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Berliner Zeitung 24.04.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 94 · M ittwoch, 24. April 2019 – S eite 9 *<br />

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Berlin<br />

Weniger Bäcker,<br />

weniger Fleischer:<br />

Handwerk im Wandel<br />

Seite 14<br />

Rein pflanzlich: An der TU gibt es jetzt die erste veganeMensa Seite 12<br />

Oft unverständlich: Auch Mediziner kapitulieren vor Arztbriefen Seite 17<br />

Stadtbild<br />

Blind-Sprint<br />

zur Bahn<br />

Torsten Landsberg<br />

findet Rennen über die rote<br />

Ampel uncool.<br />

Das ging ja schnell. Just nach den<br />

Feiertagen, an denen Berlin<br />

trotz aller Besucher so herrlich verlassen<br />

und leger wirkte, kehren unmittelbar<br />

die hektisch-aktionistischen<br />

Rituale des Alltags zurück.<br />

Während zwei Schulkinder, inihren<br />

Ferien mutmaßlich auf dem Weg<br />

zum ersten Eis des Tages, ander roten<br />

Ampel warten, hasten zwei Erwachsene<br />

eilig herüber, weil sich<br />

eine Straßenbahn ankündigt.<br />

Über eine rote Ampel zu laufen,<br />

kann eine Nebenwirkung des Herdentriebs<br />

sein. Die junge Frau stand<br />

geduldig am Straßenrand, zögerte<br />

selbst noch, als der Mann ansatzlos<br />

startete, ihr innerer Zwist war offensichtlich,<br />

bis sie sich nun endlich an<br />

ihn dranhängt. Es wäre ein netter<br />

Konsens, jederzeit bei Rot über die<br />

Straße zu gehen, nur eben dann<br />

nicht, wenn Kinder daneben oder<br />

gegenüber stehen.<br />

In der Realität fällt diese Entscheidung<br />

davon unabhängig, dass die<br />

nächste Bahn nur drei Minuten später<br />

kommt. Das Phänomen, in darwinistischem<br />

Selbstverständnis jedes<br />

öffentliche Fortbewegungsmittel<br />

umgehend erreichen zu müssen, obwohl<br />

es nicht das letzte vor dem Betriebsschluss<br />

ist, bleibt eines der<br />

größten Mysterien in einer Stadt, die<br />

ihreAnziehungskraft doch vorallem<br />

aus ihrer angeblichen Gelassenheit<br />

zieht.<br />

Dem Ziel, ein Verkehrsmittel zu<br />

erreichen, ist alles unterzuordnen:<br />

die eigene scheinbare Coolness und<br />

so ziemlich jede Umsicht. Aussteigende<br />

Menschen fallen dem Tunnelblick<br />

der Heraneilenden zum Opfer,<br />

die drängelnd eine Schneise schlagen<br />

–denn jetzt, in diesem Moment,<br />

gibt es auf dieser Welt nichts Wichtigeres,als<br />

diese Bahn oder diesen Bus<br />

zu erreichen. Undkeine wichtigeren<br />

Menschen, als eben jene mit diesem<br />

Vorsatz.<br />

DieThese,wonach es sich um Zugezogene<br />

handelt, die aus ihren Heimatdörfern<br />

gewohnt sind, dass der<br />

Bus nur zweimal am Tagfährt, greift<br />

vermutlich zu kurz. Ihr Verhalten<br />

passt jedenfalls so gar nicht zum lockeren<br />

Berlin. Es ist ein Trugschluss,<br />

Stress und Hektik allein auf das Konzept<br />

der Großstadt zu schieben. Es<br />

sind die Menschen jedweder Couleur,<br />

die sich hetzen, als würden sie<br />

zu spät zur Verteilung rationierter<br />

Essensvorräte kommen.<br />

Manche vonihnen grinsen triumphal<br />

über ihre rechtzeitig in die sich<br />

schließende Bahntür gestellten<br />

Füße,nicht ahnend, wie fürchterlich<br />

angestrengt sie bei ihrem Sprint<br />

dorthin ausgesehen haben.<br />

Kommt die Bahn, kommt Hektik auf –und<br />

Regeln gelten nichts mehr. BLZ/MARKUS WÄCHTER<br />

Ernste Themen beim satirischen Umzug der Hedonistischen Internationalen durch den Grunewald am 1. Mai 2018<br />

