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Procycling 03.19

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ERIK ZABEL<br />

Drei Jahre war Zabel Teil der Sportlichen<br />

Leitung bei HTC-Highroad – hier eine Aufnahme<br />

von 2011 mit Jan Schaffrath, Rolf<br />

Aldag, Jens Zemke, Valerio Piva und Brian<br />

Holm (v. l. n. r.).<br />

Machen wir uns nichts vor: Es wäre nicht korrekt,<br />

wenn ich sagen würde, dass es mich damals nicht<br />

beschäftigt und bewegt hat. Die Woche danach<br />

war nicht einfach. Da wird man dann schon mal<br />

nachts wach oder kann schlecht einschlafen, weil<br />

man sich fragt: Wie konnte das eigentlich passieren?<br />

Was hast du da gemacht?<br />

Und: Wie konnte das passieren?<br />

Bei der Analyse bin ich auf zwei Punkte gekommen,<br />

die mir an dem Tag einen Strich durch die<br />

Rechnung gemacht haben. Punkt eins war Alessandro<br />

Petacchi. Er war im Frühjahr 2004 in allen<br />

Rennen, die wir vorher zusammen gefahren<br />

sind, sehr dominant. Man wusste als Fahrer: Der<br />

ist in dieser Form fast nicht zu schlagen. Wenn<br />

man bei ihm am Rad ist und das Rad halten kann,<br />

ist man zumindest schon mal sicher Zweiter. Seine<br />

Mannschaft hat an dem Tag enorm gut für ihn<br />

gearbeitet, das Rennen kontrolliert und ihn in<br />

Richtung Ziellinie gebracht. Ich war an seinem<br />

Rad und hatte eigentlich gar nicht so damit gerechnet,<br />

ihn überhaupt passieren zu können. Insofern<br />

war ich sehr fokussiert auf ihn. Auf einmal<br />

habe ich gemerkt, dass ich einen guten Zug habe<br />

und an ihm vorbei fahre. Es war nicht mehr weit<br />

zur Linie und ich war vorne. Dazu kam: Es war<br />

eines der wenigen Rennen, bei dem ich mit Funk<br />

gefahren bin. Ich hatte den Kopfhörer im rechten<br />

Ohr, dadurch fehlte mir die Wahrnehmung, jemanden<br />

auf dieser Seite hören zu können. Da ich<br />

selten mit Funk gefahren bin, war das ungewohnt<br />

für mich. Ich war auf der rechten Seite quasi taub.<br />

Die Tatsache, Petacchi überholen zu können und<br />

damit im Vorfeld nicht gerechnet zu haben, hat<br />

„ES WAR EINES DER WENIGEN<br />

RENNEN, BEI DEM ICH MIT<br />

FUNK GEFAHREN BIN. ICH<br />

WAR AUF DER RECHTEN<br />

SEITE QUASI TAUB. ICH HABE<br />

OSCAR ERST WAHRGENOM-<br />

MEN, ALS ES ZU SPÄT WAR.“<br />

mich so überrascht, dass ich angefangen habe<br />

zu jubeln, als ich die Ziellinie gesehen habe. Aufgrund<br />

des Funks habe ich Oscar [Freire, Sieger<br />

2004] überhaupt nicht wahrgenommen. Normalerweise<br />

haben viele Rennfahrer aufgrund der Augen<br />

und Ohren einen ganz guten Instinkt, man<br />

spürt, wenn jemand da ist. Aber in diesem Fall<br />

habe ich Oscar erst wahrgenommen, als wir einen<br />

Meter vor der Ziellinie waren – oder auch einen<br />

dahinter. Auf jeden Fall erst, als es zu spät war.<br />

Du hast das Rennen viermal gewonnen und<br />

liegst damit auf Platz drei der ewigen Rangliste.<br />

Gibt es eine Art Formel, die man dafür<br />

entwickeln kann? Oder sind die Zeiten vorbei?<br />

Freire war 2010 der letzte Fahrer, der<br />

dort mehr als einmal siegreich war.<br />

