Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
22 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 66 · M ittwoch, 20. März 2019<br />
·························································································································································································································································································<br />
Feuilleton<br />
Startum ganz eigener Art: In Jérôme Bels „Disabled Theater“ (2012) gibt es keine Gruppentänzer.Alle Spieler bekommen ihren Auftritt an der Rampe.<br />
MICHAEL BAUSE<br />
Wasist, wie geht und was soll Tanzen?<br />
Der französische Choreograf Jérôme Bel hat einen Film über sein Schaffen gemacht. Heute wird „Retrospective“ im HAU1uraufgeführt<br />
VonMichaela Schlagenwerth<br />
Eine Frau zieht sich die Haut<br />
vom Leib. Nackt und fahl<br />
ausgeleuchtet steht sie in<br />
tiefschwarzer Dunkelheit.<br />
Sie tastet sich den Bauch entlang,<br />
zieht die Haut vonden Rippen, gräbt<br />
ihre Hände tief hinein in ihr Fleisch.<br />
Ratlos und traurig wirkt die längst<br />
ikonografisch gewordene Szene aus<br />
Jérôme Bels 1995 entstandenem<br />
Stück „Jérôme Bel“. Mit ihr lässt der<br />
französische Choreograf jetzt seinen<br />
Film „Retrospective“ beginnen. Eine<br />
Rückschau auf sein Werk, die heute<br />
im HAUuraufgeführtwird.<br />
„Retrospective“, so erklärt Bel<br />
selbst in einem kurzen Prolog, zeige<br />
das,was ihn aus heutiger Perspektive<br />
an seinem eigenen Werk interessiert.<br />
Sechs aus seinem insgesamt neunzehn<br />
Stücke umfassenden Werk hat<br />
der Choreograf ausgewählt.<br />
Es ist tatsächlich so etwas wie<br />
eine Geschichte daraus geworden.<br />
Es geht um einen Künstler, der mit<br />
seinem Befund, dass es nicht länger<br />
möglich sei auf der Bühne zu tanzen,<br />
die zeitgenössische Tanzszene in<br />
den 1990er- und frühen 2000er-Jahren<br />
sostark beeinflusst wie wenige<br />
andere. Undder diesem Befund zum<br />
Trotz −ein so unauflösbarer wie produktiver<br />
Widerspruch − Bühnen-<br />
Tanzkunst schafft und ihr immer<br />
wieder neue, überraschende Perspektiven<br />
abgewinnt.<br />
Als Bel 1994 mit „Nom donné par<br />
l’auteur“ sein erstes Stück herausbrachte,machten<br />
noch Compagnien<br />
wie Rui Hortas Frankfurter Soap<br />
Company oder die Hamburger<br />
Gruppe Coax international Furore −<br />
mit Tänzern, die mit Knie- und Armschonern<br />
bewehrt, virtuos und martialisch<br />
über die Bühnen hechteten<br />
und im Kampf gegeneinander und<br />
gegen unerbittliche Maschinen antraten.<br />
Es schien so etwas wie ein letztes<br />
Aufbäumen der damaligen zeitgenössischen<br />
Tanzkunst mit ihren herkömmlichen<br />
Mitteln zu sein. Mit ihrentoll<br />
trainierten, virtuosen Tänzern<br />
versuchte man, gegen die Verdinglichung<br />
der Körper aufzubegehren.<br />
Mit aggressiver Vitalität, realem<br />
Schmerzund realer Erschöpfung sollten<br />
in ein scheinbar nur noch in Surrogaten<br />
stattfindendes gesellschaftliches<br />
Leben so etwas wie schockhafte<br />
Wirklichkeitsstöße gejagt werden.<br />
BLZ/MARKUS WÄCHTER<br />
Jérôme Belwar damals selbst noch<br />
als Tänzer unterwegs.Seine intensive<br />
Lektüre, vor allem von Guy Debords<br />
„Die Gesellschaft des Spektakels“,<br />
brachte ihn zu dem Schluss,dass virtuoser<br />
Tanz selbst Spektakel sei. Dass<br />
die Kunst dabei zur Ware und die Zuschauer<br />
zu Konsumenten<br />
werden.<br />
Also wurde<br />
bei Bel nicht<br />
mehr getanzt.<br />
Stattdessen<br />
wurde die Haut<br />
abgezogen, wurden<br />
die Muskeln Intendantin Annemie<br />
Vanackere<br />
beschriftet. Im<br />
nächsten Schritt,<br />
in der „Shirtologie“ von1997, sind es<br />
unendliche Schichten von beschrifteten<br />
T-Shirts, deren Aufdrucken ein<br />
Tänzer gerecht zu werden versucht −<br />
