10.07.2019 Aufrufe

Berliner Zeitung 09.07.2019

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 156 · D ienstag, 9. Juli 2019 – S eite 19 *<br />

·························································································································································································································································································<br />

Feuilleton<br />

Der Blues-Rock ist tot?<br />

Zwei neue, letzte Alben<br />

aus Nashville<br />

Seite 21<br />

„Der Wegzum Brexit ist keine Einbahnstraße.“<br />

Der Historiker Ian Kershaw hat eine europäische Zeitgeschichte von 1950 bis heute geschrieben. Ein Interview Seite 20<br />

Architektur<br />

Auch das ist<br />

Europa<br />

Nikolaus Bernau<br />

betrachtet das Gejammer<br />

um Standesprivilegien<br />

Stadtplanung und Architektur in<br />

der Umgebung des <strong>Berliner</strong><br />

Hauptbahnhofs sind mittelprächtig<br />

bis desaströs. Aber alles wurde nach<br />

den Regeln der deutschen Honorarordnung<br />

für Architekten und Ingenieure<br />

entworfen –also nach jener<br />

HOAI, die der Europäische Gerichtshof<br />

gerade aufgehoben hat. Er urteilte,<br />

die HOAI sei mit ihrer Festlegung<br />

von Mindest- und Höchsthonoraren<br />

unvereinbar mit dem freien<br />

Binnenmarkt und der Niederlassungsfreiheit<br />

in den EU-Staaten. Außerdem<br />

fördere sie weder kulturelle<br />

Leistung noch den Klimaschutz oder<br />

die Kreativität. Dies aber waren die<br />

Argumente, mit denen die Bundesregierung<br />

und die Planerverbände<br />

eiserndie HOAI verteidigten.<br />

Dabei halten sich viele Architekten<br />

und Ingenieure schon heute<br />

nicht an die Honorarordnung, bringen<br />

Zusatzleistungen „umsonst“,<br />

also preissenkend in ihr Angebot ein.<br />

Zudem gilt die HOAI nicht für Handwerker<br />

oder Großübernehmer –die<br />

zunehmend den Baumarkt bestimmen.<br />

Im Unterschied dazu zwingt<br />

die Buchpreisbindung, die von<br />

Marktradikalen auch immer wieder<br />

attackiert wird, wirklich alle Verleger<br />

und Medienhändler zu einheitlichen<br />

Preisen. Diese ist deswegen als deutscher<br />

Sonderwegauch vomEuroparecht<br />

akzeptiertworden.<br />

Das Kernproblem ist: Kaum ein<br />

Land hat so viele Planer wie<br />

Deutschland, 138 000 wurden gezählt,<br />

mehr als 50 000 von ihnen als<br />

oft nur formal Selbstständige in<br />

Winzbüros.Diese werden wohl wirklich<br />

bei der nächsten Baukrise unter<br />

ökonomischen Druck kommen,<br />

müssen sich oft zusammenschließen.<br />

Für die Qualität der Planung<br />

aber dürfte das keine Folgen haben.<br />

Wer wollte behaupten, dass in<br />

Frankreich, den Niederlanden,<br />

Skandinavien oder Polen schlechter<br />

geplant werde als in Deutschland,<br />

die Architekten weniger verdienten,<br />

weniger Macht hätten?<br />

Kurz: Die HOAI war ein Instrument,<br />

um Standesprivilegien zu sichern.<br />

Umso übler, dass massiv Vorurteile<br />

aktiviert wurden, um diese zu<br />

verteidigen. So wie im Kampf der<br />

Apotheker um ihre Standesprivilegien,<br />

die der Gerichtshof ebenfalls<br />

demontierte. In der Apothekerzeitung<br />

hieß es etwa: „Generalanwalt<br />

war übrigens der Pole Maciej Szpunar“.<br />

Unterton: Klar, Polen unterminieren<br />

eben den deutschen Mittelstand<br />

per Preiskampf. Aber Szpunar<br />

ist einer der angesehensten Fachleute<br />

für europäisches und für Wettbewerbsrecht,<br />

er hat geklagt im Namen<br />

Europas und hat damit für Europa<br />

und für Deutschland gewonnen.<br />

Der Architektur um den Hauptbahnhof hat<br />

die HOAI nicht geholfen. IMAGO/ROLF KREMMING<br />

Alexandria Ocasio-Cortez ist der Popstar der US-Demokraten. Ihr umstrittener Vergleich findet nun wissenschaftliche Unterstützer.<br />

