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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 163 · M ittwoch, 17. Juli 2019 – S eite 9 *<br />
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Berlin<br />
Finanzsenator hilft<br />
Michael Müller bei<br />
365-Euro-Ticket<br />
Seite 12<br />
Stiftung: Walter Wübben schenkt der Wissenschaft 30 Millionen Euro Seite 17<br />
Sonntagsöffnung: Späti-Betreiber beklagen uneinheitliches Vorgehen Seite 10<br />
Stadtbild<br />
Subversiv<br />
geparkt<br />
Torsten Landsberg<br />
hat die Probleme mit den<br />
E-Rollernkommen sehen.<br />
Eswäre wohl vermessen, diesen<br />
kurzen Zeilen prophetische<br />
Kräfte nachzusagen. Andererseits<br />
hat sich seit Mitte Juni bewahrheitet,<br />
was hier wenige Tage vor dem Inkrafttreten<br />
der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung<br />
stand: Der E-<br />
Tretroller wird zum Problem. Polizei<br />
und Ärzte ziehen bereits ein verheerendes<br />
Fazit und fordern einmal<br />
mehr die Helmpflicht. Dabei sind<br />
Knochenbrüche weniger auf fehlende<br />
Helme als auf die berlinischleichtfüßige<br />
Nutzung der Roller zurückzuführen.<br />
Die Bilanz in Kürze: zuzweit auf<br />
dem Roller (verboten und kaum<br />
schneller als zu Fuß), ein Kind auf<br />
dem Roller, deutlich unter 14 Jahren<br />
(verboten), sehr eindeutig stark betrunken<br />
(verboten), einhändig, weil<br />
in der anderen Hand mit dem Smartphone<br />
ein Video gedreht wird (verboten),<br />
auf dem Gehweg (verboten),<br />
auf der Straße trotz vorhandenen<br />
Radwegs (verboten). Es wäre eine<br />
Freude,Andreas Scheuer dieser Tage<br />
als Verkehrspolizist durch Berlins Innenstadtbezirke<br />
zu schicken.<br />
Das alles sind Kinkerlitzchen im<br />
Vergleich zum größten Übel: Die E-<br />
Roller stehen überall im Weg, teils<br />
mitten auf dem Bürgersteig. Haben<br />
Stadtforscher eigentlich schon untersucht,<br />
warum Menschen Mietgegenstände<br />
derart selbstvergessen in<br />
die Gegend stellen? Haben sie einfach<br />
ein viel dickeres Brett vor den<br />
Köpfen, als man annehmen mag?<br />
Oder tun sie es bewusst, weil sie es<br />
lustig finden oder ihr Handeln sogar<br />
subversiv interpretieren? Es ist wie<br />
mit Carsharing-Autos, inderen Mittelkonsole<br />
verrotzte Taschentücher<br />
stecken oder deren Rücksitzbank<br />
noch vom Transport der Vornutzer<br />
umgeklappt ist, weil es sie eine Minute<br />
und weitere 30Cents gekostet<br />
hätte, sie wieder hochzuklappen.<br />
Wenn so die Verkehrswende aussieht,<br />
die unser Überleben sichern<br />
soll, muss doch die Frage erlaubt<br />
sein, ob der schnelle Rußtod nicht<br />
das kleinereÜbel wäre.<br />
Gewinner der Woche ist übrigens<br />
ein aus der Fernebetrachtet dem Alkohol<br />
zugeneigter E-Roller-Fahrer,<br />
unterwegs vom Frankfurter Tor in<br />
Richtung Prenzlauer Berg. Erlenkt<br />
den Roller in einer Körperhaltung<br />
wie Easy Rider, mit ausgestreckten<br />
Armen, denn angeschlagen hockt er<br />
auf dem Gefährt. Im Vorbeifahren<br />
brüllt er aus dem Nichts einen Fußgänger<br />
