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Editorial<br />

Nach jahrelangen Stunden bei Therapeuten,<br />

Meditationskursen und Yogalehrern<br />

ist Frau Katz auf der Suche nach einem<br />

berühmten Guru im Himalaya. Sie fliegt von<br />

New York nach Deli, nimmt dort den Zug, reist<br />

dann weiter mit Rikschas und Yaks und schleppt<br />

sich die letzten Kilometer zu Fuß zum buddhistischen<br />

Kloster in den Bergen. Als sie klopft,<br />

macht ihr ein junger Mönch die Tür auf und teilt<br />

ihr mit, dass der Guru nicht zu sprechen sei, da<br />

er sich seit Wochen zurückgezogen habe und in<br />

einer Höhle meditiere. Frau Katz akzeptiert die<br />

Zurückweisung nicht und insistiert solange, bis<br />

ihr der Mönch unter folgenden Bedingungen<br />

eine Audienz gewährt: Das Treffen muss ganz<br />

kurz sein, sie muss sich vor dem Guru verbeugen,<br />

und sie darf nur zehn Worte zu ihm sprechen.<br />

Erschöpft, aber zufrieden stimmt sie dem zu und<br />

klettert mit letzter Kraft zur Höhle hinauf. Als sie<br />

hoch oben ankommt, verbeugt sie sich, damit sie<br />

durch den Höhleneingang kommt, holt tief Luft<br />

und schreit hinein: „Josele, es ist deine Mutter!<br />

Genug jetzt, komm nach Hause!“<br />

Etwa 30 Prozent der westlichen Buddhisten<br />

in den USA sind jüdischer Abstammung, so die<br />

Schätzungen. Die prägenden Persönlichkeiten<br />

der Aufmerksamkeitsbewegung, deren Wurzeln<br />

in der buddhistischen Lebensphilosophie stecken<br />

und die seit den Siebzigerjahren immer erfolgreicher<br />

versucht, jenen eine Antwort zu geben, die<br />

durch die industriellen Gesellschaften und deren<br />

Anforderungen zermürbt auf der Suche nach<br />

„Heilung, Ruhe und sich selbst sind“, sind in jüdischen<br />

Familien aufgewachsen. Was macht die<br />

asiatische Lebensphilosophie jedoch so attraktiv<br />

für viele Juden, was steckt hinter dem Phänomen<br />

JuBu (Jewish Buddhist), und gibt es tatsächlich<br />

Anknüpfungspunkte? Unter anderem versuchen<br />

wir im aktuellen Sommerheft auch diesen Fragen<br />

nachzugehen. So stellte Rodger Kamenetz<br />

vor bald 30 Jahren anlässlich einer historisch gewordenen<br />

Reise einer Gruppe von Rabbinern<br />

und jüdischen Gelehrten im Gespräch mit dem<br />

14. Dalai Lama folgende Fragen: Wie macht das<br />

Judentum mein inneres Leben besser? Wie kann<br />

ich darin Frieden finden? Und was bietet mir<br />

meine Religion dafür an Hilfe an? ‒ Und er fand<br />

die Antworten, mit denen er seither nicht nur<br />

sich selbst, sondern auch andere glücklicher und<br />

zufriedener macht. Sein Buch The Jew in the Lotus<br />

wurde zum internationalen Bestseller (Seite 8).<br />

Achtsam zu sein heißt, seine Aufmerksamkeit<br />

absichtsvoll auf Erfahrungen des gegenwärtigen<br />

Augenblicks zu richten ‒ und zwar auf eine<br />

bestimmte, eben eine „achtsame“<br />

Art und Weise, erklärt<br />

Jon Kabat-Zinn (Seite 6), Mitbegründer<br />

der Achtsamkeitsbewegung,<br />

die die Praxis der<br />

Achtsamkeit, die ihre Ursprünge<br />

im Buddhismus hat,<br />

von ihrem religiösen Bezug gelöst<br />

und sie damit auch Menschen<br />

anderer Religionen zugänglich<br />

gemacht hat. Neben<br />

ihrer positiven Wirkung auf<br />

das Individuum wird dies wohl<br />

einer der Gründe sein, warum<br />

so viele Suchende die Praxis<br />

der Achtsamkeit in ihr jüdisches<br />

Leben integriert haben.<br />

Eine Verbindung, die in einer Welt voller politischer,<br />

ökologischer und gesellschaftlicher Herausforderungen<br />

vielleicht uns allen einige heilsame<br />

Antworten bieten kann.<br />

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen<br />

wunderbaren, achtsamen Sommer. Genießen Sie<br />

die Zeit, das Leben und das Lesen!<br />

Julia Kaldori<br />

„Du kannst die<br />

Wellen nicht<br />

stoppen, aber<br />

Du kannst lernen<br />

zu surfen.“<br />

Jon Kabat-Zinn<br />

Die Wellen reiten.<br />

Sommertag<br />

am Strand in Bat<br />

Yam, Israel.<br />

© Yossi Zeliger / Flash90<br />

wına-magazin.at<br />

1


S.24<br />

Doron Rabinovici, ausgezeichnet<br />

mit dem Theodor-Herzl-Preis,<br />

über seine Beziehung zu Israel und<br />

zum Judentum und das Erinnern in<br />

Österreich.<br />

INHALT<br />

„Es ist eine Tatsache,<br />

dass die jüdische<br />

Existenz auf<br />

unserem<br />

Erdball<br />

prekär ist.“<br />

Doron Rabinovici<br />

IMPRESSUM:<br />

Medieninhaber (Verlag):<br />

JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />

GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />

Chefredaktion: Julia Kaldori,<br />

office@jmv-wien.at<br />

Redaktion/Sekretariat:<br />

Inge Heitzinger (T. 01/53104–271)<br />

Anzeigenannahme:<br />

Manuela Glamm (T. 01/53104–272)<br />

Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />

Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />

Web & Social Media: Agnieszka Madany<br />

Lektorat: Angela Heide<br />

Druck: Print Alliance HAV Produktions<br />

GmbH.<br />

MENSCHEN & MEINUNGEN<br />

06 Fokus auf den Moment<br />

Die Achtsamkeitsbewegung vereint asiatische<br />

Philosophie und westliche Lebensweise.<br />

Sie ist längst auch in der<br />

jüdischen Welt angekommen.<br />

08 The Jew in the Lotus<br />

1990 besuchte eine Gruppe jüdischer<br />

Gelehrter den 14. Dalai Lama. Ein Gespräch<br />

mit einem Teilnehmer und Autor<br />

Rodger Kamenetz.<br />

12 Kleine Helfer auf dem Weg<br />

Bücher, Videos und Blogs zum Thema<br />

Achtsamkeit.<br />

13 Büro mit Aussicht<br />

Die Wiederentdeckung des Kibbuz als<br />

Oase und Arbeitsplatz für digitale Nomaden.<br />

18 „Auf Augenhöhe“<br />

Martin Weiss, der scheidende Botschafter<br />

Österreichs in Israel sprach<br />

mit WINA über die Verbesserung der<br />

Beziehungen beider Staaten.<br />

20 „Technologie im Zentrum“<br />

Günther Schabhüttl vertritt als Wirtschaftsdelegierter<br />

österreichische Unternehmen<br />

in Tel Aviv – eine Zwischenbilanz.<br />

24 „Werde als Jude gelesen“<br />

Doron Rabinovici, ausgezeichnet mit<br />

dem Theodor-Herzl-Preis, spricht über<br />

seine Identitäten, seine Literatur und<br />

seine Rolle in der Öffentlichkeit.<br />

28 Als U-Boot überlebt<br />

Die Historikerin Brigitte Ungar-Klein<br />

legt mit Schattenexistenz ihre Forschung<br />

zum Überleben als U-Boot in<br />

der NS-Zeit in Buchform vor.<br />

32 Was alles noch Glück war<br />

Eine filmische Spurensuche von<br />

Ronny Böhmer nach dem Vater und<br />

ehemaligen Buchenwald-Häftling<br />

Robert Böhmer.<br />

36 Christliche Stigamtisierung<br />

Die Schoah baut auf dem vom Christentum<br />

geschürten Antisemitismus<br />

auf, meint Talmudphilologe Hyam<br />

Maccoby in seinem Buch Pariavolk.<br />

38 Bewahren, was einmal war<br />

Die Exilbibliothek im Literaturhaus bewahrt<br />

Objekte und Arbeiten von in<br />

der NS-Zeit verfolgten Künstlern und<br />

Künstlerinnen.<br />

40 Von der Niedertracht<br />

In Die Verleumdung beleuchtet Otto<br />

Hans Ressler den Antisemitismus im<br />

verherrlichten „Wien um 1900“ und<br />

spannt den Bogen ins Heute.<br />

„Sobald es einem<br />

wirtschaftlich besser geht,<br />

hat man das Gefühl,<br />

durch Teilen<br />

mehr zu<br />

verlieren.“<br />

Gerda Frey<br />

S.42<br />

S.58<br />

Die Eloquenz unserer Anatomie<br />

Auch in diesem Sommer übernehmen bei imPulsTanz –<br />

Vienna International Dance Festival die Stars des<br />

zeitgenössischen Tanzes die Bühnen der Walzerstadt.<br />

2 wına| Juli_August 2019


42 MenTschen<br />

Gerda Frey erlebte als Kleinkind die<br />

Flucht vor den Nazis. Sie vertrat eine<br />

Frauenorganisation bei der UNO und<br />

ist Kritikerin des Rechtspopulismus.<br />

44 Frauen machen Frieden<br />

Angela Scharf arbeitet mit Women<br />

Wage Peace an der Friedensfront –<br />

das Engagement für eine nachhaltige<br />

Lösung steht hier im Vordergrund.<br />

48 Kochen. Essen. Gutes Leben<br />

Neue Kochbücher mit Familienrezepten<br />

über Geschmacksdiaspora, Fusionen,<br />

kulinarische Assonanzen und Dissonanzen.<br />

KULTUR<br />

53 Start-up in Wien<br />

Historikerin Evelyn Adunka widmet<br />

sich in ihrem neuen Buch den beiden<br />

großen Zionistenkongressen in Wien<br />

vor rund 100 Jahren.<br />

54 In der Buckligen Welt<br />

Das neue Museum für Zeitgeschichte<br />

wird zum Zentrum der Erinnerung für<br />

21 niederösterreichische Gemeinden,<br />

in denen Juden vor 1938 lebten.<br />

56 Planen in der Krise<br />

Das Wiener Architekturzentrum<br />

zeigt noch bis 9. September die<br />

von Angelika Fitz und Elke Krasny<br />

kuratierte Schau Critical Care.<br />

WINA ONLINE:<br />

wina-magazin.at<br />

facebook.com/winamagazin<br />

WINASTANDARDS<br />

01 Editorial<br />

Coverfoto: © Daniel Shaked<br />

16 Nachrichten aus Tel Aviv<br />

Über die Legalisierung von Cannabis<br />

für den medizinischen Gebrauch<br />

22 Israel Blog<br />

Das einsame Leben von Israels<br />

Lone Soldiers<br />

46 Warum Wien<br />

Shneor Zivion ist Patissier und bäckt<br />

in der Leopoldstadt<br />

47 Generation unverhofft<br />

Für Gan-ya Ben-gur Akselrod ist<br />

Wien die Basis für ihre Weltkarriere<br />

50 WINA_kocht<br />

Hühnersuppe: Was ist dran am und<br />

drin im „jüdischen Penicillin“<br />

51 Matok & Maror<br />

Lunchen mit Geschichte im claro;<br />

im Tel Aviver Stadtteil Sarona<br />

58 WINA_Werkstädte<br />

Die Synagoge im finnischen Turku<br />

59 Urban Legends<br />

Paul Divjak über Frauen, die den<br />

Felix Krull geben<br />

60 WINA_Lebensart<br />

ImPulsTanz: Vier Künstler erzählen<br />

