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Berliner Zeitung 23.07.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 168 · D ienstag, 23. Juli 2019 – S eite 19 *<br />

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Feuilleton<br />

Die Popkolumne:<br />

Folkiger Barjazz<br />

mit Madeleine Peyroux<br />

Seiten 22 und 23<br />

„Alles muss ein bisschen größer und lauter sein.“<br />

Sabine Rennefanz hat die Nibelungen-Festspiele in Worms besucht. Seite 20<br />

Insektenrettung<br />

Unterwegs mit<br />

Tierfreunden<br />

Ulrich Seidler<br />

über die Schwierigkeit,<br />

moralisch Kurs zu halten.<br />

Man wirdziemlich schnell, wenn<br />

man erst einmal Fahrt aufgenommen<br />

hat mit dem Kanadier.Bald<br />

hat man den Stechpaddeldreh raus<br />

und kann das lange Boot, in dem außer<br />

dem Vater die beiden Töchter sitzen(15<br />

und elf), gut steuern. Aber das<br />

Gefährtzustoppen und zurückzufahren,<br />

ist mühevoll, zumal auf der Havel<br />

motorisierter Gegenverkehr sowie<br />

kleine Böen aufkamen. Aber da geht<br />

es schon wieder los mit den Ausreden,<br />

die nach Meinung der großen<br />

Tochter keine Geltung haben vor der<br />

Prinzipienfrage.<br />

„Da war eine Wespe, die müssen<br />

wir retten“, sprach sie und stach ihr<br />

Paddel bremsend ins Wasser,wir verloren<br />

an Fahrt und ein bisschen die<br />

Kontrolle −sodasswir in die Seerosen<br />

und dann ins Schilf abzudriften drohten,<br />

wobei uns durch die Drehung die<br />

Bugwellen der Motorjachten längsseitig<br />

trafen und zum Schaukeln<br />

brachten. Alles Ausreden. „Nein“, bestimmte<br />

der Vater, steuerte das Boot<br />

mit kräftigen Schlägen vorwärts und<br />

erklärte, dass man das Tier gar nicht<br />

mehr finden würde, weil man sich<br />

schon zu weit entfernt hatte. Die<br />

Tochter verlangte nach ihren Badesachen,<br />

es galt, ein Leben zu retten. Und<br />

nochmals kassierte sie ein väterliches<br />

„Nein“, eins von der lauteren autoritären<br />

Sorte−ohneweitereErklärung.<br />

Mindestens drei Flusskilometer<br />

lang herrschte ein angespanntes bilaterales<br />

Schweigen, das auch durch<br />

die vorbildlichen Deeskalationsmaßnahmen<br />

der jüngeren Tochter<br />

(„Wir wollten doch heute einfach<br />

was Schönes erleben!“) nicht gebrochen<br />

werden konnte. Der Vater<br />

wusste,dass sich die größereTochter<br />

gerade mit dem ertrinkenden Insekt<br />

identifizierte und ihn persönlich für<br />

die Qualen verantwortlich machte.<br />

Da fiel ihm ein prinzipielles Naturkreislauf-Argument<br />

ein: „Wir können<br />

doch dem Hecht nicht die Mahlzeit<br />

klauen!“ Es half aber nichts,sondern<br />

ließ den Vater zusätzlich als<br />

Fischfeind dastehen. Er müsste doch<br />

wissen, wie gefährlich Stiche vonInsekten<br />

sind, die verschluckt werden.<br />

Im Heute das Gestern erzählen<br />

VonBernadette Conrad<br />

Wioletta Gregs neuer Roman „Die Untermieterin“ führt ins Polen der 90er-Jahre<br />