Zug durch’sVillenviertel<br />

Am 1. Maiveranstalten linke Aktionsgruppenein Bürgerfest in Grunewald. DiePolizeiist in Alarmbereitschaft<br />

VonStefan Strauß<br />

Bei so viel Satirefällt die Orientierung<br />

schwer: Das<br />

Quartiersmanagement<br />

Grunewald –gibt es natürlich<br />

nicht in einer solchen Gegend! –<br />

lädt am 1. Mai zum Bürgerfest nach<br />

Grunewald ein, also in das Villenviertel<br />

wohlhabender <strong>Berliner</strong>. Unter<br />

dem Motto „Miteinander gegen ein<br />

Gegeneinander im Grunewald“ wollen<br />

die Demonstranten mit den Bewohnern<br />

ins Gespräch kommen –<br />

und auch mit „jungen Randalierern“,<br />

die womöglich die 1. Mai-Randale<br />

von Kreuzberg nach Grunewald verlegen<br />

wollen. Zu Ausschreitungen soll<br />

es aber nicht kommen: „Burn Bratwurst<br />

–not Porsches!“, lautet die Parole<br />

des Bürgerfestes.<br />

Bereits zum zweiten Mal rufen<br />

Künstler und Aktionsgruppen wie<br />

Hedonistische Internationale und<br />

Bergpartei auf, am 1. Mai durch den<br />

Grunewald zu ziehen, denn:„Woeine<br />

Villa ist, ist auch ein Weg.“ Im „sozial<br />

abgehängten Bezirk“, so die Veranstalter,<br />

sollen „Begegnungszonen“<br />

eingerichtet werden. „Wir lernen aus<br />

Kreuzberg und befrieden die Mai-<br />

Krawalle mit einem friedlichen Bürgerfest:<br />

My Gruni“, sagt RobertRating<br />

von der Chanson-Punk-Band The<br />

Incredible Herrengedeck. Bei der<br />

Demo, die um 13 Uhr amS-Bahnhof<br />

Grunewald startet, wird es ganz<br />

ernsthaft um wichtige soziale Fragen<br />

gehen: umVerteilungskämpfe,Reichtum,<br />

Armut, steigende Mieten, um<br />

Parallelgesellschaften und die „zunehmende<br />

Abschottung der Wohlhabenden“,<br />

sagt Rating. Mit Bands und<br />

elektronischer Tanzmusik von Lautsprecherwagen<br />

wollen die Demonstranten<br />

mit Perücken, lustigen Klamotten<br />

und Transparenten durch die<br />

Straßen gehen. „Mag der Wunsch<br />

nach Enteignung, Besetzung und<br />

umfassende Umverteilung auch<br />

noch so legitim sein, der Protest<br />

muss, kann und soll friedlich geäußertwerden“,<br />

sagt Rating.<br />

„Wir gehen bis an die Speckgürtel<br />

dieser Welt, um die sozialen Unterschiede<br />

sichtbar zu machen.“<br />

RobertRating, MyGruni-Mitorganisator und Mitglied der BandThe Incredible Herrengedeck<br />

