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22 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 84 · M ittwoch, 10. April 2019<br />
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Feuilleton<br />
Kunst ist ein ganz besonderer Saft<br />
Drei Gründe, warum die Theaterkritiken von Theodor Fontane auch heute noch lesenswert sind<br />
VonPetraKohse<br />
Eigentlich braucht niemand<br />
2000 Buchseiten voll Kritiken<br />
über das <strong>Berliner</strong><br />
Theater vor 150 Jahren.<br />
Menschen, denen das Theater fern<br />
ist, sowieso nicht. Diejenigen, denen<br />
das Theater nah ist, aber auch<br />
nicht. Denn was inden 70er-Jahren<br />
des 19. Jahrhunderts auf den Bühnen<br />
geboten wurde, gehört zuden<br />
uninteressanten Kapiteln derTheatergeschichte.<br />
Jekursorischer man<br />
sich damit befassen kann, desto<br />
besser. Erst Mitte der 1880er-Jahre<br />
nahm das Geschehen mit dem aufkommenden<br />
Realismus Fahrt auf<br />
und wurde mit der Gründung der<br />
Freien Bühne in Berlin im Jahr 1889<br />
dann sogar richtig aufregend. Aber<br />
da war Theodor Fontanes Zeit als<br />
hauptamtlicher Theaterkritiker der<br />
Vossischen <strong>Zeitung</strong> schon zu Ende,<br />
unddie Handvoll Artikel, die er über<br />
die Aufführungen der –umdie Zensur<br />
umgehen zu können als Verein<br />
gegründeten –Freien Bühne noch<br />
schrieb,waren bloß die Bonustracks<br />
seines diesbezüglichen Schaffens.<br />
Trotzdem sei empfohlen, in die<br />
vier Bände der Großen Brandenburger<br />
Fontane-Ausgabe, die sich mit<br />
seinen Theaterkritiken von 1870 bis<br />
1894 befassen (drei Bände mit 649<br />
Kritiken, ein Band mit Kommentaren)<br />
wenigstens hineinzulesen.<br />
Denn sofortwirdmehreres spürbar.<br />
Erstens: die offenbare und sehr<br />
inspirierende Muße der damaligen<br />
Kulturgesellschaft. Ohne Multitasking,<br />
Newsfeeds und Netflix konnten<br />
den Lesern bis zu drei Artikel<br />
über eine einzige Aufführung zugemutet<br />
werden. Zuweilen eine<br />
Nachtkritik als ersten Eindruck,<br />
durchaus schon in der Länge eines<br />
heutigen Beitrags in einem Fachmagazin.<br />
Dann bei neuen Stücken oft<br />
zwei weitere Beiträge: einen nur<br />
über das Drama, einen über das<br />
Spiel, die sich beide ohne raffinierte<br />
Einstiege darauf verließen, eine<br />
wartende Leserschaft vorzufinden,<br />
die den mäandernden Gedankengängen<br />
Fontanes zu folgen bereit<br />
war.<br />
Dessen meistunorthodoxes Herangehen,<br />
die Tatsache, dass er stets<br />
mehr Fragen stellte als beantwortete<br />
und auch als Kritiker ein Plauderer<br />
war,unterschied ihn zwar von<br />
seinen eher akademisch schreibenden<br />
Kollegen (etwa Karl Frenzel in<br />
der National-<strong>Zeitung</strong>), heißt aber<br />
nicht, dass seine Texte leichte Lektüre<br />
waren. Anders als Jahrzehnte<br />
später Friedrich Luft, der als Plauderer<br />
durchaus ein Nachfolger war,<br />
sprach Fontane zu Vorgebildeten,<br />
Das Königliche Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, aus dem Theodor Fontane von 1870 bis 1894 für die Vossische <strong>Zeitung</strong> berichtete, um 1890.<br />
Eingeweihten. In wachsender<br />
Selbstbegeisterung breitete er zuweilen<br />
Winzigkeiten aus, während<br />
er den Inhalt von Stücken, die in<br />
Berlin schon einmal zu sehen gewesen<br />
waren, umstandslos als bekannt<br />
voraussetzte.<br />
Wobei man wissen muss, dass<br />
Fontane,der erst als50-Jähriger zur<br />
kontinuierlichen Theaterkritik kam,<br />
vor allem für die Aufführungen im<br />