den tollen Körpern, den Slogans. Es<br />
ist absurd, komisch und brutal.<br />
In„The Show Must Go On“stehen<br />
26 Tänzer in Alltagskleidung auf der<br />
Bühne und bewegen sich zu abgedroschenen<br />
Hits wie„ILike To Move<br />
It Move It“ von Sacha Baron Cohen.<br />
„Woinder Marktökonomie der Popmusik<br />
die Videoclips so glamourös<br />
wie möglich sind“, sagt die HAU-Intendantin<br />
Annemie Vanackere im<br />
Gespräch mit der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>,<br />
„hat Bel das Gegenteil gemacht.“ Er<br />
habe diesen Songs einen so unglamourösen<br />
Tanz wie möglich entgegengestellt,<br />
am<br />
Anfang noch mit<br />
professionellen<br />
Tänzerinnen<br />
und Tänzern,<br />
später, was die<br />
Arbeit zunächst<br />
noch eindringlicher<br />
gemacht<br />
Choreograf habe, mit Laien.<br />
Jérôme Bel „Wie lässt sich<br />
das verfestigte<br />
Machtsystem der Repräsentation in<br />
eine demokratische Veranstaltung<br />
umformen?“ Dies sei die Frage, die<br />
Jérôme Bel in all seinen Arbeiten<br />
umtreibe, soVanackere, die „Retrosepctive“<br />
koproduziert hat: Kann<br />
man tanzen? Wie geht Tanzen? Was<br />
ist Tanzen überhaupt?<br />
Nach „Jérôme Bel“, „Shirtologie“<br />
und „The Show Must Go On“ markiert<br />
das vierte ausgewählte Stück<br />
des Films,„Véronique Doisneau“, so<br />
JASPER KETTNER<br />
etwas wie einen Wendepunkt. 2004<br />
ist das in der Pariser Oper uraufgeführte<br />
Solo mit einer Gruppentänzerin<br />
des weltberühmten Pariser Balletts<br />
entstanden. Ergreifend erzählt<br />
Véronique Doisneau vonihrer Sehnsucht,<br />
einmal selbst die Giselle tanzen<br />
zudürfen. Man sieht sie auf der<br />
großen Bühne,wie sie ein Tutu überstreift,<br />
für sich selbst die Musik<br />
summt und es einmal tut −das große<br />
klassische Solo tanzen. Demfolgt die<br />
Geschichte von der Brutalität des<br />
Gruppentänzerdaseins: das Stillstehen,<br />
während die Solisten in der<br />
Mitte ihren großen Auftritt haben.<br />
„Wir werden unbewegliches Dekor<br />
für die Stars. Ich würde dann am<br />
liebsten schreien“, sagt Doisneau.<br />
Dem Widerspruch zwischen der<br />
Sehnsucht, ein Star zu sein, und der<br />
sehr viel häufigeren Wirklichkeit,<br />
sich zum Dekor degradiert wiederzufinden,<br />
gewinnt Belinden im Film<br />
gezeigten Folgearbeiten überraschende<br />
Wendungen ab. Pure Anarchie<br />
zu Abbas „Dancing Queen“ in<br />
„Disabled Theatre“ und ein Startum<br />
ganz eigener Art in „Gala“: Jeder<br />
Protagonist hat seinen Song, zeigt<br />
einmal seine tänzerische Spezialdisziplin<br />
oder Vorliebe. Sei es nun Ballett<br />
oder Michael Jacksons Moonwalk<br />
oder eine Jonglage mit Stäben.<br />
Bei der Uraufführung von„Gala“,<br />
das als Seriejeweils mit lokalen Protagonisten<br />
weltweit an vielen Theatern<br />
gezeigt wird, steht Bel auch<br />
selbst auf der Bühne. Neben einem<br />
Rollstuhlfahrer, Balletttänzern, Kindern<br />
und Alten. Als die Idee zum<br />
Stück entstand, erzählt Vanackere,<br />
sei es zunächst darum gegangen,<br />
vielleicht einen Film daraus zu machen.<br />
Am Ende ist ein Film über und<br />
für das Theater entstanden.<br />
In seiner letzten Szene balanciert<br />
eine junge Frau virtuos mit einer<br />
Stange. Hinter ihr versuchen die anderen,<br />
es ihr nachzutun und scheitern.<br />
Jeder und jede auf ihre Weise.<br />
Grandios,wild und fantastisch.<br />
Filmpremiere: „Retrospective“ 20. 3.,20Uhr,<br />
HAU1,imAnschluss:Gespräch mit Jérôme Bel<br />
und Annemie Vanackere, Tel.:25900427<br />
Michaela Schlagenwerth<br />
denkt mit Jérôme Bel<br />
prinzipiell über Tanz nach.<br />
Bucht der guten Hoffnung<br />
Erweiterte Familiengeschichte: Robert Guédiguians Film „Das Haus am Meer“<br />
VonChristina Bylow<br />
Die Kinder reisen zum kranken Vater,hier die Tochter (Ariane Ascaride).<br />
der 80er-Jahre. Die drei Geschwister<br />