Damit reagieren die Veranstalter<br />

auf die Ereignisse im Vorjahr. Beim<br />

Umzug durch Grunewald wurden<br />

mehrere Autos, Hauswände, Zäune<br />

und Stromverteilerkästen beschädigt.<br />

Die Polizei registrierte 68 Sachbeschädigungen<br />

und hatte die Situation<br />

falsch eingeschätzt: Angemeldet<br />

waren etwa 200 Teilnehmer, gekommen<br />

sind 3000, die Organisatoren<br />

schätzten sogar 5000 Teilnehmer.<br />

Das Myfest wird kleiner und politischer<br />

IMAGO/CHRISTIAN MANG<br />

Dieses Jahr wirddie Polizei die Demo<br />

„personell stärker“ begleiten, sagte<br />

ein Polizeisprecher. „Sollten unter<br />

dem Deckmantel der Demonstration<br />

Straftaten begangen werden, werden<br />

wirsie verhindern.“<br />

Wegen der Spaß-Demo gab es<br />

auch Streit im Bezirksparlament<br />

Charlottenburg-Wilmersdorf. FDP<br />

und CDU wollten, dass sich alle Parteien<br />

vorab von linksradikalen Straftätern<br />

distanzieren. „Unfassbar“,<br />

kommentierte Niklas Schenker von<br />

der Linksfraktion diese Forderung.<br />

Linke und Grüne lehnten den Antrag<br />

ab,die SPDstimmte zu.<br />

Am 1. Mai wollte auch die FDP<br />

durch Grunewald ziehen. Der Abgeordnete<br />

Marcel Luthe hatte in seinem<br />

Wahlkreis eine Demo „Nie wieder Sozialismus“<br />

angemeldet, sie aber am<br />

Dienstag zurückgezogen, „in Anbetracht<br />

der zu erwartenden extremen<br />

Belastungder Polizei an diesem Tag“.<br />

Stefan Strauß interpretiert<br />

Satire als Zusammenspiel<br />

vonKritik und Unterhaltung.<br />

„Revolutionäre 1. Mai Demo“ soll durch Friedrichshain ziehen. Der Görlitzer Park bleibt eine partyfreie Zone<br />