Königlichen Schauspielhaus (heutigen<br />
Konzerthaus) am Gendarmenmarkt<br />
zuständig war. Und dieses<br />
hatte bei Fontanes Dienstantrittgerade<br />
das jahrzehntelange Hoftheater-Privileg<br />
auf die Aufführung von<br />
Tragödien verloren. Mit dem Beschluss<br />
über die Gewerbefreiheit für<br />
Theater im Jahr 1869 durften alle<br />
Theater –imRahmen der Zensur –<br />
spielen, was sie wollten. Natürlich<br />
waren die meisten Theater-Neugründungen<br />
in den 1870er-Jahren<br />
gewinnorientierte Unterhaltungsbetriebe.<br />
Dennoch war der Druck<br />
auf die Hoftheater, ihre kulturelle<br />
Vorrangstellung zu behaupten, gewachsen,<br />
und Fontane zögerte<br />
nicht, sich auf seine legere Weise<br />
zum Vorredner eines nach wie vor<br />
elitären Clubs zu machen.<br />
Zweitens lohnen Fontanes Kritiken<br />
auch über zu Recht vergessene<br />
Stücke und Aufführungen, weil er<br />
aus jedem Anlass seine Lust auslebt,<br />
sich mit dem Gebotenen weltanschaulich<br />
auseinanderzusetzen.<br />
Dass sich im Theater Haltung ausdrückt,<br />
ist gerade heute einerseits<br />
selbstverständlich, wird andererseits<br />
aber meist anhand der Stoffwahl,<br />
also thematisch entschieden<br />
und nicht, wie Fontane es tut, an der<br />
Dramaturgie oder den Figuren entlang<br />
diskutiert. An dem Stück „Fe-<br />
„Die Welt liegt in Wehen; wer will sagen, was<br />
geboren wird. (...) Gut, die Dinge gehen ihren<br />
ewigen Gang; thut eure Maulwurfsarbeit, ihr,<br />
die ihr untenseid.<br />
Theodor Fontane in der Kritik zu „Feenhände“ von Eugène Scribe am 2.11.1871<br />
enhände“ von Eugène Scribe etwa<br />
störtihn,dasshierausgerechnet ein<br />
Angehöriger der Oberschicht das<br />
Undercover-Dasein einer Aristokratin<br />
als Näherin romantisiere.<br />
„DieWelt liegt inWehen“, schrieb<br />
er am 2.11.1871, also wenige Monate<br />
nach Ende des deutsch-französischen<br />
Krieges,indessen Verlauf er<br />
selbst als deutscher Spion festgenommen<br />
worden und nur auf Betreiben<br />
Bismarcks wieder freigekommen<br />
war. Aber es sei „Wahnsinn<br />
und Verbrechen“, wenn diejenigen,<br />
die bei einem Umsturz der<br />
Gesellschaftsordnung nur verlieren<br />
SOPHUS WILLIAMS /AKG-IMAGES<br />
können, „wenn diese, sag ich, aus<br />
Eitelkeit, aus Popularitätshascherei<br />
und Gewinnsucht von heut auf<br />
morgen (...) sich selber das Brett unter<br />
den Füßen fortziehen“. Das Unauthentische<br />
stört ihn bei Scribe,<br />
nicht die moralische Aufwertung<br />
des Werktätigendaseins.<br />
Fontane war konservativ,ein Verfechter<br />
der Stabilität. Aber er war<br />
aufgeschlossen. Sein Intellektualismus<br />
verbot ihm ein Parteigängertum<br />
und auch sein künstlerisches<br />
Empfinden war autonom genug,<br />
nicht vorzuverurteilen. Durchaus<br />
etwas sprunghaft im Urteil, legte er<br />
dessen Entstehung aber jeweils ausführlich<br />
dar und ließ die Leser so am<br />
Denkprozess teilhaben. Ganz Kind<br />
seiner Zeit war Fontane indessen in<br />
den nationalen Stereotypen und<br />
Rassismen.Wasdeutsch sei, was slawisch,<br />
was französisch, war für ihn<br />
unumstößlich gesetzt, kaum jemals<br />
etwa könnte ein englische Fräulein<br />
von einer deutschen Schauspielerinnen<br />
angemessen verkörpert werden.<br />
Und von dem „Enkelkinde einer<br />
Negerin“ sei Tugend ja wohl<br />
kaum zu erwarten –auchdas.<br />
Drittens interessiert, wie Fontane<br />
die Ankunft des Realismus auf<br />
deutschen Bühnen (Henrik Ibsen)<br />
und dessen Umschlagen in den Naturalismus<br />
(Gerhart Hauptmann)<br />
begleitet. Denn die damalige Frage<br />
