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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 137 · M ontag, 17. Juni 2019 – S eite 9 *<br />
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Berlin<br />
Blindgänger<br />
bleiben eine akute<br />
Gefahr in Berlin<br />
Seite 12<br />
Der legendäre Club der Visionaere ist abgebrannt Seite 11<br />
Freie Kunstszene wird nun auch in Treptow verdrängt Seite 14<br />
Stadtbild<br />
Lauras<br />
Geschichte<br />
BarbaraWeitzel<br />
erzählt vomwichtigsten<br />
Satz: „Du kannst nichts<br />
falsch machen.“<br />
ImSeptember schrieb ich an dieser<br />
Stelle einen Text über ein mutiges<br />
Mädchen. Viele werden sich erinnern:<br />
Laura, die in Wirklichkeit anders<br />
heißt, wurde in der U-Bahn von<br />
einem Mann belästigt. Er legte seine<br />
Hand an ihren Oberschenkel. Laura<br />
sprang auf und schrie: „Fassen Sie<br />
mich nicht an, ich bin 13 Jahre alt!“<br />
Fahrgäste kamen herbei, BVG-Sicherheitsleute<br />
überwältigten den<br />
Mann, die Polizei brachte Laura<br />
nach Hause.ImAuto musste sie weinen.<br />
Dafür schämte sie sich. Kurz.An<br />
die Stelle der Scham trat ein anderes<br />
Gefühl: Stolz.<br />
Die Reaktionen auf die Geschichte<br />
waren überwältigend. Viele<br />
Menschen haben mich auf Lauraangesprochen.<br />
Eine Leserin berichtete<br />
mir,sie habe ihren Töchternden Text<br />
zu lesen gegeben. Hunderte schrieben<br />
Kommentare auf Facebook und<br />
Twitter. Besonders oft fiel das Wort<br />
„richtig“. Laura, darin waren sich alle<br />
einig, hat alles richtig gemacht.<br />
DerSatz „Duhast alles richtig gemacht“<br />
hat ein Geschwister bekommen.<br />
Laura und ihre Eltern haben<br />
Anzeige erstattet. Weil der Täter die<br />
daraus resultierende Klage zurückgewiesen<br />
hat, kam es zur Verhandlung.<br />
Laura musste nur für ihre Aussage<br />
in den Saal, und in der Zeit, bis<br />
sie dran war, wurde ihr in den Räumen<br />
des Opferschutzes behutsam<br />
erklärt, was sie gleich erwarte.Mehrfach<br />
fiel der Satz: „Du kannst nichts<br />
falsch machen.“<br />
Die Frau vom Opferschutz sagte<br />
Laura, es sei nicht schlimm, wenn sie<br />
sich an Details nicht erinnernkönne.<br />
Oder sie sich heute anders erinnere<br />
als bei ihrer ersten Aussage.Sie sagte,<br />
dass der Richter jederzeit bestimmen<br />
könne,dass der Anwalt des Angeklagten<br />
sie nichts mehr fragen<br />
darf. Sie sagte: „Du musst dich vor<br />
nichts fürchten.“ Und noch einmal:<br />
„Dukannst nichts falsch machen.“<br />
Es ist so viel drin in dem Satz: Dir<br />
wurde etwas angetan, nicht andersherum.<br />
Es ist an ihm, glaubwürdig zu<br />
sein. Er muss sich schämen, nicht<br />
du. Er hat etwas zu befürchten, nicht<br />
du. Weil du alles richtig gemacht<br />
hast.<br />
Wir waren nur wenige Minuten<br />
im Saal. Laura musste nicht mehr<br />
aussagen, der Angeklagte hatte die<br />
Tatgestanden. DerRichter fragte sie,<br />
ob sie anhören wolle, was er ihr zu<br />
sagen habe. Laura willigte ein. Er<br />
sagte, mit gesenktem Kopf: „Es tut<br />
mir leid, was ich getan habe. Ich<br />
hätte das nicht tun dürfen.“ Dann<br />