an, der ihm gar nicht im Weg<br />
steht: „Verpiss dich!“ Klingt<br />
schlimm, ist aber halb so wild: Immerhin<br />
fährt er regelkonform auf<br />
dem Radweg.<br />
Zwei Touristen aus Wuppertal fühlen sich<br />
so richtig frei in Berlin. DPA/BERND VON JUTRCZENKA<br />
Meterhohe Flammen schlagen aus dem Dachstuhl des Gesellschaftshauses in Grünau. Die Feuerwehr kann das Feuer nur von außen löschen.<br />
Grünaus Seele brennt<br />
Ein Feuer zerstört das einst traditionsreiche Gesellschaftshaus. Ermittler schließen Brandstiftung nicht aus<br />
VonKatrin Bischoff<br />
und Lutz Schnedelbach<br />
Die Rauchschwaden, die<br />
an diesem Dienstagmorgen<br />
noch immer aus der<br />
Brandruine des einstigen<br />
Gesellschaftshauses in der Regattastraße<br />
in Grünau quellen, sind<br />
weithin sichtbar.„Ichbin traurig und<br />
enttäuscht, dass die Geschichte dieses<br />
Hauses so enden musste“, sagt<br />
Ina Malzigus, die am Absperrband<br />
der Feuerwehr steht. Die 62-Jährige<br />
wohnt in Grünau. Zu DDR-Zeiten sei<br />
sie immer ins Gesellschaftshaus zum<br />
Tanzen gegangen. Oder zur Campingausstellung.<br />
Nun ist aus der<br />
einst traditionsreichen Ausflugsgaststätte<br />
nicht mehr viel übrig.„Das Gesellschaftshaus<br />
hat so lange leergestanden,<br />
ist verfallen. Undnun das“,<br />
sagt sie kopfschüttelnd.<br />
In der Nacht zu Dienstag war die<br />
Feuerwehr zu vier kleinen Bränden in<br />
den Köpenicker Ortsteil Grünau gerufen<br />
worden. Mal brannten sechs<br />
Müllcontainer,mal eine Papiertonne,<br />
mal ein Altkleiderbehälter. Alle Einsatzorte<br />
befanden sich nahe des<br />
denkmalgeschützten Ensembles Rivera<br />
und Gesellschaftshaus. Um<br />
2.46 Uhr entdeckten die Löschkräfte<br />
dann Flammen, die aus dem Dach<br />
des vorderen Gebäudes des Gesellschaftshauses<br />
schlugen. Der Dachstuhl<br />
brannte auf einer Fläche von<br />
800 Quadratmetern.<br />
Zwei vorläufige Festnahmen<br />
Gebaut: Das Gesellschaftshaus<br />
wurde um 1895 errichtet<br />
und galt als besonders<br />
reich ausgestattetes Lokal<br />
mit Saalbau. Hauptanziehungspunkt<br />
der benachbarten<br />
Riviera war das Restaurant<br />
Bellevue. Seit 1977 stehen<br />
Gesellschaftshaus und<br />
Riviera auf der Denkmalliste<br />
des Landes.<br />
JAHRELANGER LEERSTAND<br />
Geschlossen: Seit 1991<br />
sind die Lokale geschlossen<br />
und verfallen. 2000 wurde<br />
kurze Zeit ein Biergarten eingerichtet,<br />
doch er schloss<br />
wieder.2006 kaufte eine<br />
türkische Unternehmerin aus<br />
Ankara Gesellschaftshaus<br />
und Riviera. Sie plante auf<br />
dem Gelände ein Hotel sowie<br />
Privatvillen.<br />
Auch am Morgen ist das Feuer noch immer nicht unter Kontrolle.<br />
Am Vormittag steht nur noch die Fassade des Gesellschaftshauses.<br />
Geplant: Ein neuer Investor<br />
übernahm 2017 das Grundstück.<br />
Die Terragon Projekt<br />
GmbH plant eine Seniorenresidenz<br />
mit 208 Wohnungenauf<br />
15 000 Quadratmeter<br />
Wohnfläche. Auch eine<br />
Tagespflegeund eine Senioren-Wohngemeinschaft<br />
sind<br />