von ihrer jüdischen Identität<br />

62 SommerKalender<br />

WINA-Kulturtipps für Juli & August<br />

64 Das letzte Mal<br />

Audrey und Nuriel Molcho vom<br />

Hutlabel Nomade Moderne<br />

„Die Frauen<br />

sagten:<br />

‚Genug ist<br />

genug. Wir wollen<br />

unsere Söhne<br />

nicht mehr in<br />

den Krieg schicken.‘“<br />

Angela Scharf<br />

S.44<br />

Seit zwei Jahren engagiert<br />

sich die Ex-Wienerin Angela<br />

Scharf für die größte<br />

Basisbewegung Israels,<br />

Women Wage Peace,<br />

getragen von rund 45.000<br />

Frauen.<br />

wına-magazin.at<br />

3


HIGHLIGHTS | 01<br />

Ihre Dienste nicht<br />

mehr benötigt<br />

Gedenkstein vor der Volksoper erinnert<br />

an verfolgte, vertriebene und<br />

ermordete Ensemblemitglieder.<br />

„Gedenken und Erinnern hat immer<br />

nur dann einen Wert, wenn<br />

aus den geschichtlichen Erfahrungen<br />

auch die richtigen Lehren für<br />

die Gegenwart gezogen werden.<br />

Um das zu erreichen, sind historische<br />

Vergleiche nicht nur erlaubt,<br />

sondern unverzichtbar“, betonte<br />

Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister.<br />

Die Volksoper Wien hat den 120.<br />

Geburtstag des Hauses und das<br />

Gedenkjahr 2018 zum Anlass genommen,<br />

um jenen zu gedenken,<br />

die das Haus einst zum Glänzen<br />

gebracht und ab 1938 aufgrund<br />

ihrer nicht arischen Abstammung<br />

verfolgt und/oder ermordet wurden.<br />

Einerseits erschien das Buch<br />

von Marie-Theres Arnbom Ihre<br />

Dienste werden nicht mehr benötigt.<br />

Andererseits wurde<br />

ein Gedenkstein, der<br />

an die einstigen Ensemblemitglieder<br />

erinnert, vor dem<br />

Haupteingang der<br />

Volksoper aufgestellt.<br />

„Der Stein<br />

vor unserem Haus<br />

soll Ausdruck unseres<br />

Anliegens sein, niemals<br />

zu vergessen und derartige<br />

Entwicklungen niemals wieder<br />

zuzulassen“, sagte Volksopern-Geschäftsführer<br />

Christoph Landstätter<br />

bei der Zeremonie, der viele<br />

Künstler des Hauses und prominente<br />

Persönlichkeiten der Stadt<br />

beiwohnten.<br />

81<br />

Prozent<br />

der neulich von der FRA befragten<br />

jüdischen Europäer zwischen<br />

16 und 34 Jahren sagen, dass<br />

Antisemitismus ein Problem in ihren<br />

Ländern ist. 83 Prozent von ihnen<br />

glauben, dass er in den letzten fünf<br />

Jahren zugenommen hat.*<br />

jpr.org.uk<br />

ZITAT DES MONATS<br />

„Das Regime im<br />

Iran hat sich klar<br />

dafür entschieden,<br />

Terrorismus<br />

nicht nur zu finanzierenunddieAusrüstung<br />

dafürbereitzustellen,<br />

sondern Terrorismus,<br />

Gewalt und Unruhen im<br />

gesamten Nahen Osten<br />

sowie weltweit auch<br />

auf Kosten seiner<br />

eigenen Bevölkerung<br />

zu schüren.“<br />

US-Außenministerium<br />

Zukunft braucht<br />

Erinnerung. Der<br />

Gedenkstein vor der<br />

Volksoper in Wien<br />

erinnert an verfolgte<br />

und ermordete Mitglieder<br />

des Hauses.<br />

Über 70 Jahre unzertrennlich:<br />

Maria und<br />

Artrur Brauner, 2010<br />

in Berlin.<br />

100 Jahre<br />

unerschrocken<br />

Artur Brauner überlebte die<br />

Schoah im Versteck und ließ sich<br />

danach im Land der Täter nieder,<br />

wo er die Filmindustrie entscheidend<br />

mitprägte.<br />

So ausdauernd und lange wie kein<br />

anderer prägte Artur Brauner das<br />

deutsche und europäische Filmgeschehen<br />

der Nachkriegszeit.<br />

Stets unerschrocken und eigensinnig,<br />

lotete er die Grenzen zwischen<br />

Kunst und Kommerz aus.<br />

Er war besessen von seiner Arbeit<br />

und galt als „sehr sparsam“ im Privatleben.<br />

Großzügig war er jedoch,<br />

wenn Geld für eine Sache nötig<br />

war, die ihm am Herzen lag, dann<br />

habe er gerne und großzügig gegeben:<br />

für seine Familie in Israel<br />

ebenso wie für die Gedenkstätte<br />

Yad Vashem, erzählte Rabbiner<br />

Yitshak Ehrenberg bei der Beisetzung<br />

auf dem jüdischen Friedhof<br />

in Charlottenburg.<br />

Brauner, der 1918 in Łódź geboren<br />

wurde, überlebte den Holocaust,<br />

indem er sich in den Wäldern<br />

versteckte; ein Großteil<br />

seiner Familie wurde von den Nazis<br />

umgebracht. Seine Frau Maria,<br />

mit der er 70 Jahre verheiratet<br />

war, überlebte den Krieg mit gefälschten<br />

Papieren.<br />

1946 gründete er CCC Film und<br />

wurde zu einem der wichtigsten<br />

Produzenten des Landes. Neben<br />

vielen anderen Projekten erinnerte<br />

er in zahlreichen Filmen an das<br />

Schicksal von Holocaust-Opfern.<br />

Dazu gehörten Produktionen wie<br />

Morituri (1948), Hitlerjunge Salomon<br />

(1990) und Wunderkinder<br />

(2011).<br />

* Bericht des Institute for Jewish Policy Research im Auftrag der EU-Grundrechteagentur FRA<br />

