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Berliner Zeitung 20.08.2019

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20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 192 · D ienstag, 20. August 2019<br />

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Feuilleton<br />

Das hörbare Geschlecht<br />

Bei der Frage, ob Mädchen im Knabenchor mitsingen dürfen, geht es weniger um Gerechtigkeit als um Kunstfreiheit. Zum Stand der Forschung<br />

VonAnn-Christine Mecke<br />

Es heißt doch Knabenchor,<br />

oder? Es klang wie eine<br />

Meldung aus dem „Postillon“:<br />

Ein neunjähriges<br />

Mädchen wollte sich in einen Knabenchor<br />

einklagen und unterlag damit<br />

vor dem Landgericht. Entsprechend<br />

groß war die Häme,die sich in<br />

den sozialen Netzwerken über die<br />

Mutter ergoss, die als Rechtanwältin<br />

ihre Tochter vertrat: „Welchen Teil<br />

des WortsKnabenchor hat diese Helikoptermutter<br />

im Genderwahn<br />

nicht verstanden?“<br />

DasOriginalinstrument<br />

Handelt es sich also nur um ein Verständnisproblem?<br />

So einfach ist es<br />

nicht. Wer argumentiert, dass sich<br />

Knaben- und Mädchenchöre nun<br />

mal –wie der Name andeutet –im<br />

Geschlecht ihrer Mitglieder unterschieden,<br />

unterschlägt, dass es sich<br />

auch jenseits dessen um grundverschiedene<br />

Institutionen handelt:<br />

Knabenchöre bestehen in der Regel<br />

aus Jungen vor dem Stimmwechsel<br />

in Sopran und Alt und aus Männern<br />

(Begriffsanalytiker müsste das eigentlich<br />

überraschen) in Tenor und<br />

Bass. Für die Ausbildung der hohen<br />

Stimmen bleibt wenig Zeit: Mit elf<br />

sollte ein Sänger Konzertreife erreicht<br />

haben, denn mit zwölf oder<br />

dreizehn Jahren ist meistens Schluss<br />

mit der hohen Stimme. Entsprechend<br />

effizient und intensiv muss<br />

die Ausbildung sein. Knabenchöre<br />

sind besondere Klangkörper, weil<br />

viel Musik für sie komponiertwurde;<br />

sie sind das„Originalinstrument“ für<br />

die geistliche Musik von Heinrich<br />

Schütz oder Johann Sebastian Bach.<br />

Ihr Repertoire ist oft durch solche<br />

Musik geprägt, und das Repertoire<br />

prägt wiederum den Klang.<br />

Mädchenchörehingegen können<br />

sich für die Ausbildung mehr Zeit<br />

lassen. DieStimme der Sängerinnen<br />

ändertsich zwar auch im Umfeld der<br />

Pubertät, aber nicht so stark. Die<br />

Sängerinnen der bedeutenden Mädchenchöre<br />

sind oft schon 15 oder 17<br />

Jahre alt, wenn sie in Konzerten auftreten,<br />

die Elfjährigen befinden sich<br />

noch in der Ausbildung. Männerstimmen<br />

haben Mädchenchörenormalerweise<br />

nicht zur Verfügung,<br />

schon deshalb ergibt sich ein anderesRepertoire,<br />

das eher vonRomantik<br />

und Neuer Musik geprägt ist. Ja,<br />

von Neuer Musik, weil es Mädchenchöre<br />

und speziell für sie komponierte<br />

Musik erst seit Mitte des 20.<br />

Jahrhundertüberhaupt gibt.<br />

Der Zugang zu Repertoire und<br />

Ausbildungsstruktur der berühmten<br />

Knabenchöre bleibt Mädchen also<br />

„Auch und gerade, wenn wir den Klang von Knabenstimmen lieben, müssen wir neugieriger werden auf die Stimmen der Mädchen!“<br />

