er gehabt, mehr hat<br />

er nicht gehabt“, sagt Standl. Mehr<br />

hat er auch später niegehabt, und viel<br />

mehr hat auch Gruber nie gehabt.<br />

Von den vielen Geschichten, die sich<br />

um „Stille Nacht“ ranken, ist die interessanteste<br />

sowieso die, dass der<br />

Rummel um dasLied,das mittlerweile<br />

2,5 Milliarden Menschen in 300<br />

Sprachen singen, inklusive einer vom<br />

Salzburg Museum mit dem Gehörlosen-Verband<br />

erarbeiteten Version in<br />

Gebärdensprache, in diametralem<br />

Gegensatz zum Leben der beiden<br />

Schöpfer steht. „Sie haben beide ein<br />

ärmliches Leben geführt, und sie<br />

haben das Lied für die armen Leute<br />

geschaffen“, sagt Standl.<br />

Dem 75-jährigen Chef-Erbverwalter<br />

der beiden,aber auchallenanderen,<br />

die mit dem Jubiläum beschäftigt<br />

sind, ist von daher eine gewisse<br />

Ambivalenz anzumerken: Natürlich<br />

sind sie in Salzburg und Umgebung<br />

stolz auf diesenBeitragfür die Ewigkeitund<br />

sichüberdies bewusst, dass<br />

er sich längst zu einem Wirtschaftsfaktor<br />

ausgewachsen hat –genauso<br />

jedoch, dass das Lied andererseits<br />

wohl gerade deshalb so universell<br />

verfängt,weil Geld,Pompund Pracht<br />

auf Erden darininjederHinsicht fern<br />

sind. „Es ist eigentlich ein Wahnsinn“,<br />

sagt Peter Husty, Chefkurator<br />

des Salzburg-Museums, wo in der<br />

Ausstellung „Stille Nacht 200 –Geschichte,<br />

Botschaft, Gegenwart“ nahezu<br />

allesrundumdas Liedzusehen<br />

–das Lied selbst aber nicht zu hören<br />

ist; es sei denn perKopfhörer übereine<br />

Schweizer Walzen-Spieldosevon<br />

1870, dem mutmaßlich ersten Tonträger<br />

mit „Stille Nacht“. Schon das,<br />

und umso mehr „wie sich das dann<br />

fortgesetzt hat“, sagt Husty, hätten<br />

weder Mohr noch Gruber auch nur<br />

ansatzweise nachvollziehenkönnen.<br />

Geschuldet ist das Lied ja dem harten<br />

Leben in der keineswegs als malerisch<br />

empfundenen Bergnatur in jenen<br />

Tagen und dem geduldigen Leiden<br />

daran sowie der Hoffnung zweier<br />

junger Männer –Mohr war 24,<br />

Gruber31–,die dumpfe Armseligkeit<br />

der Schiffer und Bauern wenigstens<br />

am Christtag mit einem Funken<br />

Tröstung und Zuversicht zu versehen.<br />

Beide durften jamit einigem<br />

Recht glauben,sichdankGottesHilfe<br />

„vom Grimmebefreit“ zu haben, wie<br />

sie in der fünften Strophe ihres<br />

„Weyhnachts-Liedes“ sangen.<br />

Gruberwar der Sohn eines Leinenwebers<br />

aus Hochburg-Ach in Oberösterreich<br />

und schuftete schon von<br />

klein auf in der väterlichen Werkstatt<br />

–sein Schullehrer entdeckte jedoch<br />

seinmusikalisches Talentund schaffte<br />

es,den Jungen seinem Schicksal zu<br />

entreißen und für eine Lehrerausbildung<br />

zuempfehlen. 1807 erhielt er<br />

seine erste Stelle inArnsdorf. Nicht<br />

dass erdamit viel besser dran war.<br />

Sein Gehalt war das Schulgeld, das<br />

die Bauern selten zahlen konnten.<br />

Um sich über Wasser zu halten, übernahm<br />

er deshalb den Organistendienst<br />

in der Kirche in Oberndorf.<br />

Dorttraf er Mohr, der 1817als Aushilfspfarrer<br />

nach St. Nikola geschickt<br />

wurde –eigentlich eine Filiale der<br />

Stiftskirche im links der Salzachgelegenen<br />

Laufen, das jedoch seit dem<br />

Endeder napoleonischen Kriege und<br />

der Grenzziehung mitten durch den<br />

Fluss im Jahr 1816 zu Bayern gehörte.<br />

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