4 wına| Juli_August 2019


FOTO DES MONATS<br />

ProtestegegenPolizeigewalt<br />

Solomon Tekah, ein 18-jähriger Israeli<br />

äthiopischerAbstammung,wurdevon<br />

einem Polizisten außer Dienst in einem<br />

Park in Kiryat Haim erschossen.<br />

Zehntausende Israelis protestierten<br />

landesweit gegen die Gewalttat.<br />

Tomer Neuberg/Flash90<br />

wına-magazin.at<br />

5


ABSICHTSVOLLE AUFMERKSAMKEIT<br />

Auf den Moment<br />

konzentrieren<br />

W<br />

as stellen Sie sich unter einer<br />

Essmediation vor? Was wäre<br />

Ihre Erwartung? Jon Kabat-<br />

Zinn würde Sie bitten, sich eine Rosine zu<br />

besorgen. Und dann dieser Anleitung zu<br />

folgen: „Die Herausforderung bei dieser<br />

geführten Meditation – und ihre Schönheit<br />

– liegt einfach darin, mit jedem Moment<br />

zu sein, so wie er ist: wenn Sie die<br />

Rosine sehen, sie in Ihrer Hand halten,<br />

sie mit Ihren Fingern spüren. Wenn Sie<br />

das Kauen der Rosine erwarten und wie<br />

es im Körper und im Mund spürbar sein<br />

wird. Wenn Sie die Rosine in den Mund<br />

nehmen und sie ‚empfangen‘, wenn Sie<br />

sie langsam und absichtsvoll kauen. Wenn<br />

Sie die Rosine in jedem Moment schmecken<br />

und spüren, wie sie sich mit der Zeit<br />

verändert. Wenn Sie die Rosine herunterschlucken,<br />

wenn der Impuls zu schlucken<br />

auftaucht und Sie darauf reagieren.<br />

Wenn Sie all die Gedanken und Emotionen<br />

wahrnehmen, die sich im Verlauf dessen<br />

in diesem Prozess zeigen. Und wenn<br />

Sie die lange Nachwirkung des Schluckens<br />

spüren. Und währenddessen sind<br />

Sie immer eingeladen, das Erkennen zu<br />

sein, das zu verkörpern, was die Erfahrung<br />

erkennt, wenn sich diese entfaltet – und<br />

in diesem Gewahrsein zu ruhen, Moment<br />

für Moment für Moment.“<br />

Jon Kabat-Zinn ist eine der Leitfiguren<br />

der Achtsamkeitsbewegung. Er definiert<br />

Achtsamkeit als Form der Aufmerksamkeit,<br />

die absichtsvoll ist, sich auf den<br />

gegenwärtigen Moment bezieht statt auf<br />

die Vergangenheit oder die Zukunft und<br />

nicht wertend ist. Dieser Ansatz kommt<br />

ursprünglich aus dem Buddhismus. Inzwischen<br />

ist er jedoch auch in der westlichen<br />

Welt angekommen: Losgelöst von<br />

religiöser Spiritualität hilft Achtsamkeit<br />

Menschen, im Hier und Jetzt besser zurechtzukommen.<br />

Das haben sich inzwischen<br />

auch große Konzerne oder Unternehmen<br />

wie Goldmann Sachs, General<br />

Mills oder die Target Corporation zu<br />

Die Achtsamkeitsbewegung holt buddhistische Meditation<br />

in die säkulare Welt. Beteiligt waren und sind bei dieser<br />

Transformation erstaunlich viele Juden und Jüdinnen.<br />

Von Alexia Weiss<br />

„Wenn wir konstant<br />

woanders leben als<br />

in der Gegenwart,<br />

können wir emotional<br />

nicht überleben.“<br />

Rabbiner Benjamin<br />

Epstein<br />

Benjamin Epstein:<br />

Living in the Presence:<br />

A Jewish Mindfulness<br />

Guide for Everyday Life.<br />

Urim Publications, 192 S.<br />

Jon Kabat-Zinn ist eine<br />

der Leitfiguren der jüdischen<br />

Achtsamkeitsbewegung.<br />

Nutze gemacht. Sie bieten ihren Mitarbeitern<br />

Achtsamkeitstrainings an.<br />

Auffallend viele Vertreter und Vertreterinnen<br />

der westlichen Achtsamkeitsbewegung<br />

sind jüdischer Herkunft: Kabat-<br />

Zinn gehört zu ihnen ebenso wie Sharon<br />

Salzberg, Daniel Goleman, Jacqueline<br />

Mandell oder Jack Kornfield. Viele von<br />

ihnen hatten sich in den 1970er in Indien<br />

auf die Suche nach Spiritualität gemacht<br />

und waren etwa bei dem Meditationslehrer<br />

Satya Narayan Goenka fündig geworden.<br />

Er stammte ursprünglich aus<br />

Burma und hatte sich dort mit buddhistischen<br />

Meditationspraktiken<br />

auseinandergesetzt, um seine Kopfschmerzen<br />

in den Griff zu bekommen.<br />

Er lernte in der Folge selbst<br />

6 wına| Juli_August 2019


WAHRNEHMUNG DER GEDANKEN<br />

© Manfred Witt/picturedesk.com<br />

Jahre lang und beschloss, nach Indien<br />

zu gehen, um sein Wissen weiterzugeben.<br />

Dort fehlte ihm aber die religiöse<br />

Autorität – Anhänger des Hinduismus<br />

fühlten sich nicht angesprochen. Sinnsuchende<br />

aus westlichen Ländern fanden<br />

seine Meditationstechnik<br />

dagegen attraktiv, unter ihnen<br />

auch einige Juden aus den USA.<br />

Jene, die sich vom Buddhismus<br />

angesprochen fühlten,<br />

waren meist säkular lebende<br />

Juden, sagt der Religionswissenschaftler<br />

Jeff Wilson, der<br />

2014 das Buch Mindful America<br />

herausbrachte. Er weist<br />

zudem auf eine Parallele zwischen<br />

Buddhismus und Psychoanalyse<br />

hin: Beide orten die<br />

Quelle von Leiden in der Seele.<br />

Hier setzten Kabat-Zinn, Goleman,<br />

Salzberg und Co. teilweise<br />

unabhängig voneinander<br />

an. Kabat-Zinn gründete 1979<br />

eine Stress Reduction Clinic in<br />

Massachusetts, wo er begann,<br />

sein Programm der achtsamkeitsbasierten<br />

Stressreduktion<br />

