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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 192 · D ienstag, 20. August 2019 – S eite 19 *<br />
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Feuilleton<br />
Tradition oder Biologie:<br />
Sollen Knabenchöre<br />
Mädchen aufnehmen?<br />
Seite 20<br />
„Lassen Sie sich überraschen. Oder eben enttäuschen.“<br />
Markus Schneider rät zum so oder so erhellenden Besuch des Pop-Kultur-Festivals Seiten 22 und 23<br />
Kunstprovokation<br />
Der Wolf<br />
und die AfD<br />
Ingeborg Ruthe<br />
ist gespannt, ob Potsdam<br />
die Aktion zulässt.<br />
Eswar einmal ein berühmter Bildhauer,<br />
Alfred Hrdlicka aus Wien,<br />
der wollte nach der Wiedervereinigung<br />
den Deutschen einen bronzenen<br />
Schreibtischtäter vor den<br />
Reichstag setzen. Als historische<br />
Warnung. Der Aufschrei im Mitte-<br />
Rechts-Spektrum war laut. Dann<br />
würdigten Kunstexperten den realistischen<br />
Stil des linken Provokateurs<br />
als Anachronismus herab.<br />
Jetzt, 2019 und zwei Wochen vor<br />
der Landtagswahl in Brandenburg,<br />
will der Bildhauer Rainer Opolka einen<br />
Bronze-Wolf vor die Potsdamer<br />
AfD-Zentrale stellen. DiePfote erhoben<br />
zum Hitlergruß. Eine Provokation.<br />
Warnung vor einem Wahlerfolg<br />
der Rechtspopulisten. Opolka graust<br />
davor; erhofft auf die SPD. Zusammen<br />
mit seinem Zwillingsbruder<br />
Harald wurde er Millionär durch<br />
LED-Technik-Produktion; die beiden<br />
sind Besitzer des Schlosses Hubertushöhe<br />
bei Storkow, wollen dort<br />
einen öffentlichen Kunstpark entwickeln.<br />
Die Stahllettern MUT hat<br />
Opolka vorm Eingang aufgestellt.<br />
Mutig will er heute in Potsdam<br />
dem AfD-Spitzenkandidaten Andreas<br />
Kalbitz einen offenen Brief<br />
überreichen. An der Aktion ist auch<br />
die Vorsitzende des Förderkreises<br />
Denkmal für die ermordeten Juden<br />
Europas, Lea Rosh, beteiligt. Opolka<br />
begründet den Akt so: Kalbitz marschiere„gemeinsam<br />
mit Rechtsradikalen<br />
und Neonazis“, die „unverblümt<br />
den Hitlergruß zeigten“.<br />
Wölfe, inAnspielung auf Wolfsschanze<br />
und NS-Werwölfe, dienen<br />
ihm als Symboltiere für immer wieder<br />
kritisierte Zustände der Gesellschaft.<br />
Er stellte sie in Chemnitz auf,<br />
als der rechte Mob marschiert war.<br />
Und unlängst in Kassel, wo ein<br />
Rechtsradikaler den dortigen Regierungspräsidenten<br />
ermordete.<br />
Opolka zeigt mit seiner Symbolik Zivilcourage.<br />
Verquer nur, dass in<br />
Brandenburg gerade eine heftige<br />
Wolfsdebatte herrscht. Bauern fordern<br />
Abschüsse der Population und<br />
die Naturschützer absoluten Schutz.<br />
Symbolik ist eben leider zwiespältig.<br />
Die Glitzerdemos des Vereins Die Vielen e.V.sind der AfD ein DornimAuge. Aber sie sind privat initiiertund genießen keine etwaigen „geldwerten Vorteile“ des Landes.<br />
Nicht ohne meine Rettungsdecke<br />
Der Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses diskutiert den Haushaltsentwurf 2021/2022<br />
VonPetraKohse<br />
Die Freien Szenen des kulturellen<br />
Berlins waren<br />
gut vertreten, als am<br />
Montagmorgen im Kulturausschuss<br />
des <strong>Berliner</strong> Abgeordnetenhauses<br />
die erste Haushaltslesung<br />
stattfand. „Präsenz zeigen!“, riefen<br />
sich Tänzerinnen, Literaten oder<br />
Musikerinnen im Foyer des Gebäudes<br />
