Leseprobenheft BuchBerlin 2019
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Wohin du gehen wirst<br />
Zeitgeschichtlicher Familienroman<br />
Im Mai 1915 wurden auf dem Weg zur Grube ’Kamerad’ zwei<br />
lange Baracken gebaut und mit einem hohen Stacheldrahtzaun<br />
umgeben. Eines Nachmittags rannte der dürre Klaus durchs<br />
Dorf, als seien die Hunde hinter ihm her, und schrie: „De<br />
Franzen komm’! De Franzen komm’!“<br />
Tatsächlich folgte ihm ein Zug Kriegsgefangener, mindestens<br />
hundert Männer. Sie trotteten durch Naundorf hindurch und<br />
verschwanden in den Baracken hinter dem Stacheldraht.<br />
Die Franzosen arbeiteten in der Grube ’Kamerad’ und wurden<br />
von Merseburg aus mit Nahrungsmitteln versorgt.<br />
„Die kriegn mehr, als unsereener uff ’n Tisch bring’ kann“,<br />
ärgerten sich die Bergarbeiter.<br />
In den ersten Tagen pilgerten die Schulkinder nachmittags zu den<br />
Baracken und bestaunten die Fremden wie Zootiere. „Die hahm<br />
ja jarkeene Jewehre“, wunderte sich Alfred.<br />
„Du kommst uff Ideen!“, spottete Else. „Die hahm unsre den’<br />
doch abgenomm’. Was denkst’n, was die machen würd’n, wenn<br />
sie eens inne Hand kriegt’n? Die ballern damit inner Gegend rum<br />
und schießen dich ohne Gnade in’ Arsch.“<br />
Das leuchtete Alfred ein. Die Franzosen blieben besser ohne<br />
Gewehre! Wenigstens musste er dann nicht auf seinen Hintern<br />
achtgeben. Das Begucken wurde schnell langweilig, denn die<br />
Männer sahen aus wie alle anderen Leute. Wenn der Stacheldraht<br />
und die Gerüchte über die bessere Verpflegung nicht gewesen<br />
wären, hätten vermutlich sogar die Erwachsenen die Gefangenen<br />
vergessen.<br />
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