sah er Lauraanund fuhr fort: „Wenn<br />
ich nicht betrunken gewesen wäre,<br />
hätte ich das nie getan. Undich habe<br />
es auch noch nie getan.“<br />
Er wirkte ehrlich. Zweifel bleiben.<br />
Aber wichtig ist doch: Dass er sich<br />
Laura und ihren Eltern stellen<br />
musste, ist mehr, als vielen anderen<br />
widerfährt. Und noch wichtiger:<br />
dass Laura ihren Frieden hat. Das<br />
Urteil, es kommt in ein paar Wochen<br />
mit der Post, interessiert sie nicht<br />
mehr.Und da es in dieser Geschichte<br />
um Laura geht, ist sie hier zu Ende.<br />
Viele andere nicht, und ich weiß,<br />
dass Verhöre und Verhandlungen<br />
auch anders ablaufen. Dass Angst<br />
berechtigt ist. Nicht aber die Scham.<br />
Denn es ist immer der Täter, der etwas<br />
falsch gemacht hat.<br />
Die Chefin vons Janze: Dagmar Pohle von den Linken, die Bürgermeisterin von Marzahn beim Fest in den Gärten der Welt.<br />
Mehr als nur ein Bezirk<br />
Marzahn ist grün, jung und dynamisch. Nun feiert der ehemalige Lichtenberger Ortsteil 40. Geburtstag<br />
VonKatrin Bischoff<br />
Wer Marzahn nicht<br />
kennt, denkt an karge<br />
Plattenbauten oder<br />
„Arbeiterschließfächer“,<br />
wie die Wohnungen auch genannt<br />
wurden. Doch der Bezirk ist<br />
vor allem grün und familienfreundlich.<br />
Vor40Jahren wurde der damalige<br />
Lichtenberger Ortsteil Marzahn<br />
zu einem neuen Bezirk. Das wurde<br />
am Sonnabend in den Gärten der<br />
Welt gefeiert.<br />
Oleg Peters steht an diesem heißen<br />
Tag im Besucherzentrum. Er<br />
hängt Fotos auf. Bilder, die in einer<br />
kleinen Ausstellung davon zeugen,<br />
wie Marzahn entstand. 100 000Wohnungen<br />
in 15 Jahren –das sei eine<br />
Meisterleistung gewesen, sagt der<br />
58-jährige promovierte Bauhistoriker,<br />
der 1983 in Marzahn in eine<br />
Platte zog. In eine 55 Quadratmeter<br />
große Wohnung mit Fenster im Bad,<br />
als dann das zweite Kind da war,<br />
wurde es eine Vier-Raum-Wohnung.<br />
„Komplexer Wohnungsbau“<br />
Er erzählt, dass das Zauberwort damals<br />
„komplexer Wohnungsbau“<br />
hieß: Häuser wurden auf einstigen<br />
Rieselfeldern errichtet. Gleichzeitig<br />
entstanden auch 379 andere Gebäude:<br />
Schulen, Kitas,die sogenannten<br />
Dienstleistungswürfel mit Läden<br />
und die Mehrzweckgaststätten. Und<br />
es wurden Grünflächen geplant.<br />
Peters, dessen Vater von 1966 bis<br />
1980 Baudirektor von Berlin und<br />
Aufbauleiter Marzahns war,hat nach<br />
dem Abitur und vorseinem Studium<br />
als sogenannter Anbinder im neu<br />
entstehenden Bezirk gearbeitet. Er<br />
hat „Platten“ an den Kran gehängt,<br />
mit denen die Häuser gebaut wurden.<br />
Im Durchschnitt seien 30 Platten<br />
für eine Wohnung benötigt worden,<br />
sagt Peters. Alle 90 Minuten<br />
wurde eine Wohnung fertig – mit<br />
Zentralheizung und Bad. Das war<br />
Luxus für viele, die aus den Hinterhöfen<br />
Prenzlauer Bergs oder Friedrichshains<br />
nach Marzahn zogen –<br />
und nicht wieder gingen.<br />
In Marzahn-Hellersdorf leben<br />
derzeit mehr als<br />
268000 Einwohner.Der Bezirk<br />
hat fünf Ortsteile: Marzahn,<br />
Biesdorf, Kaulsdorf,<br />