der zahlreichen Gegner der neuen<br />
Richtung, ob es denn eigentlich sein<br />
müsse,auf der Bühne gegen Eintritt<br />
all das gezeigt zu bekommen, was<br />
man im wirklichen Leben auf der<br />
Straße umsonst haben könne, wieviel<br />
Dokumentarisches also die<br />
Kunst vertrage,ist ja auch der heutigen<br />
ästhetischen Debatte nicht<br />
fremd.<br />
Fontane, der begeisterte Shakespearianer,<br />
der an der „Noth“ des<br />
„Aufführungspomps“ bei klassischen<br />
Stücken leidet, wächst in die<br />
neue Richtung gewissermaßen hinein.<br />
Die vergleichsweise alltägliche<br />
Sprache Ibsens gefällt ihm sofort,<br />
die Thematisierung häuslicher Fragen<br />
ebenfalls. Mit dem missionarischen<br />
Eifer des Norwegers, Herzensentscheidungen<br />
undden sogenannten<br />
freien Willen zu verherrlichen,<br />
kann er indessen nichts<br />
anfangen. Aus einer ordentlichen<br />
Vernunftehe, soFontane, sei wohl<br />
noch niemandem Unheil entstanden.<br />
Gerhart Hauptmann schließlich,<br />
der mit dem sozialkritischen<br />
Drama „Vor Sonnenaufgang“ 1889<br />
das Publikum und die Kritik spaltete,<br />
war für ihn künstlerisch von<br />
Anfang an eine „Erfüllung“. DasLeben<br />
selbst komme bei ihm auf die<br />
Bühne, aber eben durch die Theatralisierung<br />
„räthselvoll“ umgewandelt<br />
–„Kunst ist ein ganz besonderer<br />
Saft.“<br />
WasanFontanes Theaterkritiken<br />
am meisten anregt, ist diese Bereitschaft,<br />
Kunst als Aussage zur Gegenwarternst<br />
zu nehmen und seine eigenen<br />
Positionen daran immer wieder<br />
zu überprüfen. Ein Mann, der<br />
seinen Geist und sein Empfinden<br />
als Testsystem zur Verfügung stellte<br />
und dem es in der Beurteilung von<br />
Kunst nicht um das Rechthaben,<br />
sondernumdie ästhetische und intellektuelle<br />
Erfahrung ging, die er<br />
dadurch mitteilen konnte. Verglichen<br />
mit der Reflexhaftigkeit und<br />
Destruktivität heutiger Diskurse ist<br />
dieses mäandernde Tasten geradezu<br />
ein utopischer Ansatz.<br />
Theodor Fontane: Theaterkritik 1870–1894,<br />
Große BrandenburgerAusgabe, vier Bände, 3104<br />
Seiten, Aufbau Verlag,Berlin 2018, 180 Euro<br />
PetraKohse<br />
versteht Theaterkritik immer<br />
als Spiegel der Zeit<br />
Die Beschreibung von Realität kann helfen, sie zu verändern<br />
Zum 80. Geburtstag des italienischen Schriftstellers Claudio Magris, der als einer der ersten die Parole „Mitteleuropa“ ausgab<br />
VonArnoWidmann<br />
Claudio Magris wurde vor 80Jahren<br />
inTriest geboren. 1963 erschien<br />
sein Buch über den „Habsburg-Mythos<br />
in der modernen österreichischen<br />
Literatur“. Es war seine<br />
Dissertation und hat dennoch Epoche<br />
gemacht. Nicht nur, weil er zu<br />
den ersten gehörte,die Mitteleuropa<br />
und die Rolle des Judentums darin<br />
wiederentdeckten. Er hatte, wohl<br />
ohne es zu wissen, beim Blick in die<br />
Vergangenheit einen in die Zukunft<br />
getan.<br />
„Mitteleuropa“ wurde bald danach<br />
zu einer zentralen Parole.Intellektuelle<br />
in Ungarn, der Tschechoslowakei<br />
und Polen benutzten sie,<br />
um daran zu erinnern, dass sie keineswegs<br />
zu Osteuropa zählten. Es<br />
ging um eine Revision der in Ostund<br />
West zweigeteilten Welt.<br />
Claudio Magris hatte mit seiner<br />
germanistischen Abhandlung nichts<br />
dergleichen beabsichtigt. Aber er<br />
machte die Erfahrung, dass die Beschreibung<br />
einer Realität helfen<br />
kann, sie zu verändern. Das war<br />
nicht angelesen, sondern an sich<br />
selbst, an dem, was er dachte und<br />
fühlte,erlebt.<br />