(MBSR – Mindfulness-Based<br />

Stress Reduction) zu vermitteln. Die darin<br />

enthaltenen Übungen setzen sich aus<br />

Hatha Yoga, Vipassana und Zen zusammen.<br />

1995 etablierte er, ebenfalls in Massachusetts,<br />

ein Zentrum für Achtsamkeit<br />

in Medizin, Gesundheitswesen und<br />

Gesellschaft.<br />

Sieht man sich die Publikationen Kabat-Zinns<br />

an (einige von ihnen liegen<br />

auch in deutscher Übersetzung vor),<br />

fällt der Aspekt des Selbstheilens auf.<br />

Gesund durch Meditation. Das große Buch<br />

der Selbstheilung mit MBSR nennt sich<br />

zum Beispiel eines seiner Standardwerke.<br />

Sein deutscher Verlag Knaur unterstreicht,<br />

ihm sei es als Erstem gelungen,<br />

die Achtsamkeitspraxis systematisch in<br />

die medizinische Praxis zu integrieren.<br />

In einer Einführung in die MBSR-<br />

Praxis umreißt Kabat-Zinn den Unterschied<br />

zwischen seiner Methode und<br />

anderen Meditationspraktiken. „In der<br />

Übung von Achtsamkeit macht man anfangs<br />

Gebrauch von einer eingerichteten<br />

Aufmerksamkeit, um Ruhe und Beständigkeit<br />

zu kultivieren, doch anschließend<br />

geht man darüber hinaus, indem man die<br />

Objekte der Beobachtung erweitert sowie<br />

ein Element des Erforschens einbringt.<br />

Wenn Gedanken oder Gefühle<br />

entstehen, ignoriert man sie nicht, noch<br />

unterdrückt man sie, noch analysiert oder<br />

beurteilt man ihren Inhalt. Stattdessen betrachtet<br />

man sie, absichtlich und so gut<br />

man kann, ohne sie zu bewerten, wie sie<br />

von Moment zu Moment als Ereignisse<br />

im Feld des Gewahrsams entstehen. Ironischerweise<br />

führt diese umfassende Wahrnehmung<br />

der Gedanken, die im Geist entstehen<br />

und vergehen, dazu, dass man sich<br />

weniger in ihnen verstrickt. Der Beobachter<br />

erhält einen tieferen Einblick in seine<br />

Reaktionsweisen auf das Alltägliche und<br />

auf Schwierigkeiten. Indem die Gedanken<br />

und Gefühle aus einem gewissen Abstand<br />

heraus betrachtet werden, kann klarer erkannt<br />

werden, was tatsächlich im Geist<br />

abläuft. Es wird gesehen, wie ein Gedanke<br />

nach dem anderen entsteht und vergeht.<br />

Man kann den Inhalt der Gedanken benennen,<br />

die Gefühle, die mit ihnen verbunden<br />

sind, und dann auch die Reaktionen<br />

auf diese Gefühle.“<br />

Kabat-Zinn arbeitet auch bei dem 1990<br />

vom Dalai Lama ins Leben gerufenen<br />

Mind and Life Institute in Virginia mit.<br />

Ziel der Organisation ist es, einen Dialog<br />

zwischen moderner Wissenschaft und<br />

Buddhismus zu fördern, um die Möglichkeiten<br />

und Einsichten, die sich aus einem<br />

solchen Dialog ergeben können, zu erforschen.<br />

Einer, der ebenfalls an den Konferenzen<br />

dieser Einrichtung beteiligt ist,<br />

ist Daniel Goleman. Auch er setzt auf die<br />

heilende Kraft der Gefühle und ist sich<br />

sicher, dass destruktive Emotionen überwunden<br />

werden können. Sharon Salzberg,<br />

Jack Kornfield und Joseph Goldstein wiederum<br />

gründeten in den 1970er-Jahren in<br />

Massachusetts die Insight Meditation Society.<br />

Sie widmet sich dem Studium des<br />

Buddhismus und vermittelt in Klausuren<br />

Meditationstechniken.<br />

Interessant ist, dass das Thema Achtsamkeit<br />

inzwischen auch aus jüdischer religiöser<br />

Perspektive beleuchtet und eingesetzt<br />

wird. Dieses Frühjahr veröffentlichte<br />

Rabbiner Benjamin Epstein das Buch Living<br />

in the Presence: A Jewish Mindfulness<br />

Guide to Everyday Life. Er betont, dass die<br />

psychologische Forschung gezeigt habe,<br />

dass es ebenso wichtig ist, in der Gegenwart<br />

zu leben, wie zu atmen, zu essen und<br />

zu schlafen. Es mache Menschen krank,<br />

wenn sie die Vergangenheit bedauern<br />

oder die Zukunft fürchten. „Wenn wir<br />

konstant woanders leben als in der Gegenwart,<br />

können wir emotional nicht<br />

überleben“, meint Epstein.<br />

Was allen Achtsamkeitsvertretern gemeinsam<br />

ist: Sie legen den Fokus auf das<br />

Hier und Jetzt. Sie lehren, wie man im<br />

Moment lebt und sich auf diesen konzentriert.<br />

Sie leiten an, wie durch das Besinnen<br />

auf vermeintlich Kleines mehr Klarheit<br />

im Blick auf das Ganze entsteht. Dass<br />

große Firmen inzwischen auf Achtsamkeitstrainings<br />

setzen, zeigt, dass durch<br />

Achtsamkeit am Ende auch effizienteres<br />

Arbeiten möglich gemacht wird. Es ist allerdings<br />

zu bezweifeln, dass dies im Sinn<br />

von Kabat-Zinn, Goleman oder Salzberg<br />

ist. Sie setzen auf Achtsamkeit, um zu einer<br />

inneren Ausgeglichenheit und in der<br />

Folge auch zu einer besseren Gesundheit<br />

zu kommen. Ihnen geht es um das Individuum<br />

und dessen besseren Umgang<br />

mit allem, womit es konfrontiert ist – und<br />

nicht um das Optimieren etwa von Arbeitsabläufen<br />

oder eine Anleitung, wie<br />

die einzelne Person künftig alles anders<br />

macht.<br />

Hier sei nochmals Kabat-Zinn zitiert:<br />

„Viele Leute denken, dass das Ziel der<br />

