Berliner Zeitung 21.05.2019
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 116 · D ienstag, 21. Mai 2019 3 *<br />
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Seite 3<br />
Der füllige Wirt hinter dem Tresen<br />
der „Mini Bar“ streicht mit dem<br />
Zeigefinger über ein Glasregal.<br />
„Da, heute Morgen erst habe ich<br />
gewischt“, sagt er.„Jetzt ist er wieder da.“ An<br />
seinem Finger klebt eine dicke Schicht gräulich-roter<br />
Staub. Keine 300 Meter entfernt<br />
türmen sich die Mineralien- und Kohlehalden<br />
der Ilva, des größten Stahlwerks Europas.Wenn<br />
der Wind aus Richtung Ilva weht,<br />
müssen die Leute in Tarents Stadtteil Tamburi<br />
ständig wischen, sagt der Wirt. Der rote<br />
Staub bedeckt die Autos, dringt in die Wohnungen,<br />
setzt sich in allen Ritzen ab. Aber<br />
das ist noch das kleinste Übel.<br />
Gegenüber der Espresso-Bar, inder Kirche<br />
Gesù Divin Lavoratore –„Jesus, Göttlicher<br />
Arbeiter“ –läuten jeden Tagzweimal die<br />
Glocken für einen Trauer-Gottesdienst, erzählen<br />
Anwohner. Und in den übrigen drei<br />
Kirchen der Siedlung sei das auch so. Nicht<br />
nur im Arbeiterviertel Tamburisterben mehr<br />
Leute als andernorts in Italien. DieganzeHafenstadt<br />
Tarent mit ihren 200 000 Einwohnernhat<br />
eine erhöhte Sterblichkeitsrate.Das<br />
ist durch Studien belegt. DieMenschen sterben<br />
an Lungenkrebs,Leukämie und anderen<br />
bösartigen Tumoren oder an Herz-Kreislauferkrankungen.<br />
Es hat mit dem Staub, dem Dioxin, polyzyklischen<br />
Kohlenwasserstoffen und den<br />
Schwermetallen zu tun, mit denen das Ilva-<br />
Werk die Stadt vergiftet. Besonders gefährdet<br />
sind Kinder. Das Nationale Gesundheitsinstitut<br />
hat festgestellt, dass sie in Tarent 54<br />
Prozent häufiger Krebs bekommen als in anderen<br />
Gegenden Apuliens. Bekannt ist der<br />
Umwelt-Skandal seit fast eineinhalb Jahrzehnten.<br />
Passiertist so gut wie nichts.<br />
Im Januar hat der europäische Menschenrechtsgerichtshof<br />
Italien verurteilt,<br />
weil es die Bevölkerung rund um das Ilva-<br />
Werk nicht ausreichend schützt. DieProtestbewegung<br />
Fünf Sterne hatte jahrelang versprochen,<br />
die Dreckschleuder zu schließen.<br />
Aber jetzt regieren die Fünf Sterne Italien,<br />
und Ilva produziertwie eh und je.<br />
Dasriesige Stahlwerkwar Anfang der 60er-<br />
Jahre eingeweiht worden, um den armen,<br />
bäuerlichen Süden Italiens zu industrialisieren.<br />
Heute bedeckt es eine Fläche von15Quadratkilometern,<br />
ist zweieinhalb Mal sogroß<br />
wie Tarent. Auch Ölraffinerien wurden gebaut.Vonden<br />
Hügeln des Nationalparks Terra<br />
delle Gravine sind die Schlote, Schornsteine<br />
und Rauchwolken, die Hochöfen, Koksereien<br />
und Verladekräne schon aus mehr als 20 Kilometer<br />
Entfernung zu sehen. Wieeine düstere<br />
Armee von Riesen stehen sie in der grünen<br />
Ebene Apuliens. Sie brachten Stadt und Region<br />
Arbeit und Brot. Mehr als 10 000 Menschen<br />
sind heute bei Ilva beschäftigt, noch<br />
einmal so viele bei den vielen Zulieferern.<br />
Aber schon lange ist bekannt, dass die Stahlindustrie<br />
auch Tausenden den Todbrachte<br />
und bringt. Es ist ein Dilemma.<br />
Dergiftige Staub<br />
„Wir nennen die Ilva das Monster“, erzählen<br />
die Männer,die am Tresen der „Mini Bar“ ihren<br />
Espresso im Stehen trinken. Der Wirt<br />
sagt, er frage seine Gäste schon gar nicht<br />
mehr,wie es so geht. Fast jeder in Tarent hat<br />
einen Krebs- oder Todesfall in der Familie zu<br />