in ihren übermütigen Jahren, die<br />
Schwester auf dem Sprung nach Paris<br />
in eine Bühnenkarriere, der älteste<br />
Bruder als junger Politik-Rebell,<br />
aus dem die zwiespältigste Figur dienes<br />
Theaterstücks,staffelt den Spielraum<br />
in Haupt- und Hinterbühne<br />
und komprimiertdas Geschehen auf<br />
die überschaubare Dimension eines<br />
Kammerspiels mit Rückblenden in<br />
der verschwommenen Video-Optik<br />
AGAT FILMS &CIE<br />
Das Haus hockt auf halber Höhe,<br />
zwischen Uferpromenade und<br />
Felsen, sein Schmuckstück ist der<br />
geschwungene Balkon, ein Halbkreis<br />
mit Blick auf die Fischerboote im Hafen.<br />
Auf dieser Plattform nimmt ein<br />
alter Mann eines Morgens seinen<br />
Kaffee,bevor ihn ein Hirnschlag niederstreckt<br />
und in den Zustand völliger<br />
Hilflosigkeit versetzt. Die Kinder<br />
reisen an, längst selbst an der<br />
Schwelle zum Alter, uneins darüber,<br />
was nun mit dem Ort ihrer Kindheit<br />
und Jugend geschehen soll. Hinter<br />
den pragmatischen Überlegungen –<br />
erhalten oder verkaufen, bleiben<br />
oder gehen –verbergen sich Desorientierung<br />
und Sinnkrisen, auch Verzweiflung<br />
über ein lange zurückliegendes<br />
Unglück. Nur eines der drei<br />
Geschwister, ein Bruder, weiß, wohin<br />
er gehört und was zu tun ist.<br />
Längst führt erdas elterliche Fischrestaurant.<br />
Robert Guédiguian beginnt seinen<br />
Film „Das Haus am Meer“ wie<br />
ein Familientreffen aus traurigem<br />
Anlass. Kontrastiert von einer adretten<br />
Miniaturwelt, die aussieht wie<br />
eine Postkarten-Ansicht aus den<br />
50er-Jahren. Häuschen in Spielzeugfarben,<br />
davor die azurblaue Bucht<br />
mit schaukelnden Segelschiffchen,<br />
über die Felsen im Hinterland<br />
spannt sich ein altes Eisenbahnviadukt.<br />
Den Ort gibt es wirklich –<br />
Ensuès-la-Redonne heißt das Fischerdorf<br />
ander Bucht von Méjean.<br />
DemRegisseur,Sohn einer Hafenarbeiterfamilie<br />
mit armenischen Wurzeln,<br />
1953 geboren im benachbarten<br />
Marseille,erschien dieser Ortimmer<br />
wie eine Freiluftbühne. Sein Film<br />
folgt denn auch der Dramaturgie ei-<br />
ses Films geworden ist: Ein sich<br />
selbstbemitleidender Schwätzer mit<br />
junger Geliebter,die in dem Haus am<br />
Meer ganz zeitgemäß eine Goldader<br />
sieht und den linken Veteran bald<br />
abserviert.<br />
Aber auch in ihrer natürlichen<br />
Unzulänglichkeit lässt Guédiguian<br />
seinen Figuren ihren Charme, sein<br />
Ton ist nie scharf oder denunzierend.<br />
Milde,auchhumorvolle Nachsicht<br />
liegt in seinem Blick, kein Zynismus.<br />
Wie in seinem Film „Der<br />
Schnee am Kilimandscharo“ lässt<br />
Guédiguian die Generationen in ihren<br />
unterschiedlichen Aufträgen<br />
und ihrer Zeitgebundenheit aufeinanderprallen,<br />
und immer mehr<br />
scheinen über dem Porträt einer<br />
südfranzösischen Familie ganz allgemeine<br />
Zustände auf. Der Niedergang<br />
der Provinz, der Verlust des Zusammenhalts,<br />
die Gier der Investoren,<br />
die auf weißen Jachten indie<br />
Bucht einfallen mit ihrem Grund<br />
undSee taxierenden Siegerblick. Die<br />
meisten der Einheimischen haben<br />
ihre Häuser längst an die Eroberer<br />
verscherbelt und die Agonie des<br />
Dorfes damit besiegelt.<br />
Im Winter liegt das Leben brach<br />
in den Ferienwohnungen, der Rest<br />
ist Tourismus. In diese Lähmung<br />
hinein lässt Guédiguian drei Kinder<br />
auftauchen wie Sendboten der Hoffnung.<br />
Überlebende eines untergegangenen<br />
Flüchtlingsschiffs,das Militär<br />
sucht nach ihnen. Spiegelbildlich<br />
stehen die drei verschreckten<br />
Kinder –ein Mädchen und zwei Jungen<br />
–für die Geschwister-Trias, die<br />
durch sie als Medium zu einer längst<br />
verschütteten Tugend zurückfindet:<br />
zur Gastfreundschaft. Dass siedaran<br />
auch selbst gesunden, darf als Parabel<br />
gelesen werden.