Meditation darin bestünde, die Wellen zu<br />

verhindern, so dass die Oberfläche flach,<br />

friedlich und ruhig wird. Doch dies ist<br />

eine irreführende Vorstellung. Viel besser<br />

wird der wahre Geist der Achtsamkeitspraxis<br />

von folgendem Bild illustriert, das<br />

mir einst jemand beschrieb: Es zeigt einen<br />

etwa 70-jährigen Yogi, Swami Satchidananda,<br />

wie er, mit weißem Rauschebart<br />

und wehenden Roben, auf einem Surfbrett<br />

stehend in Hawaii auf einer Welle<br />

reitet. Die Überschrift lautete: ‚Du kannst<br />

die Wellen nicht stoppen, aber du kannst<br />

lernen, sie zu reiten.‘ “ <br />

wına-magazin.at<br />

7


INTERVIEW MIT RODGER KAMENETZ<br />

Ein Pool<br />

aus Nektar<br />

Große Weisen<br />

Der 14. Dalai Lama im<br />

Gespräch mit Rabbi Zalman<br />

Schachter-Shalomi.<br />

© Rodger Kamenetz<br />

8 wına| Juli_August 2019


INTERRELIGIÖSER DIALOG<br />

1994 erschien Rodger Kamenetz’ Bestseller The Jew<br />

in the Lotus erstmals. Er ist die Dokumentation eines<br />

historischen Treffens zwischen dem Dalai Lama und<br />

jüdischen Führern in Indien. Er ist aber auch die Geschichte<br />

eines Mannes, der seine jüdische Identität und Spiritualität neu<br />

entdeckt hat. Zum 25-Jahre-Buchjubiläum erzählt der Autor,<br />

warum er weit reisen musste, um zu finden, was er<br />

längst zuhause hatte.<br />

Von Daniela Schuster<br />

Rodger Kamenetz:<br />

The Jew in the Lotus.<br />

A Poet’s Rediscovery<br />

of Jewish Identity in<br />

Buddhist India.<br />

HarperOne,<br />

336 S., € 13,98<br />

I<br />

m Oktober 1990 brach eine Gruppe<br />

von acht Rabbis nach Dharamsala im<br />

Nordwesten Indiens auf, um den Dalai<br />

Lama zu treffen. Seine Heiligkeit hatte<br />

die jüdische Delegation eingeladen und<br />

eine Bitte geäußert: „Verratet mir euer Geheimnis<br />

– das Geheimnis des spirituellen Überlebens<br />

im Exil.“ Er, der 1959 nach blutig niedergeschlagenen<br />

Straßendemonstrationen für die<br />

Freiheit und Unabhängigkeit Tibets aus seiner<br />

chinesisch besetzten Heimat hatte fliehen müssen<br />

und seitdem im indischen Bundesstaat Himachal<br />

Pradesh am Fuße des Himalaja lebte,<br />

erhoffte sich Hilfe und Antworten. Von den<br />

jüdischen Führern, vor allem aber von einem<br />

Volk, das selbst über Jahrtausende der Verfolgung<br />

ausgesetzt war und es dennoch geschafft<br />

hatte, seine religiösen Bräuche und esoterischen<br />

Traditionen zu bewahren.<br />

Über eine Woche hinweg entwickelte sich<br />

ein nie zuvor dagewesener interreligiöser Dialog.<br />

Es war ein Austausch über Unterschiede,<br />

aber vor allem eine Entdeckung von Gemeinsamkeiten,<br />

nicht zuletzt Mystik und Meditation<br />

betreffend. Und am Ende war es nicht nur<br />

der Dalai Lama, der von seinen Gästen lernte,<br />

sondern auch umgekehrt: „Das Judentum<br />

durch seine Augen zu betrachten, ließ es in seiner<br />

ganzen Schönheit erstrahlen“, erinnert sich<br />

Rodger Kamenetz.<br />

Der damals 40-jährige amerikanische<br />

Schriftsteller und spätere Professor für Englisch<br />

und religiöse Studien an der Louisiana State<br />

University in Baton Rouge war der Einladung<br />

seines guten Freundes Dr. Marc Lieberman gefolgt,<br />

der die Delegationsreise organisiert hatte.<br />

Er sollte die oft stundenlangen Gespräche dokumentieren.<br />

Auf den ersten Blick hätte Liebermans<br />

Wahl des Chronisten nicht schlechter ausfallen<br />

können. Denn Kamenetz war nicht sehr<br />

spirituell. Zudem hatte er kurz zuvor ein Kind<br />

verloren und wurde nicht nur von Schmerz, sondern<br />

auch von Selbstzweifeln zerfressen, nachdem<br />

er auch noch einen Buchauftrag verloren<br />

hatte. Kurz: Er fühlte sich der Aufgabe alles andere<br />

als gewachsen, wie er 1999 in einer filmischen<br />

Dokumentation über das Treffen erzählte:<br />

„Warum war ich dort? Keine Ahnung.“<br />

In Dharamsala und umgeben von der Not<br />

und Armut der Tibetaner, die ihr Schicksal mit<br />

Gleichmut und Entschlossenheit schulterten,<br />

begann seine Schutzfassade aus Zynismus und<br />

Selbstentwertung jedoch schnell zu bröckeln.<br />

Anfangs nur Zeuge der Gespräche zwischen<br />

den Rabbis und dem Dalai Lama über das spirituelle<br />

Überleben eines Volkes im Exil, entdeckte<br />

Rodger Kamenetz in ihren Lektionen<br />

bald einen Weg aus seinem persönlichen Exil<br />

des Schmerzes.<br />

Es war eine Erfahrung, die Kamenetz und<br />

sein Leben für immer verändern sollte und die<br />

er in seinem 1994 erschienenen Buch The Jew<br />

in the Lotus festhielt. Zum 25-Jahre-Jubiläum<br />

seines internationalen Bestsellers, der nicht<br />

weniger als 37-mal neu aufgelegt wurde und<br />

heute Pflichtlektüre im Religionsunterricht an<br />

vielen US-Colleges ist, bat WINA den Autor<br />

zum Interview.<br />

wına-magazin.at<br />

9


SPIRITUELLER PFAD<br />

WINA: Mr Kamenetz, Ihr Buch trägt den Untertitel<br />

„A Poet’s Rediscovery of Jewish Identity in Buddhist<br />