beklagen.<br />
Viele Jalousien in Tamburi sind ständig<br />
geschlossen, die Bewohner weggezogen.<br />
Raffaele La Gioia führtinden fast ausgestorbenen<br />
Straßen des Viertels seinen Hund aus.<br />
Er lebt seit 25 Jahren in der ViaLisippo,ineinem<br />
der Häuser direkt neben dem Ilva-<br />
Zaun.Vorseinen Fensternragen seit ein paar<br />
Monaten zwei riesige Tonnendächer auf,<br />
groß wie Bahnhofshallen und mehr als 70<br />
Meter hoch. Siewurden gebaut, um Umweltauflagen<br />
zu erfüllen, und sollen verhindern,<br />
dass weiter Staub vonden Halden weht. Völlig<br />
nutzlos seien sie,sagt La Gioia. Derhagere<br />
51-Jährige hat zwei Jahrzehnte lang auf dem<br />
Ilva-Gelände gearbeitet. Jetzt ist er arbeitslos<br />
und hat ein Atemwegsleiden. Aber eine andere<br />
Wohnung, weit weg von Ilva und dem<br />
Staub,kann er sich nicht leisten.<br />
Bei der Parlamentswahl 2018 stimmte er<br />
wie so viele andere inTarent für die Fünf<br />
Sterne. Die Politik hatte stets dafür gesorgt,<br />
dass die Ilva-Produktion trotz der Gesundheitsgefahren<br />
weiterlaufen konnte. 2012 erließ<br />
die damalige Regierung eigens ein Ilva-<br />
Rettungsdekret, um die von der Staatsanwaltschaft<br />
verfügte Sperrung der Anlagen<br />
aufzuheben. Die Fünf Sterne dagegen versprachen<br />
Tarent eine saubere Zukunft ohne<br />
Ilva. Alle Arbeiter würden für einen umweltgerechten<br />
Rückbau des Werks umgeschult<br />
und weiter beschäftigt, sagte ihr Spitzenkandidat<br />
Luigi di Maio im Wahlkampf. Die Fünf<br />
Sterne bekamen in Tarent fast 50 Prozent.<br />
Jetzt ist Di Maio seit einem Jahr Vize-Premier<br />
und als Minister für Wirtschaftsentwicklung<br />
auch für Ilva zuständig. Statt dasWerk zu<br />
schließen oder zurückzubauen, wurde es an<br />
den französisch-indischen Stahlkonzern ArcelorMittal<br />
verpachtet. Die Schlote rauchen<br />
Protest vor den Toren des Stahlwerks Ilva Anfang Mai in Tarent<br />
Das Monster<br />
Europas größtes Stahlwerk bedroht im<br />
süditalienischen Tarent das Leben der<br />
Bewohner.Die Krebsrate ist dort stark erhöht<br />
–vor allem Kinder erkranken.<br />
Fünf-Sterne-Politiker,die in Italien<br />
mitregieren, hatten versprochen, das Werk zu<br />
schließen. Doch die Schlote rauchen weiter<br />
weiter.„Vonwegen Regierung des Wandels“,<br />
schimpft Raffaele La Gioa, „die Fünf Sterne<br />
sind genau wie alle anderen.“ Siewaren seine<br />
letzte Hoffnung. Bei der Europawahl wird er<br />
zu Hause bleiben, sagt er.<br />
Es gibt viele Wütende und Enttäuschte in<br />
Tarent. Carla Lucarelli und ihr Mann Angelo<br />
di Ponzio,ein Marine-Angestellter,haben einen<br />
Sohn wegen der Ilva-Gifte verloren. Giorgio,<br />
ein Junge mit dunkelblonden Locken<br />
und fröhlichem Lachen, starb im Januar an<br />
einem Weichteilsarkom, einer seltenen<br />
Krebsart, die durch Dioxin verursacht wird.<br />
Er war 15 Jahrealt. DieFamilie hat nicht weit<br />
vonTamburigelebt, im Stadtteil Paolo Sesto.<br />
Inzwischen ist sie in eine neue Wohnung gezogen,<br />
zwanzig Autominuten entfernt. Um<br />
ihre beiden anderen Söhne zu schützen, die<br />
elf und 17 sind, sagt Carla. DasWohnzimmer<br />
ist noch immer nicht richtig eingerichtet,<br />
nur ein Sofa steht darin.<br />
Ihre Zeit und Energie verwenden Carla<br />
und Angelo jetzt vor allem für ihr neues Lebensziel:<br />
Giorgios Leiden soll nicht umsonst<br />
gewesen sein, es soll sich endlich etwas ändern.<br />
Siehaben den Verein „Forever Giorgio“<br />
gegründet, der andere betroffene Familien<br />