gegenseitig zu –mussten dann<br />
aber in einem „Multivisionsraum“<br />
Platz nehmen, in dem sie die Sitzung<br />
verfolgen konnten, für die Abgeordneten<br />
aber gar nicht sichtbar waren.<br />
Trotzdem hatte natürlich jede<br />
Partei ihre Klientel im Kopf. Als sich<br />
alle anfangs reihum zum Haushaltsentwurf<br />
von Kultursenator Lederer<br />
kurz positionieren durften, fragte<br />
Frank Jahnke vonder SPD etwa nach<br />
bisher unberücksichtigten Publikumseinrichtungen<br />
wie dem Zille-<br />
Museum oder der Urania. Robbin<br />
Juhnke vonder CDU fand die Digitalisierung<br />
„unterbewertet“ und vermisste<br />
die Erfolge in der Raumbeschaffung.<br />
Die Linke in Person von<br />
Regina Kittler lobte das Engagement<br />
in Sachen Dekolonisierung und<br />
wollte Inklusion und soziale Mindeststandards<br />
für Kulturschaffende<br />
noch mehr in den Blick rücken.<br />
Sibylle Meister für die FDP erinnerte<br />
indessen an die Notwendigkeit,<br />
die Gedächtniskirche zu sanieren<br />
und Geld aus dem Kulturetat für<br />
Kunst auszugeben, nicht für Miete<br />
und Bildung. Daniel Wesener von<br />
Bündnis 90/Die Grünen betonte die<br />
Bedeutung der Freien Szene. Und<br />
Dieter Neuendorfvon der AfD fragte<br />
nach der Legitimität einer erhöhten<br />
Kulturfinanzierung in Zeiten eines<br />
sinkenden Bruttoinlandsproduktes<br />
– insbesondere, wenn es sich um<br />
„ideologische“Vorhaben wie das Dekolonisierungsprojekt<br />
oder die (gar<br />
nicht öffentlich finanzierte) Kulturinitiativeder<br />
Vielen handle.Darüber<br />
hinaus wollten fast alle die Kinderund<br />
Jugendtheater gestärkt wissen,<br />
dass es da Nachbesserungen gibt, ist<br />
sehr wahrscheinlich.<br />
Das Procedere ist ja wie folgt: In<br />
monatelanger Arbeit stellen die Verwaltungen<br />
die neuen Haushalte auf,<br />
was im vorliegenden Fall einen Plan<br />
von gut 200 Seiten ergeben hat, der<br />
jetzt, gegen Ende des aktuellen<br />
Haushaltsdoppeljahres, in insgesamt<br />
drei Lesungen von den Abgeordneten<br />
hinterfragt werden kann.<br />
Dieses „Budget-Recht“ sei, wie es<br />
„Wenn man alles priorisiert,<br />
priorisiert man am Ende gar nichts mehr.“<br />
Klaus Lederer, Senator für Kultur und Europa (Die Linke)<br />
Daniel Wesener ausdrückte,ein politisches<br />
Privileg, das aber –und hier<br />
blickte er fest zur AfD auf der Seite<br />
der Oppositionsparteien hinüber –<br />
da ende,wodie Kunst- und die Meinungsfreiheit<br />
beginne.<br />
DieAfD nämlich hat zum Fragenkatalog<br />
der ersten Sitzung nicht nur<br />
mehr als ein Drittel der Nachfragen<br />
beigesteuert – Fragen, die sie sich<br />
durch die Lektüre der zum Haushaltsentwurf<br />
gehörigen Wirtschaftspläne<br />
leicht selbst beantworten<br />
könnte, wie immer wieder angemerkt<br />
werden musste –, sondern<br />
DIE VIELEN<br />
versucht auch, etwa im Fall des<br />
Gorki-Theaters, Zuschüsse in Abhängigkeit<br />
von Inhalten zu diskutieren.<br />
Natürlich lässt sich das leicht<br />
abweisen, und gerninformiertKlaus<br />
Lederer darüber,dass er seine eigene<br />
Rettungsdecke (die Folie ist das Symbol<br />
der Vielen) selbstverständlich<br />
selbst bezahlt hätte.Aber es hält auf.<br />
Insgesamt war die Stimmung<br />
dennoch gut, schließlich wächst der<br />
Kulturetat beachtlich: 2020 sind<br />
593,2 Millionen Euro zu verteilen,<br />