India“. Sie schreiben darin, die Begegnung mit<br />

dem Dalai Lama habe Sie verändert – auch als Jude.<br />

Gab es einen Schlüsselmoment?<br />

Rodger Kamenetz: Ich glaube, der Moment, in dem<br />

der Schlüssel umgedreht wurde, war jener, als der Dalai<br />

Lama fragte, wie unser inneres Leben als Juden<br />

aussehe. Eine charakteristisch-buddhistische Frage,<br />

gestellt aus persönlicher Neugier. Ich wusste darauf<br />

keine Antwort. Denn ich hatte mein Jüdischsein bis<br />

dahin nicht als Pfad der inneren Transformation erlebt,<br />

sondern primär als ethnische Identität empfunden.<br />

Die damit verbundenen Traditionen und Riten<br />

lebte ich entsprechend: oberflächlich, äußerlich, ohne<br />

Kawana. Kein Wunder, dass ich mich leer fühlte, verloren,<br />

haltlos. Noch dazu hatte ich einige Zeit zuvor<br />

ein Kind verloren, und meine Karriere als Schriftsteller<br />

stockte auch. Doch der Weg zu mir selbst und zur<br />

Heilung war damals etwas, das ich nicht im Glauben,<br />

sondern eher beim Psychiater gesucht hätte. Die<br />

Frage Seiner Heiligkeit hatte aber etwas in mir angestoßen.<br />

Ich fing an, Fragen zu stellen, die mir vorher<br />

nie in den Sinn gekommen waren: Wie machte das<br />

Judentum mein inneres Leben besser? Wie konnte<br />

ich darin Frieden finden? Und was bot mir meine<br />

Religion dafür an Hilfe an?<br />

Rodger Kamenetz<br />

„Ich hatte<br />

meinJüdischseinbisdahin<br />

nicht als Pfad<br />

der inneren<br />

Transformation<br />

erlebt, sondern<br />

primär<br />

als ethnische<br />

Identitätempfunden.“<br />

Welche Antworten haben Sie in Indien auf diese Fragen<br />

gefunden?<br />

❙ Im Haupttempel von Dharamsala gibt es einen<br />

Buddha, der vor einem Pool sitzt. Darin ist kein Wasser,<br />

sondern Nektar, klar und süß. Dieses Bild ist<br />

für mich zum Symbol unserer Reise geworden. Der<br />

Dialog mit dem Dalai Lama und den Buddhisten<br />

ließ mich – und natürlich auch alle anderen Mitglieder<br />

der Delegation – das Judentum durch ihre<br />

Widerspiegelung klarer und süßer sehen als je zuvor<br />

– ohne seinen historischen Ballast und die lange<br />

Geschichte des Antisemitismus, dafür voll spiritueller<br />

Weisheit. Seine Heiligkeit ließ mit seiner Wissbegierde<br />

die jüdische Tradition lebendig werden. Im<br />

Grunde haben wir nicht ihm das Geheimnis unseres<br />

spirituellen Überlebens im Exil verraten, er hat<br />

es uns aufgezeigt. Ich begann zu realisieren, wie sehr<br />

ich den Wert und die tiefgehende Kraft meiner eigenen<br />

Traditionen unterschätzt hatte – angefangen<br />

bei den Bräuchen über die Gebete bis hin zur jüdischen<br />

Meditation, zum Chanting und zur Kabbala-<br />

Mystik, von deren Existenz ich bis dahin kaum etwas<br />

gewusst hatte. Der buddhistische Blickwinkel<br />

auf das Judentum und die Gespräche haben mir aufgezeigt,<br />

dass meine Religion genau jenen spirituellen<br />

Pfad zu innerer Transformation bereithielt, den<br />

ich so lange vermisst und gesucht hatte.<br />

Sie sind nicht der Einzige, der weit reisen musste,<br />

um zu entdecken, was er zu Hause finden kann. Warum<br />

führt die Suche nach spiritueller Bereicherung<br />

noch immer viele junge Juden nach Fernost statt in<br />

die heimische Synagoge?<br />

❙ Tatsächlich lassen sich viele Elemente fernöstlicher<br />

Spiritualität auch im Judentum finden. Sie haben<br />

dort eine jahrtausendelange Tradition. Aus biblischen<br />

und selbst vorbiblischen Quellen ist zum Beispiel<br />

überliefert, dass die Meditation eine zentrale<br />

Bedeutung bei der prophetischen Erfahrung hatte.<br />

© Rodger Kamenetz<br />

10 wına| Juli_August 2019


INNERE TRANSFORMATION<br />

Und es gibt auch Belege dafür, dass in der Zeit, in der<br />

die Bibel geschrieben wurde, Meditation von einem<br />

großen Teil des israelischen Volkes praktiziert wurde.<br />

Doch ich erinnere mich noch genau, wie erstaunt<br />

und erhellt ich selbst war, als ich damals durch den<br />

Dialog der Rabbis Zalman Schachter-Shalomi und<br />

Jonathan Omer-Man mit dem Dalai Lama lernte,<br />

welch mächtige Werkzeuge zur inneren Transformation<br />

das Judentum eigentlich bietet. Ich denke,<br />

so wie mir, geht es vielen Juden: Obwohl die Sehnsucht<br />

und der Bedarf danach groß sind, ist das Wissen<br />

um die spirituellen und esoterischen Techniken<br />

des Judentums verloren gegangen. Kein Wunder also,<br />

dass sich viele Juden anderen fernöstlichen Praktiken<br />

wie Tantra oder Yoga oder auch dem Buddhismus<br />

zuwenden, bei dem etwa Meditationslehren jedem<br />

offen stehen.<br />

Welche Gründe sehen Sie für das (Ver-)Schwinden<br />

der spirituellen und esoterischen Techniken des Judentums?<br />

❙ In einer schnellen, modernen, säkularisierten Welt<br />

haben es Mindfulness, Achtsamkeit und Spiritualität<br />

insgesamt nicht leicht – obwohl sie als Gegengewicht<br />

umso wichtiger wären. Aber es liegt nicht nur<br />

daran: Auch die jüdische Aufklärung, die den Intellekt<br />