Mahlsdorf, Hellersdorf. Marzahn<br />
war die größte Großsiedlung<br />
der DDR. Innerhalb<br />
von15Jahren entstanden<br />
100000 Wohnungen.<br />
Alles Marzahner:Annika Oswald (2.v.l.) mit ihrem Feier-Picknick.<br />
Wie Dagmar Pohle, die heutige<br />
Bezirksbürgermeisterin von Marzahn-Hellersdorf.<br />
Sie kam im Sommer<br />
1978 aus einer kleinen Friedrichshainer<br />
Hinterhofwohnung mit<br />
Ofenheizung in den neunten Stadtbezirk<br />
Ost-Berlins. Anders als viele<br />
Neu-Marzahner stapfte sie damals<br />
nicht in Gummistiefeln durch die<br />
ZWEITGRÜNSTER BEZIRK IN BERLIN<br />
Seit im Jahr 1920 Groß-Berlin<br />
gebildet wurde, gehörte<br />
das Dorf Marzahn zu Berlin<br />
und war bis Anfang des Jahres<br />
1979 ein Teil des BezirkesLichtenberg.Am5.Januar<br />
1979 wurde Marzahn<br />
dann Namensgeber des<br />
neuen, neunten Ost-<strong>Berliner</strong><br />
Bezirks.<br />
GUDATH<br />
noch vorhandenen Schlammwüsten.„Dort,<br />
wo ich mit meiner Familie<br />
in Marzahn hingezogen bin, da waren<br />
die Fußwege und Straßen schon<br />
fertig“, erzählt sie.Heute leben mehr<br />
als 268 000 Einwohner in dem Bezirk.<br />
„Eine solch dynamische Entwicklung<br />
wie Marzahn hat kein anderer<br />
Bezirk Berlins genommen“, sagt die<br />
Politikerin der Linkspartei. Heute sei<br />
Marzahn-Hellersdorf ein äußerst lebendiger<br />
und liebenswürdiger Bezirk.<br />
Die Arbeitslosenquote im<br />
Bezirk beträgt derzeit<br />
6,1 Prozent. 21000 Unternehmen<br />
sind in Marzahn ansässig.Viele<br />
jungeFamilie<br />
leben im Bezirk. Marzahn-<br />
Hellersdorf gilt nach Treptow-<br />
Köpenick als der zweitgrünste<br />
Bezirk in der Hauptstadt.<br />
Das findet auch Annika Oßwald,<br />
die beim Fest in den Gärten der Welt<br />
mit einem Picknick auch den vierten<br />
Geburtstag der Tochter Emma feiert.<br />
MitFreunden vonMutter und Tochter.<br />
„Ich stamme aus Marzahn, bin<br />
nie weggegangen.Warumauch? Hier<br />
leben meine Freunde. Marzahn ist<br />
meine Heimat“, sagt die 34-Jährige.<br />
SABINE GUDATH<br />
Es gebe viele Spielplätzeund Ärztehäuser.<br />
S-Bahn und Straßenbahn<br />
fahren direkt in die Stadt. Inzwischen<br />
würden Kita-Plätze schon<br />
Mangelware. DerZuzug ist groß.<br />
Kristina Ackermann stammt auch<br />
aus Marzahn, sie zogzwischendurch<br />
mal weg, nach Spandau und raus aus<br />
der Stadt. „Aber ich bin wiedergekommen“,<br />
erzählt die 41-Jährige.<br />
Afra Pinz, Benjamin Künzel und<br />
der gemeinsame dreijährige Sohn<br />
Phil leben seit 2015 in Marzahn.„Hier<br />
ist es nicht so eng wie in der Innenstadt.<br />
DieWohnungen sind bezahlbar<br />
und besser als die, die heute gebaut<br />
werden“, sagt der 31-Jährige Künzel.<br />
Keinen Tag hätten sie den Umzug<br />
nach Marzahn bereut –inden zweitgrünsten<br />
Bezirkder Hauptstadt.<br />
Kein „Dorf“ im Namen<br />
Bauhistoriker Peters erzählt von den<br />
damaligen Plänen, eine neue Großraumsiedlung<br />
zu errichten. Man<br />
habe überlegt, die vielen Wohnungen<br />
in Pankow zuerrichten. Doch dort<br />
hätte die Infrastruktur nicht gestimmt.<br />
Es wäre zuteuer gewesen.<br />