Die Liebe führtnach Tschenstochau in Wioletta Gregs Roman.<br />

Jemand hat dort Brokat gestreut,<br />

hat mit einem kosmischen<br />

Hämmerchen den Deckel<br />

durchlöchertund Scharen<br />

von Glühwürmchen aus dem<br />

schwarzenLoch gejagt“, –sokommt<br />

es der Ich-ErzählerinWiola an einem<br />

der ersten Abende vor, die sie im heruntergekommenen<br />

kleinen Hotel<br />

Wega in Tschenstochau verbringt.<br />

Eine andere Unterkunft hatte sie<br />

nicht gefunden. „Ist das nicht<br />

schön?“, sagt Wiola zur Dackelhündin<br />

Adelka beim Anblick des nächtlichen<br />

Sternenhimmels,–und es sind<br />

diese Momente intensiver Wahrnehmungen<br />

und Wiolas Fähigkeit, sie<br />

poetisch zu packen, die den eher<br />

grauen Alltag der jungen Studentin<br />

in etwas anderes verwandeln.<br />

Unddie für die Leserin die Abenteuerreise<br />

ins Polen der 90er-Jahre<br />

auch zu einem sprachlichen Vergnügen<br />

machen. Mit „Die Untermieterin“<br />

schließt die 45-jährige, mittlerweile<br />

in England lebende Wioletta<br />

Greg direkt an den erfolgreichenVorgänger<br />

„Unreife Früchte“ an, der von<br />

Wiolas Kindheit und deren Ende im<br />

schlesischen Dorf Hektary erzählte.<br />

Schon damals schimmerte Sexualität<br />

wunderbar und gefährlich aus<br />

der Erwachsenenwelt herüber; als<br />

Glücksverheißung, aber auch als Potenzial,<br />

das missbraucht werden<br />

kann.<br />

Nun also Studentin der Philologie.„Studentin“,<br />

so wird sie von den<br />

skurrilen Bewohnern der Absteige<br />

auch genannt: dem Hausmeister<br />

Waldek; den trinkfreudigen russischen<br />

Zwillingen, die immer die<br />

Flucht ergreifen, wenn sie die Stöckelschuhe<br />

der angebeteten Hotelbesitzerin<br />

Natka heranklappern hören.<br />

Auch Waldeks Liebesgeschichte<br />

ist rätselhaft. Hatte seine Liebste ihn<br />

tatsächlich belogen, als sie ihm von<br />

ihrem nächtlichen Job inder Nudelfabrik<br />

erzählte? Oder ließ sie sich<br />

stattdessen in Wahrheit vom örtlichen<br />

Mafiaboss in dessen Bordell<br />

ausbeuten?<br />

Wiola lauscht den Menschen und<br />

den Orten ihre Geschichten ab, das<br />

ist ihre Gabe. Und so erzählt sie den<br />

touristischen WallfahrtsortTschenstochau<br />

gleichsam vonunten her,aus<br />

den Untiefen und Abgründen heraus;<br />

den Leidenschaften, halbseidenen<br />

Geschäften und dem Überlebenskampf<br />

seiner Bewohner.Wiolas<br />

Zeit im Hotel Wega endet abrupt.<br />

Undvielleicht hat die alte Dame,die<br />

ihr noch in derselben Nachtein Zimmer<br />

anbietet, Wiolas Hellhörigkeit<br />

für die tieferen Schichten des Lebens<br />

gewittert? Denn sie, die sich bald als<br />

Oberin eines Klosters erweist, holt<br />

Wiola nicht nur gegen Mithilfe bei<br />

der Hausarbeit in ein Dachkämmer-<br />

GETTY IMAGES/SAMI SARKIS<br />

chen, sondern auch hinein in die<br />

nächste schicksalsschwere Geschichte.<br />

Aber es dauert eine Weile,<br />

bisWiola versteht, warum die Oberin<br />

sie immer „Anula“ nennt, von einer<br />

anderen Schwester erfährt sie, dass<br />

dies der Name ihrer von den Nazis<br />

vor vielen Jahren ermordeten Tochter<br />

war.<br />

Undsohandelt das schmale Buch<br />

nicht nur davon, wie ein junger<br />

Mensch am Beginn seines Erwachsenenlebens<br />

von einem verlorenen<br />

Ort an den nächsten geschoben<br />

wird, sondernesspürtauch mit Hilfe<br />

seiner empfindsamen Heldin den<br />

meist von keiner Vernunft einholbaren,<br />

verrückten Zusammenhängen<br />

nach, die über Zeit und Ort hinaus<br />

Menschen zusammenführen. Wiola<br />

will es auch in dem besser geheizten<br />

Dachkämmerchen nicht wirklich<br />

warm werden in diesem Winter.<br />

Nichtnur hat sie HerrnKamil immer<br />

noch nicht gefunden, in den sie sich<br />

im letzten Sommer verliebt hatte<br />

und dessen Spur sienach Tschenstochau<br />

gefolgt war. Nein, auch in der<br />