Die Formel ist wahrscheinlich erst mal genetischer<br />

Natur. Ebenso wie ein Roger De Vlaeminck,<br />

Johan Museeuw, Tom Boonen oder später ein Fabian<br />

Cancellara – diese Fahrer waren bei Rennen<br />

wie der Flandern-Rundfahrt oder Paris–Roubaix<br />

vorne, weil sie von den genetischen Voraussetzungen<br />

die Besten ihrer Generation dafür waren. Genauso<br />

kann das auch bei Mailand–San Remo der<br />

Fall sein – dass dort vor allem Rennfahrer oben<br />

stehen, die mit langen Distanzen gut klarkommen.<br />

Und dabei natürlich von ihrem Team bis ins<br />

Finale gut beschützt werden.<br />

Wie lief das zu deiner Zeit?<br />

Ich hatte in all den Jahren stets ein starkes Team,<br />

in dem die Fahrer ihre eigenen Chancen geopfert<br />

haben. Wir hatten damals Rennfahrer wie Steffen<br />

Wesemann, die an der Cipressa und am Poggio<br />

eben nicht attackiert haben, sondern eher dafür<br />

da waren, Attacken dort zu neutralisieren. Genau<br />

so hat es später Alexander Winokurow gemacht.<br />

Dazu hatte ich mit [Giovanni] Lombardi oder<br />

[Gian Matteo] Fagnini Fahrer an meiner Seite, die<br />

mich vom Poggio bis auf die Zielgerade gebracht<br />

haben. Es gab damals jedoch auch viele Teams,<br />

die gesagt haben: Wir haben zwar Sprinter, aber<br />

wir haben auch noch jemanden, der attackieren<br />

kann. Damit hat man aus dem einen Schuss, den<br />

man im Lauf hat, schon mal zwei gemacht. Doch<br />

oftmals haben sich die Teams dadurch gegenseitig<br />

auch ein bisschen die Chancen vereitelt. Wenn<br />

du ein Team hattest wie Saeco, das alles auf Cipo<br />

[Mario Cipollini, Gewinner 2002] gesetzt hat,<br />

oder T-Mobile oder Telekom, die an diesem Tag<br />

für mich gefahren sind – das war schon ein Riesenvorteil,<br />

der mir persönlich entgegenkam. Ich<br />

denke, das war in den vorhergehenden Generationen<br />

auch nicht anders. Wenn Molteni mit Merckx<br />

gekommen ist, dann gab es auch nur einen Fahrer<br />

und eine Taktik [schmunzelt].<br />

Auch nach deiner aktiven Karriere warst du<br />

bei Mailand–San Remo erfolgreich. In deinem<br />

ersten Jahr als Berater bei HTC-High–<br />

road saßt du im Mannschaftswagen, als<br />

Mark Cavendish bei seinem Debüt 2009 dort<br />

gewinnen konnte. Welche wichtigen Tipps<br />

hast du ihm geben können?<br />

Im Rahmen von Tirreno–Adriatico waren wir mit<br />

sechs Rennfahrern des Teams in Ligurien und<br />

sind die letzten 100 Kilometer der Strecke an<br />

zwei Tagen hintereinander abgefahren. Das war<br />

für Mark wichtig, denn er kannte zwar einiges von<br />

Nizza oder von Monaco, aber die letzten 100 Kilometer,<br />

mit den Capi [Anstiegen] und dem Finale,<br />

war er so in der Form noch nicht gefahren. Ich bin<br />

damals mit dem Rad mitgefahren und habe ihm<br />

Dinge gesagt wie: „Wenn du hier rumkommst und<br />

den Kirchturm siehst, sind es noch anderthalb<br />

Kilometer bis zur Einfahrt Cipressa“ oder „In acht<br />

von zehn Fällen ist die linke Seite hier besser“. So<br />

haben wir es damals geschafft, dass Cavendish<br />

MÄRZ 2019 | PROCYCLING 35

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