Also fiel die Entscheidung für diese<br />
Region. Dass der Bezirk dann Marzahn<br />
hieß, sei politisch gewollt gewesen,<br />
sagt er. Der einzige Grund: Marzahn<br />
sei der einzige Ortsteil des künftigen<br />
Bezirks gewesen, der kein<br />
„Dorf“ im Namen hatte.„Ein solches<br />
sozialistisches Großprojekt konnte<br />
damals einfach nicht ein DorfimNamenenthalten“,<br />
erzählt Peters.<br />
Auch er hat es nie bereut, nach<br />
Marzahn gezogen zu sein. Er sagt, er<br />
lebe den Bezirk.<br />
In Marzahn sei es nicht so eng wie in der Innenstadt, sagt Afra Pinz.<br />
GUDATH<br />
Ein<br />
letztes Mal<br />
Luftbrücke<br />
Rosinenbomber kehren am<br />
Jahrestag nach Berlin zurück<br />
Normalerweise ist es kein gutes<br />
Zeichen, wenn es am Himmel<br />
brummt und summt. Wenn Flugzeuge<br />
in niedriger Höhe über dem<br />
Stadtgebiet fliegen, wo sie sonst<br />
nichts zu suchen haben. Am Sonntag<br />
war das allerdings ein historisches<br />
Ereignis. Gegen 15 Uhr, 70 Jahre<br />
nach Ende der Luftbrücke, sind die<br />
Rosinenbomber zurückgekehrt. Jene<br />
alten Propellermaschinen, mit denen<br />
Amerikaner,Briten und Franzosen<br />
während der Berlinblockade den<br />
West-Teil der Stadt mit Lebensmitteln<br />
und Kohle versorgt haben.<br />
Rund 20 der Flugzeuge überflogen<br />
am Sonntag die Stadt. Siekamen<br />
aus Südosten, flogen übers Tempelhofer<br />
Feld und danach über Treptow,<br />
Lichtenberg, Weißensee und Pankow<br />
sowie über Spandau. Die Flugzeugedes<br />
Modells Douglas DC-3 waren<br />
inFaßberg inNiedersachsen gestartet.<br />
Am Tempelhofer Feld waren<br />
die Oldtimer-Flugzeuge für Zuschauer<br />
und Kameraobjektive gut<br />
sichtbar. Eine Landung auf dem<br />
einstigen Innenstadt-Flughafen<br />
Tempelhof war nicht möglich.<br />
Während der sowjetischen Berlin-Blockade<br />
vom 24. Juni 1948 bis<br />
zum 12. Mai 1949 hatten die Westalliierten<br />
mit fast 280 000 Flügen fast<br />
Fast wie früher:Rosinenbomber überfliegen<br />
die Stadt.<br />
DPA/PAUL ZINKEN<br />
zwei Millionen Tonnen Lebensmittel<br />
und Kohle in die abgeriegelte Stadt<br />
gebracht. Vom niedersächsischen<br />
Faßbergwurden 70 Prozent der Kohletransporte<br />
nach Berlin geflogen.<br />
Die Planung des seltenen Schauspiels<br />
in der Hauptstadt hatte sich<br />
schwierig gestaltet. Erst am Donnerstag<br />
war klar, dass es keinen<br />
Überflug über das Brandenburger<br />
Torgibt. Ursprünglich wollte derVerein<br />
mit einem Antrag bei dem Bundesaufsichtsamt<br />
für Flugsicherung<br />
die Genehmigung bekommen, in<br />
das sogenannte Flugbeschränkungsgebiet<br />
um das Reichstagsgebäude<br />
zu fliegen. In dieser Zone liegt<br />
auch das Brandenburger Tor. Diesen<br />
Antrag zogder Verein zurück.<br />
Der geplatzte Überflug über das<br />
Brandenburger Tor war bereits die<br />
zweite Planänderung für die Veranstalter.Aucheine<br />
Landung der Oldtimer-Maschinen<br />
auf dem Tempelhofer<br />
Feld konnte nicht umgesetzt werden,<br />
weil laut Tempelhof-Gesetz der<br />
innere Wiesenbereich mit der Startund<br />
Landebahn öffentlich zugänglich<br />
bleiben muss. (BLZ/dpa)