prinzipiell verschlossen, und das hat<br />

zunächst nichts mit Biologie, sondern<br />

mit Geschichte und Tradition<br />

zu tun. Zugegeben: Die Anzahl von<br />

elfjährigen Mädchen, die untröstlich<br />

sind, weil ihnen verwehrtwird, Bach<br />

und Schütz im vierstimmigen Satz<br />

zu singen, dürfte gering sein. Undfür<br />

diese Mädchen ließen sich bestimmt<br />

pragmatische Lösungen finden, die<br />

sie glücklicher machten als ein Gerichtsverfahren.<br />

Gläserne Decke<br />

DieUnterschiede gehen jedoch weiter:Seit<br />

Beginn der abendländischen<br />

Musikgeschichte sind Knabenchöre<br />

nicht nur Klangkörper, sondern<br />

auch Ausbildungsinstitutionen einer<br />

musikalischen Elite. Sie singen mit<br />

den besten Orchesternund Dirigenten,<br />

gehen weltweit auf Tournee und<br />

füllen die Konzertsäle. Die Einnahmen<br />

daraus helfen, den personalaufwendigen<br />

Betrieb aufrechtzuerhalten.<br />

Darüber hinaus erhalten die<br />

großen Knabenchöre erhebliche öffentliche<br />

Fördermittel; Thomanerchor<br />

und Dresdner Kreuzchor beispielsweise<br />

sind städtische Institutionen.<br />

Das sind Privilegien, die die<br />

Chörefür Sänger und Elternattraktiv<br />

machen und zum Beispiel bei einem<br />

späteren Musikstudium Vorteile verschaffen.<br />

Prominente Mädchenchöre<br />

mit ähnlichen finanziellen<br />

Mitteln und Qualität gibt es mittlerweile<br />

auch, aber es sind sehr wenige.<br />

Mädchen singen mindestens genauso<br />

gerne und gut wie Jungen,<br />

schaffen es aber seltener an die<br />

Spitze. Im beruflichen Bereich nennt<br />

man so etwas die „Gläserne Decke“.<br />

Mit den staatlichen Leistungen<br />

hatte die Klägerin argumentiert, die<br />

im an die Universität der Künste angegliederten<br />

Staats- und Domchor<br />

Berlin singen wollte: Mädchen seien<br />

von der Teilhabe an diesen öffentlichen<br />

Leistungen prinzipiell ausgeschlossen,<br />

und das sei Diskriminierung.<br />

Das Gericht kam jedoch zu<br />

dem Schluss,dass die Kunstfreiheit –<br />

die Freiheit des Chorleiters,die Stimmen<br />

für den Chor auszuwählen –<br />

hier höher zu bewerten sei als die<br />

Gleichbehandlung der Geschlechter.<br />

Mit Kunstfreiheit ist die Ablehnung<br />

GETTY IMAGES/ADAM LONG<br />

vonMädchen aber nur zu rechtfertigen,<br />

wenn man den Unterschied<br />

zwischen Knaben- und Mädchenstimmen<br />

hören kann.<br />

Kann man das überhaupt? Dasist<br />

Gegenstand empirischer Untersuchungen.<br />

Ein entsprechendes Experiment<br />

habe ich vor einiger Zeit<br />

selbst durchgeführt. Dazu haben wir<br />

in der Arbeitsgruppe einerseits die<br />

Stimmen von Mädchen und Jungen<br />

aufgenommen, die gemeinsam im<br />

Gesang ausgebildet werden, andererseits<br />

Sänger eines berühmten<br />

Knabenchors. Die Aufnahmen haben<br />

wir zunächst physikalisch analysiert:<br />

Welche Obertonbereiche sind<br />

in der Stimme prominent? Wie viel<br />

Atemhauch ist zu hören? Wie regelmäßig<br />

schwingen die Stimmlippen?<br />

Dann haben wir die Beispiele einer<br />

Gruppe von Expertinnen vorgespielt,<br />

die das Geschlecht der Kinder<br />

erkennen sollten.<br />

Zwei Ergebnisse dieses Versuchs<br />

sind für die aktuelle Diskussion besonders<br />

wichtig. Erstens: Die Expertenhörerinnen<br />

konnten Jungen und<br />

Mädchen am Klang auseinanderhalten.<br />

Die Trefferquote lag bei 66 Prozent<br />

und damit signifikant über der<br />

Zufallswahrscheinlichkeit. Zweitens:<br />

Bei der physikalischen Analyse unterschieden<br />

sich die Jungen aus den<br />

beiden Chören stärker voneinander<br />