Welt jenseits von Tschenstochau<br />

wird esirgendwie kälter. „Das Neue<br />

Jahr 1995, die Zeit der Umwandlung<br />

der Eigentumsverhältnisse,der Kundenakquise,<br />

des Kabelfernsehens,<br />

der Wertpapiere, der Emission von<br />

Staatsanleihen, der Joint Ventures,<br />

der Investitionsfonds, der Finanzpyramiden<br />

und der Prophezeiungen<br />

des Weltuntergangs explodiert auf<br />

dem Bieganski-Platz.“<br />

Irgendwann taucht Herr Kamil<br />

tatsächlich auf –aber Wioletta Greg<br />

wäre nicht die Autorin, die sie ist,<br />

wenn sie damit irgendetwas als gelöst<br />

oder happy geendet erzählen<br />

wollte. Das Leben bleibt kompliziert<br />

„Meine Tage legen sich gefährlich<br />

übereinander,eine Schlinge bildend,<br />

die sich immer mehr zuzieht.“<br />

Mit der sorgsam verdichteten<br />

Sprache der Lyrikerin, sensibel von<br />

Renate Schmidgall übersetzt, gelingt<br />

Wioletta Greg ein Erzählgebäude, so<br />

luftig, dass die Geschichte selbst, bis<br />

zurück zu den Schrecken der Nazis,<br />

hindurchwehen kann. Es gibt Dinge,<br />

die auch 50 Jahre später so frisch<br />

sind, als wären sie gestern passiert:<br />

Geschichte ist eben nicht vergangen,<br />

sondern in Menschen und Orten<br />

aufbewahrt, und wartet auf hellhörige<br />

Autorinnen wie Wioletta Greg,<br />

die es verstehen, im Heute immer<br />

auch das Gesternzuerzählen.<br />

WiolettaGreg:<br />

Die Untermieterin.<br />

Roman. Ausdem Polnischen<br />

vonRenate Schmidgall.<br />

Verlag C.H. Beck,<br />

München 2019.<br />

154 S.,19,95 Euro<br />

Das Buch erscheint am<br />

18. Juli.<br />

NACHRICHTEN<br />

Leipziger Ausstellung<br />

zeigt Kunst der Wendezeit<br />

Dreißig Jahrenach der Friedlichen<br />

Revolution behandelt das Leipziger<br />

Museum der bildenden Künste () in<br />

einer großen Ausstellung dieWendezeit.<br />

„Die Künstler haben in vielen<br />

Fällen den Umbruch antizipiert“,<br />

sagte Paul Kaiser,Direktor des<br />

Dresdner Instituts für Kulturstudien,<br />

am Montag. Kaiser kuratierte die<br />

Schau gemeinsam mit Christoph<br />

Tannert, Leiter des Künstlerhauses<br />

Bethanien in Berlin sowie Alfred<br />

Weidinger,Direktor des Leipziger<br />

Museums.Die Schau „Point of No<br />

Return. Wende und Umbruch in der<br />

ostdeutschen Kunst“ zeigt auf etwa<br />

2000 Quadratmeternmehr als 300<br />

Werkealler Gattungen von106<br />

Künstlern. (dpa)<br />

„Avengers: Endgame“ löst<br />

„Avatar“ in Hitliste ab<br />

DerSuperhelden-Film„Avengers:<br />

Endgame“ ist seit demWochenende<br />

der weltweit erfolgreichste Film der<br />

Kinogeschichte.Ersteht nun laut vorläufigen<br />

Zahlen der Branchenseite<br />

BoxOffice Mojo bei 2,7902 Milliarden<br />

Dollar (2,484 Milliarden Euro)weltweitem<br />

Einspiel und hat damit die<br />

alte Bestmarke von„Avatar“ überboten.<br />

Insgesamt besitzeDisney die<br />

Rechte an sieben der zehn kommerziell<br />

erfolgreichsten Filme der Geschichte,berichtet„Variety“.<br />

Rechnet<br />

man historische Summen auf das<br />

heutige Preisniveau hoch, ist immer<br />

noch der 1939 veröffentlichte Film<br />

„VomWinde verweht“ der Spitzenreiter<br />

in Nordamerika. (dpa)<br />

„Kirche der Apostel“ am See<br />

Genezareth entdeckt<br />

Israelische Archäologen haben eine<br />

mindestens 1500 Jahrealte Kirche in<br />

der Nähe des Sees Genezareth in<br />

Nordisrael entdeckt. Siegehen davonaus,dass<br />

die Kirche über dem<br />

Haus der Jesus-Apostel Petrus und<br />

Andreas errichtet worden ist, und<br />

berufen sich auf eine Erzählung des<br />

Bischofs Willibald vonEichstätt aus<br />

dem 8. Jahrhundert. DieKirche sei<br />

vermutlich 20 mal 30 Meter groß,<br />

sagte der Direktor der Ausgrabung,<br />

Mordechai Aviam. Bisher hätten sie<br />

nur ein Drittel ausgegraben. (dpa)<br />

UNTERM<br />

Strich<br />

Kleingarten<br />

Großer<br />

