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20 JOURNAL BERLINER KURIER, Sonntag, 23. Dezember 2018<br />
Salat &Lavendel<br />
Ob Gans,<br />
Fondue,<br />
Kartoffelsalat<br />
oder Karpfen: Erinnert<br />
man sich an<br />
Weihnachten –dann<br />
auch oft ans<br />
Essen.<br />
Das unheimliche Reh<br />
Wir hatten zwei Haustiere, beide warenrechte Horrorgestalten. Eines war<br />
ein Skalar,den mein kleiner Bruder mal zu Weihnachten bekam –samt jeder<br />
Menge anderer Fische, die der Skalar aber im Nu aufgefressen hatte. Das<br />
anderewar ein Reh, das stets im Advent vonder DeckeimKeller hing: die<br />
verschnürten Vorderbeine nach oben, der Kopf schief nach hinten über die<br />
Schulter hängend, der Bauch ausgeweidet.Unser Vater warJäger,das<br />
Viech warjedes Jahr unser Programm fürs Warten aufs Christkind –und an<br />
Weihnachten selbst dann der Braten. Weil unser Haus an einem Hang lag,<br />
wardie Haustür gleichzeitig die Kellertür,und manchmal vergaßen wir,Gäste<br />
darauf hinzuweisen, wassie erwartet –wir haben die Schreckensschreie<br />
immer aufnehmen und an das Soundarchiv eines Filmstudios schicken wollen.<br />
Dashätte sicher mehr Geld gebracht als die eine Mark proKilo Kastanien,<br />
die uns unser Vater zahlte, damit die Rehe noch eine Henkersmahlzeit<br />
hatten, bevorersie abschoss. Einmal kam immerhin so viel zusammen, dass<br />
wir Heiligabend die Kindermesse<br />
schwänzen<br />
und ins Kino gehen<br />
konnten. Wie sahen<br />
„Terminator 2“. Leider<br />
kam es raus, und es gab<br />
einen Riesenärger.Was<br />
uns eigentlich einfalle,<br />
schimpfte unsereMutter,soein<br />
Horror,und<br />
das an Weihnachten!<br />
Christian Seidl<br />
Die fliegende Gans<br />
Wenn ich an Weihnachten vor40Jahren denke, rieche ich den Lavendel von<br />
„Kölnisch Wasser –4711“ und Rinderbrühe. Beides liebte meine Oma. Das<br />
Duftwasser,das sie jedes Mal kaufte, wenn sie aus ihrem beschaulichen<br />
Unterfranken in das für sie hektische Bonn anreiste. Dabei wohnten wir in<br />
Oberdollendorfnahe der damaligen Bundeshauptstadt –das konnte sich in<br />
Sachen Ruhe mit ihrem Gerolzhofen durchaus messen. Oma brachte ihre<br />
selbst gekochte Rinderbrühe ebenso wie ihren Käsekuchen mit,den wir gierig<br />
verschlangen. Die Brühe brauchte sie für ihren fränkischen Kartoffelsalat,der<br />
wunderbar nach Zwiebeln und Schnittlauch duftete, wenn er endlich<br />
mit Würstchen auf den Tisch kam. Er warder besinnliche Abschlusseines<br />
furchtbar aufregenden Tages. Mein Vater fuhr mit uns Kindern an Heiligabend<br />
immer auf den Drachenfels. Oft lag Schnee, wir trugen dickeSocken,<br />
Handschuhe und Bommelmützen. Wir stellten uns schaudernd vor, dassder<br />
Drache gleich um die Ecke geschossen kommt.Wir warenganz aufgekratzt,<br />
wir fieberten schließlich 16 Uhr entgegen. Dass Mutti endlich<br />
das Glöckchen zur Bescherung läutete. Den Salat<br />
gibt es heute noch bei mir. 4711,<br />
früher für mich ein Oma-<br />
Duft,kaufte ich mir<br />
jüngst auch einmal.<br />
Anne-Kattrin<br />
Palmer<br />
Seit ich denken kann, isst meine Familie zu Weihnachten Gans. Meine Mutter<br />
schob sie am Nachmittag in den Ofen, pinselte ab und zu gesalzenes Wasser<br />
auf die Gänsehaut,draußen wurde es dunkel, und in der Wohnung breitete<br />
sich ein wohliger Duft aus. Die Gans warmal zu trocken, mal zu fettig, aber<br />
mein Bruder und ich ertränkten sowieso alles –Fleisch, Rotkohl, Knödel –in<br />
Bratensoße. So waresjedes Jahr.Dann feierten wir zum ersten Mal Weihnachten<br />
in Berlin. Wir liehen uns einen Tisch, an den sieben Leute passten,<br />
meine Eltern, mein Bruder,die polnischen Schwieger-<br />
eltern, die Oblaten mitgebracht<br />
hatten –und Wodka.<br />
Es dauerte lange, bis wir den<br />
großen Bräter in den viel zu<br />
kleinen Gasofengeruckelt hatten.<br />
Den ersten Wodka tranken wir,<br />
bevordie Gans auf den Tisch<br />
kam, der Rest desAbends ver-<br />
das Ende<br />
schwindet im Nebel, nur an erinnereich mich: Da waren die Eltern<br />
schon im Hotel, nur mein Bruder tanzte noch in<br />
der Küche durch das Chaos aus Töpfen und Tellern. Er<br />
schnappte sich das Tablett mit den Resten der Gans, rief: „Dieser Vogel muss<br />
noch einmal fliegen“, und warf das Gerippe aus dem Fenster.Als ich am<br />
nächsten Morgen auf die Straße blickte, pickten fette Krähen die letzten<br />
Fleischfetzen vonden Gänseknochen.Imnächsten Jahr gabesSteak.<br />
Anne Lena Mösken<br />
So<br />
Soschmeckt<br />
Gans oder<br />
garnicht:<br />
Redakteure<br />
erinnern<br />
sich an das<br />
Fest bei Mutti<br />
und Vati<br />
Wissen Sie noch, wie Sie als Kind Weihnachten<br />
gefeiert haben? Was Sie sich<br />
sehnlichst wünschten, was das Christkind<br />
Ihnen bescherte –und welches Gericht traditionell<br />
alle Jahre wieder auf den Tisch kam? Das<br />
festliche Weihnachtsmenü. Mal mehr oder weniger<br />
aufwendig, aber es gehörte einfach dazu. Viele<br />
verbinden den Heiligabend mit Gans, Rehrücken<br />
oder Kartoffelsalat. Auch unsere Redakteureerinnern<br />
sich gerne nostalgisch und belustigt daran,<br />
wie sie damals das Fest verbrachten –wie sie bis<br />
heute ein Karpfen-Trauma mit sich herumtragen<br />
oder wie sie sehnsüchtig auf die Bescherung warteten<br />
und dann Fleischberge vertilgten. AKP