2021 sogar 606,8 Millionen (2019:<br />
538,8 Millionen). Gleichwohl kann<br />
man, wie der Senatorsagte und mehrere<br />
Abgeordnete begeistert wiederholten,<br />
nicht alles priorisieren, weil<br />
man sonst gar nichts mehr priorisiere.<br />
DieKulturverwaltungselbstsetzt<br />
im kommenden Doppelhaushalt auf<br />
ein Kulturinvestitionsprogramm, auf<br />
Ausstellungsetats für die Landesmuseen,<br />
auf den Ausgleich der Tarifsteigerungen,<br />
eine professionelle Teilhabeforschung,<br />
eintrittsfreie Museumssonntage<br />
und ein Dekolonisierungsprojekt.<br />
Was davon bleibt,<br />
wenn bis zur nächsten Lesung am 16.<br />
September alle Nachfragen beantwortet<br />
und spätestens in der dritten<br />
Beratung am 6. November auch die<br />
Umschichtungsdiskussion geführt<br />
wurde –wir berichten.<br />
NACHRICHTEN<br />
Dokfilmerin Heidi Specogna<br />
erhält Konrad-Wolf-Preis<br />
DieSchweizer Dokumentarfilmregisseurin<br />
Heidi Specogna (60) erhält in<br />
diesem Jahr den Konrad-Wolf-Preis<br />
der Akademie der Künste.Die mit<br />
5000 Euro dotierte Auszeichnung soll<br />
am 20. Oktober in Berlin übergeben<br />
werden,wie die Akademie mitteilte.<br />
DieJurywürdigte in ihrer Begründung<br />
SpecognasBeharrungsvermögen,<br />
das es ihr ermögliche,„die persönliche<br />
Geschichte ihrer Protagonisten<br />
vordem politischenHintergrund<br />
ihrer Länder –hauptsächlich Lateinamerika<br />
und Afrika –aufzufächern“.<br />
Specogna drehte 1991 den Film„Tania<br />
La Guerrillera“ über Tamara<br />
Bunke.Zuletzt verlagerte sie ihreAufmerksamkeit<br />
auf Afrika, etwa mit<br />
„Carte Blanche“ (2011) oder„Cahier<br />
Africain“ (2016). (dpa)<br />
Goethe-Institut würdigt<br />
Hongkonger Kulturszene<br />
DieLeiterin des Goethe-Instituts in<br />
Hongkong, Almuth Meyer-Zollitsch,<br />
würdigte Künstler und Kreative, die<br />
die Protestbewegung in der Sonderverwaltungszone<br />
unterstützen. Im<br />
Deutschlandfunk Kultur berichtete<br />
Meyer-Zollitsch, dass Filmemacher<br />
rund um die Uhrmit den Demonstranten<br />
unterwegs seien, um die gestiegene<br />
Polizeigewalt zu dokumentieren.<br />
Täglich erschienen professionell<br />
produzierte Filme mit Kommentaren<br />
im Netz, damit dieWelt erfahre,<br />
was in Hongkong passiere. (BLZ)<br />
Filmuniversität Babelsberg<br />
doppelt im Oscar-Rennen<br />
Gleich zwei der drei für den sogenannten<br />
Studenten-Oscar der Academy<br />
of Motion PictureArtsand Sciences<br />
nominierten Kurzfilme von<br />
deutschen Filmhochschulen sind<br />
Produktionen der Filmuniversität<br />
Babelsberg„Konrad Wolf“, wie die<br />
Universität mitteilt. In der Sparte<br />
Animationsfilm kann der Kurzfilm<br />
„Love me,fear me“ vonVeronica Salomon<br />
mit einer Auszeichnung rechnen.<br />
„Rumors“ vonNicole Aebersold<br />
tritt in der Kategorie Alternative/Experimental<br />
an. Vonder Hochschule<br />
für Film und Fernsehen München<br />
stammt Gisela Carabajal Rodríguez’<br />
„Oroblanco“, der in der Dokfilmkategorie<br />
nominiertist. (BLZ)<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Fontane der Woche<br />
Das Geheimnis<br />
der Hummeln<br />
VonFelix Latendorf<br />
Am 15. September 1849 schickte Fontane<br />
an Bernhard von Lepel −beide zu<br />
diesem Zeitpunkt aktive Mitglieder im<br />
„Tunnel über der Spree“ − sein Gedicht<br />
„Bienen-Winkelried“ und bedachte es mit<br />