unterstützt. Bei jeder Anti-Ilva-Demonstra-<br />
VonRegina Kerner,Tarent<br />
Rom<br />
Mittelmeer<br />
100 km<br />
ITALIEN<br />
Tarent<br />
Adria<br />
BLZ/TIEDGE<br />
tion stehen sie in der ersten Reihe.Sie tragen<br />
dann T-Shirts mit dem Foto ihres toten Sohnes.<br />
Carla war auch dabei, als Minister Di<br />
Maio Ende AprilinTarent Umwelt- und Bürgerinitiativen<br />
traf. DerFünf-Sterne-Chef behauptete<br />
da, er habe nie eine Schließung des<br />
Werksversprochen. „Eine lächerliche Lüge“,<br />
IMAGO IMAGES/VALERIA FERRARO<br />
ElterninTrauer:Carla Lucarelli und ihr Mann mit dem<br />
T-Shirt, das ihren toten Sohn Giorgio zeigt. R. KERNER<br />
schimpft Carla. Damals sagte sie beim Hinausgehen<br />
den zornigen Satz, sie werde di<br />
Maio erst die Hand reichen, wenn er seine<br />
Versprechungen wahr mache.Erwurde in allen<br />
italienischen Medien zitiert.<br />
Auch Alessandro Marescotti war bei dem<br />
Treffen. Dergraumelierte 61-Jährige in Jeans<br />
und Parka unterrichtet an einem technischen<br />
Gymnasium und ist ein stadtbekannter<br />
Anti-Ilva-Aktivist. Er war derjenige, der<br />
den Umweltskandal 2005 aufdeckte.Ineiner<br />
EU-Datenbank hatte er herausgefunden,<br />
dass die Dioxin-Werte in Tarent stark erhöht<br />
waren. Er ließ Lebensmittel aus der Region<br />
analysieren. Käse und Miesmuscheln waren<br />
bis zu elfmal stärker belastet als gesetzlich<br />
erlaubt. Marescotti brachte Ermittlungen<br />
der Staatsanwaltschaft in Gang, die schließlich<br />
in Anklagen gegen die früheren Besitzer<br />
mündeten, gegen die Industriellenfamilie<br />
Riva, die Milliarden in Steuerparadiese geschafft<br />
haben soll –ganz bewusst auf Kosten<br />
der Gesundheit der Menschen.<br />
Marescotti, ein ernster Mann, hat früher<br />
einmal mit den Fünf Sternen sympathisiert,<br />
erzählt er vor Unterrichtsbeginn im Schulhof.<br />
Heutewirft er ihnen Propaganda vor. Als<br />
sich Di Maio bei dem Treffen in Tarent damit<br />
brüstete,die Schadstoff-Emissionen der Ilva<br />
seien bereits um ein Fünftel zurückgegangen,<br />
widerlegte ihn Marescotti vorlaufenden<br />
Kameras.Ruhig trug er Datenvor,die das Gegenteil<br />
beweisen. Sie stammten unter anderem<br />
von der Internetseite von DiMaios Ministerium.<br />
Nichtnur in Tarent haben die Fünf Sterne<br />
viele ihrer früheren Unterstützer tief enttäuscht,<br />
sagt Marescotti. In Norditalien hatten<br />
sie den Baustopp einer Hochgeschwindigkeitsstrecke<br />
vonTurin nach Lyon versprochen,<br />
nahe Brindisi wollten sie den Baueiner<br />
Gaspipeline verhindern. Nichts davon haben<br />
sie wahr gemacht. In Umfragen sind sie<br />
mehr als zehn Prozentpunkte abgesackt, seit<br />
sie regieren. „Als Di Maio im April kam, waren<br />
Scharfschützen auf Tarents Dächern<br />
postiert, Helikopter kreisten. Im Wahlkampf<br />
hatte er noch in der begeisterten Menge gebadet“,<br />
erzählt Marescotti.<br />
Ganz anders sehen die Lage die „Freunde<br />
Beppe Grillos“ in ihrem Ladenbüro inTarents<br />
Innenstadt, wo Di Maio als lebensgroße<br />
Pappfigur im Schaufenster steht. Jeden<br />
Dienstag treffen sich hier Fünf-Sterne-<br />
Aktivisten. Sie sind zu siebt an diesem<br />
Abend, mehrere Rentner, ein Freiberufler.<br />
Ihre Namen wollen sie nicht nennen. „Man<br />
kann eine Fabrik nicht von einem auf den<br />
anderen Tagabreißen“,sagt einer vonihnen.<br />
„Di Maio hat immer gesagt, der Rückbau<br />
dauert viele Jahre.“ Man müsse ihm Zeit geben.<br />
Die„Freunde BeppeGrillos“ sind überzeugt<br />