Am 17. Juni hatte die New<br />

Yorker demokratische Abgeordnete<br />

Alexandria Ocasio-Cortez<br />

ineinem Instagram-Video<br />

die Internierungslager<br />

an der Grenzeder USA zu Mexiko als<br />

„Konzentrationslager“ bezeichnet.<br />

Daran schloss sich eine erregte Debatte<br />

an über die Anwendbarkeit des<br />

Begriffes, über die Zulässigkeit von<br />

NS-Vergleichen überhaupt.<br />

Am 24. Juni antwortete das New<br />

Yorker Holocaust-Museum mit dieser<br />

Erklärung: „Das United States<br />

Holocaust Memorial Museum weist<br />

unmissverständlich Versuche zurück,<br />

die Analogien zwischen dem<br />

Holocaust und anderen Ereignissen,<br />

sei es historischen oder heutigen,<br />

herstellen. Diese Haltung hat das<br />

Museum wiederholt eindeutig klar<br />

gemacht.“<br />

Auf diese Erklärung antworteten<br />

Anfang Juli mehr als 500 Holocaustund<br />

Völkermord-Historiker u.a. folgendermaßen:<br />

„Wir sind sehr besorgt über das<br />

jüngste Statement des Museums zu<br />

den Holocaust-Analogien.Wirschreiben<br />

diesen Brief, um die Zurückziehung<br />

des Statements zu fordern.Wissenschaftler<br />

in den Human- und Sozialwissenschaften<br />

gehen bei der Beantwortung<br />

von Fragen über die<br />

Vergangenheit und die Gegenwart<br />

aus von sorgfältigen und verantwortungsvollen<br />

Analysen, von Kontextualisierungen,<br />

Vergleichen und Argumentationen.<br />

Mitder Erklärung, Versuche<br />

unmissverständlich zurückzuweisen,<br />

die Analogien zwischen dem<br />

Holocaust und anderen Ereignissen,<br />

sei es historischen oder heutigen herstellen,<br />

nimmt das United States Holocaust<br />

Museum eine radikale Position<br />

ein, die weit vomMainstream der<br />

Holocaust- und Völkermord-Forschung<br />

entfernt ist. Es wird sogeradezu<br />

unmöglich, aus der Vergangenheit<br />

zu lernen. Die Entscheidung des<br />

Museums, jede mögliche Analogie<br />

mit dem Holocaust oder den zu ihm<br />

führenden Ereignissen zu verwerfen,<br />

ist im Kern ahistorisch“.<br />

Soweit die Kontroverse. Wir kennen<br />

sie gut. Sie wiederholt sich alle<br />

paar Jahre. Es geht im Kern dabei um<br />

den Unterschied zwischen Wissenschaft<br />

und Religion. Auf der einen<br />

Seite gibt es Menschen, die wollen<br />

verstehen, was der Holocaust war,<br />

wie er zustande kam, welchen Einflüssen<br />

er sich verdankte, welche<br />

Wirkung er hatte.<br />

Für die anderen ist das so interessant<br />

nicht. Denn er war ein einmaliges<br />

Ereignis, etwas Unwiederholbares.<br />

Damit ist er jedem wissenschaftlichen<br />

Zugang entzogen. Er ist Totem<br />

und Tabu. Es gibt keinen wie ihn.<br />

Niemand ist mit ihm zu vergleichen.<br />

Er ist Gott.<br />

Das kommt Ihnen übertrieben<br />

vor? Alle Wissenschaft basiert auf<br />

dem Vergleich. Wir erkennen die<br />

Dinge, indem wir sie miteinander<br />

vergleichen. Das gilt für kleine Kinder<br />

und für große Kosmologen. Jedes<br />

Atom, das schwerer ist als Beryllium,<br />

sei es in unserem Körper oder wo<br />

auch immer im Universum, verdankt<br />

seine Existenz der Elementsynthese<br />

im Innern der Sterne. Erst<br />

das genaue Vergleichen hat uns darüber<br />

belehrt.<br />

Die Behauptung, etwas wäre<br />

einzigartig und unvergleichbar, ist<br />

ein Denkverbot. Da soll etwas auf<br />

ein Podest gestellt und angeschaut,<br />

angebetet, aber auf keinen<br />

Fall soll es verstanden werden.<br />