vorgesehen. Vier Neubauten<br />
sollen ab Herbst entstehen.<br />
NILS-R. SCHULTZE<br />
BLZ/KATRIN BISCHOFF<br />
MORRIS PUDWELL<br />
„Bis zu 70 Einsatzkräfte versuchten in<br />
der Nacht, den Brand des Gebäudes<br />
zu löschen“, sagt Feuerwehrsprecher<br />
Dominik Pretz. DieEinsatzkräfte hätten<br />
das Haus nicht betreten können,<br />
weil es als Ruine ausgewiesen gewesen<br />
sei. Deswegen sei das Feuer von<br />
außen bekämpft worden. „Die Flammen<br />
haben die Holzbalkendecken<br />
vom Dach bis in das Erdgeschoss<br />
zerstört, so dass nur noch die Fassade<br />
des Gebäudes steht“, sagt Pretz.<br />
Das Gebäude sei einsturzgefährdet.<br />
Im Erdgeschoss liege nun sehr viel<br />
Schutt, der immer noch brenne.<br />
DieErmittler schließen nicht aus,<br />
dass Brandstifter am Werk waren.<br />
Noch in der Nacht seien zwei 20-jährige<br />
Tatverdächtige festgenommen<br />
worden, so die Polizei. Sie seien gegen<br />
3Uhr aufgefallen, weil sie die<br />
Löscharbeiten intensiv beobachtet<br />
hätten. Am Nachmittag kamen die<br />
beiden jungen Männer wieder auf<br />
freien Fuß, es werde aber weiter gegen<br />
sie ermittelt, heißt es.<br />
DasGesellschaftshaus und die Rivieraentwickelten<br />
sich seit Ende des<br />
19. Jahrhunderts zu beliebten Ausflugs-<br />
und Tanzlokalen an der<br />
Dahme. Die Großgaststätten schlossen<br />
1991, wurden zurVerwertung der<br />
Treuhandliegenschaftsgesellschaft<br />
überlassen. Jahrelang standen die<br />
Gebäude leer und verfielen. Bis der<br />
Investor Terragon die Immobilien<br />
übernahm. Er hatte vor, bis 2021 auf<br />
dem Gelände eine Senioreneinrichtung<br />
zu errichten. Teile der denkmalgeschützten<br />
Gebäude sollten erhalten<br />
bleiben und auch für die Öffentlichkeit<br />
zugänglich gemacht werden.<br />
Abschied vomDenkmalschutz?<br />
„Wir sind schockiert, dass eines der<br />
beiden Gebäude des denkmalgeschützten<br />
Gesellschaftshauses<br />
durch diesen Brand schwer geschädigt<br />
wurde“, sagt Michael Held, der<br />
Terragon-Vorstandschef. Er sei auch<br />
froh, dass das Feuer nicht auf das<br />
zweite Gebäude des Gesellschaftshauses<br />
und insbesondere nicht auf<br />
das architektonische Kleinod Riviera-Saal<br />
übergegriffen habe. „Wir<br />
setzen unser Bauprojekt fort.“<br />
Nils-R. Schultze vom Ortsverein<br />
Grünau, der sich seit Jahren für den<br />
Erhalt vonRivieraund Gesellschaftshaus<br />
stark macht, sagt, mit dem Gesellschaftshaus<br />
verliere Grünau<br />
seine Seele. „Wir befürchten, dass<br />
sich der Investor nun auch noch aus<br />
den letzten Zusagen zum Denkmalschutz<br />
verabschieden wird.“ Stefan<br />
Förster vom Bezirksdenkmalrat findet<br />
den Zeitpunkt des Brandes<br />
„merkwürdig“. Die Zerstörung des<br />
Gesellschaftshauses sei ein herber<br />
bauhistorischer Verlust. Bezirksbürgermeister<br />
Oliver Igel (SPD) nennt<br />
den Brand ein furchtbares Ereignis<br />
für Grünau.Ersei froh gewesen, dass<br />
sich endlich ein Investor gefunden<br />
habe, der Teile des Denkmals erhalten<br />
wolle. Das Feuer zeige, dass<br />