VonStefan Strauß<br />

Wer am 1. Mai diesen Jahres nur<br />

zum Feiern nach Kreuzberg<br />

geht, wirdenttäuscht sein. Denn das<br />

Straßenfest rund um die Oranienstraße<br />

wird im16. Jahr seines Bestehens<br />

viel leiser, kleiner und politischer<br />

sein als in den Jahren zuvor.So<br />

haben es sich die Anwohner in einer<br />

Befragung von 5000 Haushalten gewünscht,<br />

und so haben es Bezirkund<br />

Veranstalter nun auch festgelegt. Die<br />

meisten Bewohner sind nicht gegen<br />

das Straßenfest, sie wollen es nur<br />

kiezbezogener und weniger kommerziell.<br />

Voneinem „Wandel“ spricht Bezirksbürgermeisterin<br />

Monika Herrmann<br />

(Grüne) und kündigt an, dass<br />

Polizei und Ordnungsamt konsequenter<br />

und früher als bisher gegen<br />

unerlaubten Getränkeverkauf und<br />

Straßenpartys mit lauter Musik vorgehen<br />

wird. „Wir werden massiv stören“,<br />

sagt Monika Herrmann.<br />

Beim Myfest wird esstatt sechs<br />

nur noch vier Bühnen geben. Ab 20<br />

Uhr wird die Musik dort leiser gestellt,<br />

um 21 Uhr ist das Straßenfest<br />

beendet. Auf den Bühnen soll es neben<br />

Hip-Hop, Hardcore, Punk sowie<br />

türkischer und kurdischer Musik um<br />

wichtige politische Themen gehen:<br />

Verdrängung, Obdachlosigkeit, Antirassismus<br />

und selbstbestimmtes Leben.<br />

Auf jeder Bühne sind mindestens<br />

zwei Stunden für politische Redebeiträge<br />

eingeplant. Lokale Vereine<br />

werden stärker einbezogen.<br />

Die Polizei kündigt an, auf dem<br />

Myfest keine oder nur wenige Polizisten<br />

einzusetzen. Zudem werden<br />

mehr Toiletten aufgestellt.<br />

Zu den Veränderungen in diesem<br />

Jahr gehört auch, dass das Myfest<br />

nicht erneut bis in den Görlitzer Park<br />

ausgeweitet wird. Das Bühnenprogramm<br />

mit elektronischer Musik<br />

war beim MyGörli im Vorjahr zwar<br />

gut besucht, und viele Menschen saßen<br />

auf der Wiese,doch später lehnten<br />

die Anwohner eine weitereParty<br />

am 1. MaiimGörlitzer Park ab.<br />

In diesem Jahr lautet das Motto<br />

deshalb: ein ganz normaler Tagim<br />

Park. Das Gelände wird zur „partyfreien<br />

Entspannungszone“, teilt das<br />

Bezirksamt mit. Um illegale Partys zu<br />

verhindern, ist es am 1. Mainicht erlaubt,<br />

Glasflaschen, Getränkedosen,<br />

Grills und Musikanlagen in den Görlitzer<br />

Park mitzubringen.<br />

Auch die „Revolutionäre 1. Mai<br />

Demo“ will in diesem Jahr neue<br />

Wege gehen. Die Route soll nicht<br />

mehr durch Kreuzbergund Neukölln<br />

führen, sondern durch die Rigaer<br />

Straße in Friedrichshain.<br />

Wegen des ausufernden Straßenfestes<br />

mit Zehntausenden Partybesuchern<br />

sei Kreuzberg für die Demonstration<br />

nicht mehr geeignet,<br />

teilen die Organisatoren mit. Unter<br />

dem Motto „Gegen die Stadt der Reichen“<br />

wollen die Teilnehmer für eine<br />

Gesellschaft ohne Gefängnisse, für<br />

eine Gesellschaft ohne Miete, ohne<br />

Kapitalismus und ohne Lohnarbeit<br />

protestieren.<br />

NACHRICHTEN<br />

Laschet gegen Umzug aller<br />

Ministerien nach Berlin<br />

Auch 25 Jahrenach Unterzeichnung<br />

des Berlin/Bonn-Gesetzes lehnt<br />

Nordrhein-Westfalen eine Verlagerung<br />

aller Ministerien in die Hauptstadt<br />

vehement ab.„Berlin ist doch<br />

schon heute völlig überhitzt und<br />

überfordertund kämpft um bezahlbaren<br />

Wohnraum“, sagte NRW-Ministerpräsident<br />

Armin Laschet<br />

(CDU). „Welchen Sinn soll es machen,<br />

jetzt noch Tausende Beamte<br />

und ihreFamilien mit Milliarden-<br />

Kosten nach Berlin umzusiedeln?“<br />

An diesem Freitag ist es 25 Jahreher,<br />

seit das Berlin/Bonn-Gesetz verabschiedet<br />

wurde. (dpa)<br />

Andere Großstädter<br />

verdienen mehr<br />

DasEinkommensniveau in Berlin ist<br />

seit dem Jahr 2000 etwas gestiegen.<br />

Dennoch liegen die Hauptstädter<br />

weiter hinter den Einwohnernandererdeutscher<br />

Großstädte.Nach den<br />

jüngsten Zahlen für 2016 belegte Berlin<br />

unter den 15 größten Städten Rang<br />

elf. Dasgehtaus einer Untersuchung<br />

desWirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen<br />

Instituts der gewerkschaftsnahen<br />

Hans-Böckler-Stiftung<br />

hervor. Dasdurchschnittliche verfügbareEinkommen<br />

–also das GeldprivaterHaushalte<br />

für Konsum oder<br />

Sparen –lag in Berlin demnach bei<br />

19 719 Euro.München führtdie Liste<br />

mit 29 685 Euro an. (dpa)<br />

Bislang keine <strong>Berliner</strong><br />

unter den OpferninSri Lanka<br />

Nach bisherigen Erkenntnissen sind<br />

nach Angaben vonJustizsenator<br />

Dirk Behrendt (Grüne) keine <strong>Berliner</strong><br />

vonden Terrorattacken in Sri<br />

Lanka betroffen. Dastwitterte der<br />

Politiker am Dienstag. Beiden Anschlägen<br />

waren am Ostersonntag<br />

mehr als 320 Menschen gestorben.<br />

Behrendt verwies auf die Zentrale<br />

Anlaufstelle,die für Fragen weiter<br />

von9bis 15 Uhrunter der Telefonnummer<br />

030/90133150 zur Verfügung<br />

stehe. (dpa)<br />

Hinhören und aufnehmen:<br />

Nachtigall-Gesänge gesucht<br />

Singt die Nachtigall in Dialekten?<br />

Diese Frage wollen Wissenschaftler<br />

des Naturkundemuseums mit Hilfe<br />

vonBürgernenträtseln. Dasteilte<br />

das Museum am Dienstag mit. Interessenten<br />

sind nun eingeladen, den<br />

Gesang der Vögel in ihrer Umgebung<br />

aufzunehmen und mit der kostenlosen<br />

App„Naturblick“ an die Datenbank<br />

des Projekts „Forschungsfall<br />

Nachtigall“ zu leiten. Bereits 2018<br />

haben mehr als 1100 <strong>Berliner</strong> die<br />

Liebeslieder der Hauptstadt-Nachtigallen<br />

dokumentiert. (dpa)<br />

Sie hat den Wurm:InBerlin gibt es etwa<br />

1500 Nachtigallen-Reviere. IMAGO/R.MARTIN

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