als Mädchen und Jungen aus demselben<br />

Chor. Der Einfluss von<br />

Stimmbildung, Klangidealen und<br />

Auswahl der Mitwirkenden ist also<br />

stärker als der des Geschlechts; Mädchen-<br />

und Jungenstimmen sind unterschiedlich,<br />

aber nicht fundamental<br />

unterschiedlich.<br />

Richtige Entscheidung<br />

Rechtfertigt ein so feiner Unterschied<br />

die Existenz von reinen Knaben-<br />

und Mädchenchören? Ja, das<br />

Gericht hat richtig entschieden,<br />

denn in der Kunst geht es nun mal<br />

um feine Unterschiede. ObMartha<br />

Argerich am Klavier sitzt oder Yuja<br />

Wang, ob die Rockgitarristin eine<br />

Stratocaster oder Telecaster bearbeitet<br />

und ob ein Bild vonDürer ist oder<br />

nur aus seiner Werkstatt –das sind<br />

Dinge,über die sich selbst Fachleute<br />

mal irren können und die doch entscheidend<br />

sind. Gerechtigkeit ist in<br />

diesem Bereich weniger wichtig:<br />

Niemand würde wohl fordern, dass<br />

Martha Argerich nun oft genug mit<br />

der Staatskapelle zu hören war und<br />

wegen der Gleichbehandlung eine<br />

anderePianistin zum Zuge kommen<br />

sollte.<br />

Gerade weil die Kunstfreiheit aber<br />

einen so hohen Stellenwert hat,<br />

müssen sich die Verantwortlichen<br />

immer wieder prüfen, ob es in ihren<br />

Entscheidungen wirklich nur um<br />

Kunst geht. In der Theaterwelt werden<br />

solche Verzerrungen seit einiger<br />

Zeit diskutiert: An den großen Häusern<br />

inszenieren vorrangig Männer,<br />

obwohl es reichlich gute Regisseurinnen<br />

gibt. Da liegt die Vermutung<br />

nahe, dass nicht alle Entscheidungen<br />

künstlerische waren, auch wenn<br />

es den Beteiligten so schien.<br />

Gleichwertige Mädchenchöre<br />

Ähnliche Mechanismen könnten<br />

auch bei den Konzertbuchungen<br />

von Mädchen- und Knabenchören<br />

wirksam sein. Gefragt sind hier nicht<br />

nur Dirigentinnen und Intendanten,<br />

sondern auch Menschen, die Konzertkarten<br />

und CDs erwerben. Auch<br />

und gerade,wenn wir den Klang von<br />

Knabenstimmen lieben, müssen wir<br />

neugieriger werden auf die Stimmen<br />

der Mädchen! Und wir müssen ihnen<br />

die gleichen Chancen bieten,<br />

auch finanziell. In diesem Sinne<br />

könnte der Prozess des Mädchens,<br />

auch wenn es diesen verloren hat,<br />

politische Wirksamkeit entfalten.<br />

Der Staats- und Domchor Berlin<br />

allerdings war in diesem Kampf der<br />

falsche Gegner, denn er hat bereits<br />

einen gleichwertigen Mädchenchor,<br />

mit dem er zusammenarbeitet, auch<br />

wenn hinter beiden Chören verschiedene<br />

Institutionen stehen: Der<br />

Mädchenchor der Sing-Akademie zu<br />

Berlin bietet ebenfalls eine hervorragende<br />

Ausbildung und steht musikalisch<br />

nicht schlechter da als sein<br />

Partnerchor –manche würden sogar<br />

sagen: besser.<br />

Dass die bedeutenden Mädchenchöre<br />

der Stadt (auch der <strong>Berliner</strong><br />

Mädchenchor wäre hier zu nennen)<br />

in der öffentlichen Diskussion dieses<br />

Falls keine Rolle spielen, dass die<br />

Mitwirkung in diesen hervorragenden<br />

Ensembles wie ein Trostpreis<br />

wirkt, ist das eigentlich Traurige. Es<br />

unterstreicht, dass es wirklich um<br />

mehr geht als um das Verständnis<br />

des Worts„Knabenchor“.<br />

Ann-Christine Mecke ist Operndramaturgin<br />

und Musikwissenschaftlerin. Sie promovierte<br />

überden Umgang mit dem Stimmwechsel in der<br />

Musikgeschichte und forschtüber Klang und<br />

Rezeptionvon Kinderstimmen.<br />

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