Er sei Triestiner, da sei es ihm<br />
quasi in die Wiege gelegt worden,<br />
über den Tellerrand des Ost-West-<br />
Konflikts hinauszusehen, wird oft<br />
gesagt. Die Bürger des geteilten<br />
Deutschland fragen sich da allerdings,<br />
wieso keinem von ihnen das<br />
nicht einmal in zartesten Ansätzen<br />
so gut gelang wie Claudio Magris.<br />
Wenn man darüber nachdenkt, zeigt<br />
sein Fall, wie wichtig nicht nur das<br />
Timing, sondern auch das Standing<br />
ist. Der Standort, von dem aus man<br />
in die Welt blickt, prägt das Weltbild.<br />
Mit Nähe ist nichts und mit Distanz<br />
ist auch nichts gewonnen. Es kommt<br />
auf das Verhältnis von beidem zu<br />
dem Gefühls- und Verstandslebens<br />
dessen an, der versucht, über den<br />
Tellerrand des Status quo zu blicken.<br />
Triest allein hätte nicht genügt. Es<br />
bedurfte auch eines Claudio Magris.<br />
Zeigt, wie man Ich wird, indem man das Du einlässt: der Triestiner Claudio Magris.<br />
Er schrieb eines der schönsten<br />
Bücher über Mitteleuropa, das jemals<br />
geschrieben wurde: sein Buch<br />
über die Donau, Sachbuch und Roman<br />
in einem. Spätestens von daan<br />
(1986) war Claudio Magris kein Germanist<br />
mehr, der auch Erzählungen<br />
DPA<br />
schrieb, sondern einer der unsere<br />
Welt prägenden Autoren.<br />
Das Verhältnis von Realität und<br />
Fiktion interessierte ihn von Anfang<br />
an. Viele Jahre lang nur als Wissenschaftler.<br />
Seit Jahrzehnten inzwischen<br />
auch als Autor.Seinem neues-<br />
ten Roman „Verfahren eingestellt“,<br />
der 2017 im Carl Hanser Verlag erschien,<br />
ist eine Betrachtung beigefügt,<br />
in der er klarstellt, dass sein Roman<br />
über einen Mann, der sein Leben<br />
lang für ein zu schaffendes<br />
„Kriegsmuseum für den Frieden“<br />
Waffen kaufte,ein reales Vorbild hat:<br />
Diego de Henriquez (1909–1974).<br />
Sein Museum gibt es. Heute hat es<br />
seit 10 Uhrgeöffnet. Magris schreibt,<br />
ohne diesen Mann hätte es seinen<br />
Roman niemals gegeben, aber zugleich<br />
ist der ohne diese Realität undenkbare<br />
Held seines Romanes<br />
gänzlich erfunden. DieWirklichkeit,<br />
ihre erfindungsreiche Beschreibung<br />
und ihreVeränderung, das ist ein von<br />
Claudio Magris immer wieder beschworener<br />
Zusammenhang. Wer<br />
schreibt, entkommt ihm nicht.<br />
An einer anderen Stelle des Romans<br />
heißt es: „‚Papa, wer ist ich?'<br />
‚Das bist du’, antwortete er mir.“ Wo<br />
Es ist, muss ich Ich werden, schrieb<br />
Freud.Jedes Du dem Icheinzuverleiben<br />
–das ist die Arbeit des Autors.<br />
„Madame Bovary bin ich“, sagte<br />
Flaubert. Das Kind, das wissen will,<br />
wer ich ist und erfahren muss, dass<br />
du ich ist, ist verwirrt, fühlt sich unwohl.<br />
Ein dummes Kind, wie die<br />
meisten von uns, wird sich einfach<br />
daran gewöhnen, dass die anderen<br />
du zu meinem Ich sagen. Und es<br />
wird lernen, selbst du zu sagen zu<br />
den anderen Ichs.<br />
Ein Kind, das klug ist und sich<br />
weigert, die Spiele, die es nicht<br />
durchschaut, einfach mitzuspielen,<br />
wird in immer neuen Dus immer<br />
neue Seiten seiner selbst entdecken.<br />
Wirbeginnen zu ahnen, wie mühsam<br />
es für jeden von uns ist, ein Ich<br />
zu sein. Claudio Magris zeigt uns,<br />
wie man das macht und wie man<br />
dieses Ichimmer größer,immer umfassender<br />
werden lässt. Nichtindem<br />
man es aufbläst, sondern indem<br />
man immer mehr Duseinlässt. Auch<br />
darum wünschen wir ihm nicht nur<br />
alles Gute zum Geburtstag, sondern<br />
auch noch viele neue Bücher. Zur<br />
Pflege unserer Selbste.