Denkmäler wie Gesellschaftshaus<br />
und Riviera nur durch eine Nutzung<br />
gerettet werden könnten –und nicht<br />
durch jahrelangen Leerstand.<br />
NACHRICHTEN<br />
Angeklagter erscheint nicht<br />
zum Missbrauchsprozess<br />
EinProzess gegen einen 45-Jährigen,<br />
der seine Stieftochter und deren<br />
Freundin in mehreren Fällen missbraucht<br />
haben soll, ist im ersten Anlauf<br />
gescheitert. Weil der Mann unentschuldigt<br />
fehlte,setzte das Landgericht<br />
die Verhandlung am Dienstag<br />
aus und erließ Haftbefehl gegen<br />
den 45-Jährigen. DemAngeklagten<br />
werden 35 mutmaßliche Taten in der<br />
Zeit vonJuli 2017 bis August 2018 zur<br />
Last gelegt. DieMädchen sollen bei<br />
den ersten sexuellen Übergriffen<br />
etwa elf Jahrealt gewesen sein. Als<br />
die Stieftochter schließlich mit einer<br />
Aussage bei der Polizei drohte,soll<br />
sich der 45-Jährige den Angaben zufolge<br />
selbst angezeigt haben. Er blieb<br />
danach auf freiem Fuß. Für den Prozess<br />
wegen sexuellen Missbrauchs<br />
vonKindernhatte das Gericht drei<br />
Tage vorgesehen. Einneuer Termin<br />
stand zunächst noch nicht fest. (dpa)<br />
Bezirkplant im Görlitzer<br />
Park Mini-Gastronomie<br />
Im Görlitzer Park in Kreuzbergsoll es<br />
mit Kaffee und Falafel künftig zumindest<br />
eine Mini-Gastronomie geben.<br />
„Ein Bierstand ist aber nicht geplant“,<br />
sagte die Sprecherin des Bezirksamtes<br />
Friedrichshain-Kreuzberg,<br />
Sara Lühmann, am Dienstag<br />
und bestätigte damit entsprechende<br />
Berichte vonB.Z. und Bild. Ob die<br />
Verkaufsstände auch gegen Drogendealer<br />
im Park helfen sollen, blieb offen.<br />
Zuletzt hatte eine Idee des Parkmanagers<br />
für Aufregung gesorgt.<br />
Provisorisch waren mit rosa Farbe<br />
Stehplätzefür Dealer markiertworden.<br />
Besucher sollten weniger gestörtwerden<br />
und nicht mehr durch<br />
ein Spalier vonDealernlaufen müssen.<br />
DasBezirksamt hatte den Vorstoß<br />
als temporär und nicht abgestimmt<br />
zurückgewiesen. (dpa)<br />
Holocaust-Überlebender<br />
erhält Abitur-Zeugnis<br />
80 Jahrehat es gedauert. Am Dienstag<br />
durfte der Holocaust-Überlebende<br />
Leon „Henry“ Schwarzbaum<br />
endlich sein Abiturzeugnis in den<br />
Händen halten: Derniedersächsische<br />
Kultusminister,Grant Hendrik<br />
Tonne,übergab dem 98-jährigen<br />
<strong>Berliner</strong> das rekonstruierte,neu ausgestellte<br />
Zeugnis.„Ichhabe nicht geglaubt,<br />
dass ich es jemals bekommen<br />
werde“, sagte Schwarzbaum in<br />
der niedersächsischen Landesvertretung<br />
in Berlin. Schwarzbaum<br />
machte 1939 das Abitur.Das Dokument<br />
über die am jüdischen Fürstenbergus<br />
Lyzeum abgelegte Prüfung<br />
musste er abgeben, als er nach dem<br />
Einmarsch der Nationalsozialisten<br />
und der Besetzung Polens durch<br />
Deutschland in das Konzentrationslager<br />
in Auschwitz kam. DerFilm„Der<br />
letzte Jolly Boy“ über Schwarzbaums<br />
Leben wirdinSchulen in ganz<br />
Deutschland gezeigt. (dpa)<br />
Die Nazis nahmen Leon „Henry“ Schwarzbaum<br />
sein Abizeugnis weg. DPA/SKOLIMOWSKA