davon, dass die Zustimmung für die<br />
Protestbewegung ungebrochen ist. „Die Unzufriedenen<br />
sind eine Minderheit. Hier kommen<br />
sogar Leute vorbei, um sich zu bedanken.“<br />
Schließlich hätten die Fünf Sterne dafür<br />
gesorgt, dass Arbeitslose und Bedürftige<br />
jetzt das „Bürgergeld“ bekommen.<br />
Die Arbeitslosigkeit in Tarent liegt bei 18<br />
Prozent. Trotz Ilva, trotz der Raffinerie, trotz<br />
des Hafens und eines Marine-Stützpunkts.<br />
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen findet<br />
keinen Job. Diehistorische Altstadt, auf einer<br />
Inselzwischendem Ionischen Meer und der<br />
Lagune„Mar Piccolo“, könnte ein Juwelsein.<br />
Aber sie ist entvölkert und verwahrlost. Die<br />
meisten Häuser sind einsturzgefährdet.<br />
Auch im neueren Stadtzentrum gibt es fast<br />
nur Billigläden.<br />
Als ArcelorMittal im vergangenen Herbst<br />
das Ilva-Werk übernahm, wurden 2600 Arbeiter<br />
entlassen. Der Stadtverordnete MassimoBattista<br />
war einer vonihnen. 21 Jahrelang<br />
war er Mechaniker bei Ilva. „Früher hat das<br />
Werk uns Wohlstand gebracht. Inzwischen<br />
sind die Hähne zugedreht“, sagt er. Neueinstellungen<br />
gibt es schon lange nicht mehr.<br />
Voller Wutvor der Europawahl<br />
Battista war für die Fünf Sterne ins Stadtparlament<br />
gewählt worden. Im Herbst ist er aus<br />
der Bewegung ausgetreten, aus Protest. Er<br />
sagt, die Regierung aus Fünf Sternen und<br />
rechter Lega sei schlimmer als alle Vorgänger.<br />
„Die waren wenigstens überzeugte Vertreter<br />
der Industrie und haben das getan,<br />
was man von ihnen erwarten konnte.“ Die<br />
Fünf Sterne sind gescheitert, glaubt Battista.<br />
Bei der Europawahl am Sonntag werden sie<br />
die Quittung bekommen, sagt er. Nicht nur<br />
in Tarent. Für die Stadt sieht er schwarz. Der<br />
Koloss Ilva arbeite seit fast 60 Jahren ununterbrochen,<br />
sagt Battista, 24 Stunden, Tagfür<br />
Tag. Die Anlagen seien völlig veraltet. Zwar<br />
hat sich ArcelorMittal verpflichtet, Teile davon<br />
zuerneuern, den Asbest zu entfernen,<br />
moderne Filter einzubauen. Aber bei laufendem<br />
Betrieb zu sanieren, das sei schlicht unmöglich.<br />
„Ein fahrendes Auto kann man<br />
auch nicht reparieren.“<br />
Und selbst wenn die Fünf Sterne ihr Versprechen<br />
doch wahr machen und das Werk<br />
stilllegen und zurückbauen wollten, so<br />
bräuchten dieMenschen in Tarent doch eine<br />
Alternative. Tourismus,Landwirtschaft, saubere<br />
Technologien zum Beispiel. „Aber die<br />
haben auch nach einem Jahr an der Regierung<br />
überhaupt keinen Plan und keine Zukunftsvision“,<br />
sagt Battista. Ein sotiefgreifender<br />
Strukturwandel würde mindestens 15<br />
Jahre dauern und viele Milliarden kosten.<br />
„Glauben die Fünf Sterne denn, dass sie so<br />
lange an der Regierung bleiben?“, sagt Battista<br />
kopfschüttelnd.<br />
Andere halten durch. Carla und ihr Mann<br />
Angelo etwa, die bei allen Demonstrationen<br />
in der ersten Reihe stehen. Oder der Wirt der<br />
„Mini Bar“, der vor ein paar Jahren gemeinsam<br />
mit einer italienischen TV-Moderatorin<br />
eine Spendenaktion startete. Erließ T-Shirts<br />
mit Dialekt-Sprüchen seiner Gäste drucken<br />
und verkaufte sie. Eine halbe Million Euro<br />
kam zusammen. Mitdem Geld ist eine Krebs-<br />
Station für Kinder eingerichtet worden. Die<br />
hatte es in Tarent bis dahin nicht gegeben.<br />
Regina Kerner war berührtvom Mut all<br />
der Menschen, die in Tarent gegendie<br />
trostlose Lageankämpfen.