Dazu muss man es mit ähnlichen<br />

Erscheinungen vergleichen, um<br />

festzustellen, wo sie differieren<br />

und wo sie gleich sind.<br />

Timothy Snyder gehört zu den<br />

Unterzeichnern der Erklärung der<br />

kritischen Wissenschaftler. Zu seinem<br />

Forschungsbereich gehört der<br />

Vergleich zwischen den nationalsozialistischen<br />

und den stalinistischen<br />

Untaten. Seine Bücher haben durch<br />

denVergleich jedes der Regime deutlicher<br />

herauspräpariert. Sie haben<br />

aber auch geholfen, eine Epoche genauer<br />

zu sehen, in der die Vernichtung<br />

ganzer Bevölkerungen zur<br />

selbstverständlichen Herrschaftspraxis<br />

sehr verschiedener Staaten<br />

wurde.<br />

Die Vorstellung, der Holocaust<br />

stehe als ein einmaliger „Zivilisationsbruch“<br />

einsam in der Weltge-<br />

„Die Behauptung, etwas wäre<br />

einzigartig und unvergleichbar, ist ein<br />

Denkverbot. Etwas soll auf ein Podestgestellt,<br />

aber nicht verstanden werden.“<br />

IMAGO-IMAGES<br />

Weiter mit hinkenden Vergleichen<br />

Darf man TrumpsMauer mit NS-Konzentrationslagern vergleichen?<br />

Eine Debatte, die es in sich hat<br />

VonArnoWidmann<br />

schichte, müsste bewiesen werden.<br />

Natürlich unterscheidet er sich von<br />

all den anderen Versuchen, Bevölkerungen<br />

systematisch auszurotten.<br />

Allerdings nicht mehr als jene anderen<br />

Versuche sich von einander unterscheiden.<br />

Der „Zivilisationsbruch“<br />

begleitet die Zivilisation von<br />

ihren ersten Gehversuchen an. Sehr<br />

oft gehörterausdrücklich zu ihr.Der<br />

immense Aufschwung des Westens<br />

im 18. und 19. Jahrhundert ist ohne<br />

die systematische Knechtung und<br />

Versklavung großer Teile der Erdbevölkerung<br />

durch den Kolonialismus<br />

nicht zu denken.<br />

Ich glaube nicht, dass die Vernichtung<br />

ganzer Bevölkerungsgruppen<br />

für irgendetwas in Kauf genommen<br />

werden muss. Ich glaube noch<br />

nicht einmal, dass sie nicht zu verhindern<br />

sei. Ich bin allerdings der<br />

Auffassung, dass es einiger Anstrengung<br />

bedarf, ihr, wenn sie just passiert,<br />

entgegenzutreten. Es ist gut zu<br />

begreifen, wie Kernreaktionen in Gesellschaften<br />

verlaufen, die dazu führen,<br />

dass die einen über die anderen<br />

herfallen.<br />

Manmag über die Internierungslager<br />

der US-Regierung an der<br />

Grenze zuMexiko denken, wie man<br />

will. Zweifelsfrei handelt es sich dabei<br />

um Konzentrationslager. Hier<br />

werden Menschen in Lagernzusammengefasst,<br />

konzentriert. So wie Earl<br />

Kitchener es meinte, als er während<br />

des Zweiten Burenkriegs um 1900<br />

Frauen und Kinder der burischstämmigen<br />

Bevölkerung in Lagern, die<br />

man amtlich als ‚concentration<br />

camp‘ bezeichnet hat, zusammenfasste<br />

und internierte.<br />

DasKonzentrationslager ist keine<br />

Erfindung der Nazis, und es ist auch<br />

nicht mit ihnen ausgestorben. Nirgendwo<br />

auf der Welt. Alexandria<br />

Ocasio-Cortez hat den richtigen<br />

Begriff gebraucht. Die Empörung<br />

der Leitung des United States Holocaust<br />

Memorial Museumsist verlogen.<br />

In der Washington Post erinnerte<br />

der Holocaustforscher Emil<br />

Kerenji daran, dass das Museum<br />

Analogien nicht immer ablehnte.<br />

So erklärte es angesichts der in Myanmar<br />

verfolgten Rohingya: „Die<br />

Welt hat die Augen vor ihrer Verfolgung<br />