diesen Zeilen: „Beifolgend wieder mal ein<br />
Gedicht […]. Ich hab es mit großer Liebe<br />
gearbeitet, was Du mindestens aus dem<br />
Formellen ersehen wirst. Es ist kein politisches<br />
Gedicht. Als solches gelesen verfehlt<br />
es all und jede Wirkung. Bloßer Spaß.“<br />
Die titelgebende Anspielung auf den<br />
schweizerischen Legendenhelden Arnold<br />
Winkelried samt weiteren antiken Heldengeschichten<br />
lässt Fontanes Selbsteinschätzung<br />
besonders im Nach-Revolutionsjahr kritisch<br />
erscheinen. Auch Lepel zögerte diesbezüglich<br />
mit seinem Urteil: „Mit der Bienenschlacht<br />
bin ich noch nicht im Reinen. Fast<br />
weiß ich nicht, würd’ ich es tadeln, wenn es<br />
ein politisches Gedicht wäre, oder soll ich es<br />
tadeln, dass es keins ist?!“<br />
Fernab von anspielungsreichen Tiefen<br />
und politischen Dimensionen des Gedichts<br />
offenbart das „Bienen-Winkelried“ eine weitereBesonderheit,<br />
fast schon eine Einzigartigkeit<br />
im Werkkosmos Fontanes. Denn auf der<br />
prosaischen Oberfläche des zwölf Strophen<br />
umfassenden Gedichts wird von einer<br />
Schlacht zwischen Bienen und Wespen gedichtet.<br />
Als Sieger gehen die Bienen hervor,<br />
was einem volkstümlichen Gedankengut folgend<br />
legitim erscheint. Dafür musste sich jedoch<br />
der Bienen-Winkelried aus ihren Reihen,<br />
ganz nach der Legende,opfern.<br />
Doch in Strophe sieben tritt eine dritte<br />
Partei in die Schlacht ein –die Hummeln:<br />
„Aber mit Waffen, schartig, /Hummeln und<br />
BARBARA WREDE<br />
andere mehr, /Fallen jetzt landsturmartig /<br />
Über die Flüchtigen [Wespen] her“. Hierin<br />
liegt die Einzigartigkeit!<br />
Denn Fontanes Gebrauch des Wortes<br />
Hummel tendiertinseinemWerkgegen Null.<br />
Dortund hier erscheint in seinen Romanen,<br />
Dichtungen oder Briefen eine Biene oder<br />
Wespe –wie in Waldemars Worten zu Stine:<br />
„Ich sehne mich danach, einen Bienenstock<br />
ausschwärmen zu sehen.“ Aber dieHummel<br />
wird ausgespart. Bewusst? Wieso Fontane<br />
die Hummeln außen vorbehält, mochte nur<br />
er beantworten. Umso spannender gestaltet<br />
sich daher der Einsatz der Hummeln, also<br />
größten Echten Bienen im Gedicht. Sie sind<br />
es, die die flüchtigen Wespen verfolgen.<br />
Nicht nur das. Auch den Trauerzug für den<br />
gefallenen Winkelried führen sie an: „Vorne,<br />
drei Hummelbrummer /Schritten ernst und<br />
barsch, /Trommelten in Kummer /Ihren<br />
Trauermarsch“.<br />
Der Binnenreim erzeugt eine Überhöhung<br />
der Hummel, stellt sie einmal mehr als<br />
die stolzeste und stärkste Artder Bienen heraus.<br />
Für die Geschichte, die Schlacht, die in<br />
dem Gedicht verhandelt wird, fungiert das<br />
Auftreten der Hummeln als Zeichen der unausweichlichen<br />
Niederlage der Wespen. Und<br />
zugleich erweist ihr Voranmarschieren beim<br />
Trauermarsch dem gefallenen Bienen-Winkelried<br />
die höchste Ehre.<br />
Würde diese allegorische Spur verfolgt<br />
und auf eine politische Ebene angehoben<br />
werden, könnte gefragt werden, welche Partei,<br />
welchen Staat, wen überhaupt Fontane<br />
in der Rolle der Hummel gesehen und damit<br />
glorifiziert hätte. Doch Fontane wollte das<br />
Politische eben partout aus seinem Gedicht<br />
wissen und keine Partei ergreifen, wie das<br />
vorangestellte Motto belegt: „Nur kein Gegrübel.<br />
/Was es sei; /Wohl oder übel –/Der<br />
Scherzist frei.“