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Berliner Zeitung 23.05.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 118 · D onnerstag, 23. Mai 2019 3· ·<br />

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Report<br />

„Dieses<br />

Grundgesetz, das<br />

nach Vollendung<br />

der Einheit und<br />

Freiheit<br />

Deutschlands für<br />

das gesamte<br />

deutsche Volk gilt,<br />

verliert seine<br />

Gültigkeit an dem<br />

Tage, an dem eine<br />

Verfassung in<br />

Kraft tritt, die von<br />

dem deutschen<br />

Volke in freier<br />

Entscheidung<br />

beschlossen<br />

worden ist.“<br />

Artikel 146<br />

Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit<br />

dienen.“ Enteignungen zum Wohle<br />

der Allgemeinheit und gegen Entschädigung<br />

sind zulässig (Artikel 14).„Grund und Boden,<br />

Naturschätze und Produktionsmittel können<br />

zum Zwecke der Vergesellschaftung<br />

durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der<br />

Entschädigung regelt, in Gemeineigentum<br />

oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft<br />

überführtwerden.“ (Artikel 15)<br />

Wir sehen, der Juso-Vorsitzende Kevin<br />

Kühnert hat vor seinem viel diskutierten<br />

Zeit-Interview einen Blick ins Grundgesetz<br />

geworfen, wohl im Unterschied zu zahlreichen<br />

seiner entrüsteten Kritiker.<br />

Mankann sich gut vorstellen, wie vorallem<br />

Union und FDP,aber auch ein großer Teil der<br />

veröffentlichten Meinung reagiert hätten,<br />

wenn diese Regelungen 1990 nicht schon im<br />

Grundgesetz gestanden, sondern von ostdeutschen<br />

Bürgerrechtlern, der PDS oder Sozialdemokraten<br />

neu eingebracht worden wären.<br />

Mitgroßer Sicherheit wären sie als sozialistischer<br />

Unfug zurückgewiesen worden. Der<br />

FDP-Chef Christian Lindner forderte denn<br />

auch aus Anlass der Debatte um die Äußerungen<br />

des Juso-Vorsitzenden, den Artikel 15 einfach<br />

aus dem Grundgesetz zu streichen. Er sei<br />

ein Verfassungsrelikt und passe nicht zur sozialen<br />

Marktwirtschaft.<br />

Geschichte und geltendes Recht<br />

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts,<br />

Andreas Voßkuhle, schreibt in seiner<br />

Einführung zu einem Standardwerk über das<br />

Grundgesetz, dass dies eben beides sei: „Geschichte<br />

wie geltendes Recht“. Seine Lektüre<br />

verlange zwar stets den aktualisierenden<br />

Blick des Rechtsanwenders,„er darf die historischen<br />

Hintergründe und Bedingtheiten<br />

des Textes bei der Auslegung aber nicht völlig<br />

ignorieren. Erst aus der Distanz werden die<br />

normativen Leitlinien unserer Verfassung<br />

vollständig sichtbar und verständlich.“ Es<br />

klingt wie ein kritischer Kommentar zu<br />

Überlegungen wie denen vonLindner.<br />

An anderer Stelle merktVoßkuhle an: „Für<br />

die frühe Bundesrepublik eher untypisch war,<br />

dass sowohl im Verfassungskonvent wie im<br />

Parlamentarischen Rat die überwiegende<br />

Zahl der Teilnehmer dem Nationalsozialismus<br />

distanziert bis ablehnend gegenübergestanden<br />

hatte.“ Unter diesen war in den Jahrennachdem<br />

Kriegunstrittig, dass das deutsche<br />

Großkapital zur Machtübernahme Adolf<br />

Hitlers beigetragen hatte. Deshalb sollte der<br />

Einfluss des Großkapitalsinder neuenRepublik<br />

eingehegt werden. Sogab es in der CDU<br />

bedeutende Anhänger eines christlichen Sozialismusund<br />

einer„Wirtschaftsdemokratie“,<br />

darunter Jakob Kaiser,der dem Parlamentarischen<br />

Rat als <strong>Berliner</strong> Abgeordneter angehörte.Sie<br />

setzten gemeinsam mit den Sozialdemokraten<br />

und Kommunisten durch, dass<br />

das Grundgesetz die Vergesellschaftung von<br />

Grund und Boden und Produktionsmitteln<br />

ermöglicht, wenn sie nicht zumWohleder Allgemeinheit<br />

oder gar gegen deren Interessen<br />

eingesetzt werden.<br />

Diejenigen Ostdeutschen, die nach der<br />

friedlichen Revolution für eine zuerst eigenständige<br />

DDR auf dem Wegzur deutschen<br />

Einheit eintraten, konnten im Gründungsdokument<br />

des anderen deutschen Staates<br />

also immerhin Elemente entdecken, die<br />

auch im Verfassungsentwurfdes Runden Tisches<br />

zu finden waren –zum Teil sogar aus<br />

dem Grundgesetz oder aus der Weimarer<br />

Verfassung entlehnt.<br />

Dashängt mit dem Geist zusammen, aus<br />

dem das Grundgesetz in jenen Nachkriegsjahren<br />

entstanden ist, in denen das Denken<br />

und Empfinden der Menschen in ganz<br />

Deutschland noch sehr gleich war.Ebendeshalb<br />

standen viele Politiker und BürgerWestdeutschlands<br />

der von den Westalliierten<br />

1948 geforderten neuen Verfassung anfangs<br />

skeptisch bis ablehnend gegenüber. Die damit<br />

verbundene Schaffung eines westdeutschen<br />

Teilstaates schien vielen unvorstellbar.<br />

Außerdem beherrschten ganz andere Themen<br />

den Alltag: Währungsreform, Berlin-<br />

Blockade, die Mühen des Wiederaufbaus eines<br />

zerstörten Landes. Wen interessierte da<br />

eine neueVerfassung? DieStimmung war ein<br />

wenig vergleichbar mit jener 1989/1990 in<br />

der DDR, als das Leben der Menschen auch<br />

von ganz anderen, fast täglich neuen Herausforderungen<br />

geprägt war.<br />

Es macht die Stärke des Grundgesetzes<br />

aus,dass es sich seine praktisch unbestrittene<br />

Legitimität zweimal, nach 1949 und nach<br />

1989, erarbeitet hat. Undsoist ausdem provisorischen<br />

Bonner Grundgesetz nach 70 Jahren<br />

trotz der Mängel im Einigungsprozess<br />

eben doch eine haltbaregesamtdeutscheVerfassung<br />

geworden, in der sich auch die Ostdeutschen<br />

zu Hausefühlen können.<br />

Holger Schmale<br />

hat in den Neunzigerjahren viel über<br />

die Einheitsdebatten berichtet.

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