geschlossen –genau so, wie<br />

sie es gegenüber den Opfern des<br />

Holocaust tat.“<br />

Vergleiche mögen hinken. Aber<br />

nur hinkend kommen wir voran. In<br />

der Analyse wie bei den immer wieder<br />

scheiternden Versuchen, den<br />

Anfängen zu wehren.Wer gesterndie<br />

Website des United States Holocaust<br />

Memorial Museum aufrief, fand nur<br />

die Erklärung des Museums vom 24.<br />

Juni. Eine Antwort auf die Kritiker<br />

gab es noch immer nicht.<br />

Arno Widmann<br />

hält alles für vergleichbar,<br />

was nicht identisch ist.<br />

NACHRICHTEN<br />

Artur Brauner wird<br />

am Mittwoch beigesetzt<br />

DerFilmproduzent Artur Brauner<br />

soll am Mittwoch beigesetzt werden.<br />

DieBeerdigung sei für 14 Uhrauf<br />

dem Jüdischen Friedhof in der Heerstraße<br />

geplant, sagte seine Tochter<br />

Alice Brauner am Montagabend. Ihr<br />

Vater war am Sonntag im Alter von<br />

100 Jahren gestorben. Brauner galt<br />

als einer der wichtigsten Filmproduzenten<br />

in Nachkriegsdeutschland.<br />

Er arbeitete mit Stars wie Romy<br />

Schneider,CurdJürgens,Caterina<br />

Valente und Heinz Rühmann. In seinen<br />

<strong>Berliner</strong> CCC-Studios entstanden<br />

Hunderte Kino- undTV-Produktionen.<br />

Mitvielen Filmen erinnerte<br />

Brauner auch an das Schicksal der<br />

Holocaust-Opfer. (dpa)<br />

Putin beschimpft −Sender<br />

in Georgien stellt Dienst ein<br />

Weil ein Journalist den russischen<br />

Präsidenten in obszöner Sprachebeleidigt<br />

hat, muss der georgischer<br />

FernsehsenderRustawi-2 seinen<br />

Dienst einstellen. DerRedakteur<br />

hatte nach Einschätzung der georgischen<br />

Präsidentin Salome Surabischwili<br />

und des Außenministeriums<br />

in Tiflis den Kremlchef Wladimir Putin<br />

in einer Nachrichtensendung in<br />

den Schmutz gezogen. Daraufhin<br />

kam es am Montag in der georgischen<br />

Hauptstadt zu spontanen Protesten<br />

wütender Georgier. (dpa)<br />

Jochen Schweizer testet<br />

Bewerber in neuer Show<br />

DerUnternehmer Jochen Schweizer<br />

sucht in einer ProSieben-Shownach<br />

einem Geschäftsführer.„DerTraumjob<br />

−bei Jochen Schweizer“ startet<br />

am Dienstag (9. Juli) um 20.15 Uhr.<br />

Schweizer (62), als Gründer eines Unternehmens<br />

für Erlebnisgutscheine<br />

bekannt geworden, kündigte die<br />

Show als das„intensivste Bewerbungsgespräch<br />

derWelt“ an. DieBewerber<br />

will er nach Kenia, Thailand,<br />

Spanienund Norwegen schicken. Es<br />

geht um einen Posten mit sechsstelligem<br />

Jahresgehalt. (dpa)<br />

Exfrau von Paul McCartney<br />

bekommt Entschädigung<br />

Heather Mills (51), die frühereEhefrau<br />

vonPop-Legende Paul McCartney,hat<br />

wegen eines Telefon-Abhörskandals<br />

in Großbritannien nach eigenen<br />

Angaben eine Rekord-Entschädigung<br />

erstritten. Als Resultat<br />

einer Sammelanklage gegen die Verlagsgruppe<br />

News Group Newspapers<br />

(NGN) habe sie gemeinsam mit<br />

anderen Opfern„die höchste Entschädigungssumme<br />

in einem Fall<br />

vonVerleumdung durch Medien erreicht,<br />

die jemals in der britischen<br />

Rechtsgeschichte verhängt wurde“,<br />

sagte Mills am Montag nach einer<br />

Anhörung am High CourtinLondon.<br />

Einen Betrag nannte sie nicht. (dpa)<br />

Heather Mills, eine frühere Gattin von<br />

Paul McCartney, siegt vor Gericht.<br />

AP

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!