Nützling<br />

VonSabine Rohlf<br />

Esgibt sie in Berlin in Parks, Brachen, Hinterhöfen<br />

und, natürlich, Kleingärten.<br />

ZumBeispiel bei uns.Hundehaufenähnliche<br />

Gebilde deuteten schon darauf hin, nun ist<br />

es bestätigt: In unserer Kolonie wohnt ein<br />

Fuchs. Meine Nachbarn links fingen ihn mit<br />

einer Wildtierkamera, die Familie rechts von<br />

uns mit einem Handyfoto ein. Mutter,Vater<br />

und zwei Kinder beobachten ihn regelmäßig<br />

beim Nickerchen. Bei uns beobachtet der<br />

Fuchs uns. Als mein Mann neulich auf einer<br />

Leiter stand und sägte,saß das Tier zwei Meter<br />

hinter ihm und schaute zu. Freundlich<br />

gebeten, sich doch bitte zu verziehen,<br />

schlenderte er würdevoll über den Plattenwegund<br />

durch die Parzellentür davon.<br />

Wirsind daran gewöhnt, mit Vögeln oder<br />

Insekten, Fröschen und Fischen, mit Kaninchen<br />

und Eichhörnchen, ja zur Notauch mit<br />

Ratten einen Lebensraum zu teilen. Die<br />

meisten von ihnen sind scheu, oder wenn<br />

nicht, jedenfalls klein. Aber einen Fuchs im<br />

Garten zu treffen, ist ein merkwürdiges Gefühl.<br />

Als ich jung war, wurden Füchse systematisch<br />

vergiftet. Wegen Tollwut. Damals<br />

hätte man gesagt, dass so ein tiefenentspanntes<br />

Tier wie bei uns bestimmt an dieser<br />

teuflischen Krankheit leide, die Wildes erst<br />

zahm, dann irreund bissig macht.<br />

Aber dieser Fuchs ist offenbar gesund.<br />

Schon vieleWochen ist er so unängstlich, wie<br />

er ist, was nicht unbedingt zutraulich heißt.<br />

Vorsichtig ist er durchaus, aber auf eine lässige<br />

Art. Er rennt nicht weg, sonderngeht. Er<br />

traut uns offenbar nichts Böses zu. Und tatsächlich<br />

hat er nichts zu befürchten, zumal<br />

ich davon überzeugt bin, dass er am Komposthaufen<br />

nicht nur Obstreste, sondern<br />

CHRISTINA BRETSCHNEIDER<br />

Ratten, Mäuse und Nacktschnecken verspeist.<br />

Eingroßer Nützling sozusagen.<br />

Wäre danicht der Fuchsbandwurm. Er<br />

gelangt über infizierten Kot inandere Tiere<br />

einschließlich Menschen und richtet dort<br />

enormen Schaden an. Er kann anderthalb<br />

Jahrzehnte unentdeckt bleiben und uns<br />

dann plötzlich mit zerstörten inneren Organen<br />

(meist die Leber) schocken. Im Internet<br />

lerne ich, dass Berlin nicht zu den Risikogebieten<br />

gehört, dass ich Kot wegräumen und<br />

die bekackte Stelle mit kochendem Wasser<br />

begießen solle. Außerdem empfiehlt es sich,<br />

Früchte und Pflanzen gründlich waschen.<br />

Das tue ich ohnehin, auch um den städtischen<br />

Feinstaub zu entfernen. Und alle Experten,<br />

die ich finde,sagen: Vorsicht, ja, aber<br />

bloß keine Panik. Und überhaupt finde ich<br />

den neuen Parzellenbewohner hinreißend<br />

schön, eindrucks-, ja verheißungsvoll –vermutlich<br />

liegt auch die Zukunft seiner Art im<br />

urbanen Raum, womöglich versöhnen sich<br />

hier eines Tages Mensch und Tier.<br />

Daher hoffe ich, dass diese Kolumne ihm<br />

keinen Ärger bereitet, dass niemand kommt,<br />

um ihn einzufangen oder Schlimmeres. Via<br />

Wildkameraist er sowieso schon geoutet, sie<br />

hängt dortimDienste eines Forschungsprojektes.<br />

Und wenn doch eines Tages Unbill<br />

drohen sollte, alarmiere ich alle Tierschutz-<br />

Netzwerke, die mir einfallen und alle Kreativen,<br />

die schon immer zu Interspezies-Interaktion,<br />

zu mythenumrankten Raubtieren<br />

oder irgendeinem animalischen Dingsbums<br />

arbeiten wollten. Oder einfach die netten<br />

Leute aus der Kolonie.Das ist das Schöne an<br />

Lebensräumen in der Stadt: Man ist nie allein,<br />

wederTier noch Mensch. DerFuchs hat<br />

sich längst daran gewöhnt und ahnt sowieso<br />

nichts von meiner Schreiberei. Wahrscheinlich<br />

hält er gerade Siesta. Aufmeinem Rasen<br />

oder vorm Schuppen nebenan.

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