ansprechen wollte und Rationalismus auf Kosten<br />

anderer jüdischer Werte propagierte, hat sicher<br />

zum Verschwinden der jüdischen Mystik und speziell<br />

der Meditation beigetragen. Vor ungefähr 150 Jahren<br />

verschwanden einfach alle Bezüge darauf aus der<br />

jüdischen Mainstreamliteratur. Hinzu kommt auch<br />

noch, dass etwa Meditationstechniken oft geheim<br />

gehalten und nur von einer kleinen Elite praktiziert<br />

wurden. Nur wenigen war gestattet, in die Geheimnisse<br />

eingeweiht zu werden. Frauen war es zum Beispiel<br />

nicht erlaubt. Der Dalai Lama ermutigte uns<br />

übrigens zur Öffnung: „Wenn man zu viele Geheimnisse<br />

um etwas macht, dann wird die Tradition verschwinden“,<br />

sagte er.<br />

Wie und wo hat diese Öffnung inzwischen stattgefunden?<br />

RODGER KAMENETZ,<br />

geboren 1950 in Baltimore,<br />

hat Abschlüsse in Yale, Johns<br />

HopkinsundStanford.Ander<br />

LouisianaStateUniversitywar<br />

er Professor für Englisch und<br />

fürReligionswissenschaftund<br />

gründetedasMFA-Programm<br />

für kreatives Schreiben und<br />

das Nebenfach Judaistik. Er<br />

lebt heute in New Orleans.<br />

Kamenetz war Mitglied jener<br />

Gruppe jüdischer Gelehrter<br />

und Rabbiner, die<br />

1990 den 14. Dalai Lama<br />

in Dharamsala besuchten.<br />

Über seine Erlebnisse und Erfahrungendortberichteteder<br />

AutormehrererGedichtbände<br />

und Prosawerke in The Jew in<br />

theLotus,daszuminternationalen<br />

Bestseller wurde.<br />

rodgerkamenetz.com<br />

„Ich lasse<br />

meine ‚jüdische<br />

Seele‘ jeden<br />

Tag wachsen.<br />

Dank meiner<br />

Erfahrungen<br />

inIndienkann<br />

ich das heute<br />

überall tun.“<br />

❙ Inzwischen holt unter anderem die Jewish-Renewal-Bewegung<br />

diese uralten Traditionen wie etwa<br />

jüdische Meditation zurück in die Moderne und<br />

ins Leben und macht sie so für jeden zugänglich.<br />

Und das Internet und die Globalisierung erleichtern<br />

es natürlich, etwas über die esoterischen Geheimnisse<br />

des Judentums zu erfahren. Ich begrüße<br />

diesen Weg zur Spiritualität ohne Umwege über<br />

buddhistische Meditation oder hinduistisches<br />

Yoga. Wenn wir es schaffen, den Menschen die<br />

Schönheit, die Freude und die Tiefe des Judentums<br />

zu vermitteln, wenn wir ihnen etwas bieten,<br />

wo sie anknüpfen können und wollen, dann werden<br />

sie sich auch nicht etwas anderem zuwenden.<br />

Wie gehen Sie den spirituellen Pfad, den Sie vor<br />

fast 30 Jahre beschritten haben, heute und im<br />

Alltag weiter?<br />

❙ Meine Suche nach innerer Transformation wird<br />

nie abgeschlossen sein. Ich lasse meine „jüdische<br />

Seele“ jeden Tag wachsen. Dank meiner Erfahrungen<br />

in Indien kann ich das heute überall tun<br />

– in der Synagoge, in der Natur, zuhause ... Es<br />

ist dabei gar nicht so sehr die Ausübung meines<br />

Glaubens, die sich seit damals verändert hat.<br />

Ich zelebriere zum Beispiel den Sabbat-Abend<br />

mit meiner Familie noch genauso wie vor meiner<br />

Reise. Aber heute ist da mehr als nur die äußere<br />

Form, das reine Befolgen einer Reihe von traditionellen<br />

Handlungen. Wenn ich jetzt die Kerzen anzünde<br />

und der Segen über Brot und Wein gesprochen<br />

wird, geschieht das achtsam, mit Kawana.<br />

Indem ich mich etwa auf meinen Atem konzentriere,<br />

versuche, mich selbst körperlich, seelisch<br />

und geistig mit dem Geist des Sabbats zu verbinden.<br />

Es ist schön, dass ich unsere Gebete und Zeremonien<br />

inzwischen als Weg erleben kann und<br />

darf, um dieses friedvolle, zufriedene Gefühl des<br />

Feiertages noch zu vertiefen. Und ich kann jedem<br />

nur nahelegen, sich aufzumachen, den spirituellen<br />

Reichtum zu entdecken, der sich in unserer<br />

mystischen Tradition und der Thora verbirgt.<br />

Welch ein Gewinn!<br />

wına-magazin.at<br />

11


MINDFUL JEWISH<br />

WINA TIPPS<br />

Kleine Helfer auf dem Weg zu mehr<br />

Mindfulness<br />

BÜCHER<br />

Das Buch der Wunder<br />

Jüdische Spiritualität für<br />

junge Menschen<br />

Lawrence Kushner, Rabbi und Professor<br />

für jüdische Spiritualität und Mystik,<br />

hat ausgehend von Thora, Midrasch und<br />

Talmud tiefsinnige Geschichten für Kinder<br />

und Jugendliche zwischen 9 und 13<br />

Jahren geschrieben. Doch auch für Erwachsene<br />

ist dieses Buch ein Gewinn.<br />

Es regt an, die Welt der jüdischen Spiritualität<br />

und Mystik zu erkunden und dabei<br />

zu entdecken, wie man jeden Tag<br />

spirituell bewusst bleiben kann.<br />

Jüdische Verlagsanstalt Berlin,<br />

€ 12,90 über amazon.de<br />

YOUTUBE-VIDEOS<br />

Inzwischen findet man auf YouTube eine<br />

Vielzahl von Beiträgen über jüdische<br />

Spiritualität, Mindfulness und Kabbala.<br />

Das Angebot reicht von inspirierenden<br />

Talks und Vorträgen bis zu praktischen<br />

Anleitungen für Atemübungen oder geführte<br />

Meditationen.<br />

Empfehlenswert ist etwa der Channel<br />

Guided Jewish Meditations. Jede der<br />

Meditationen ist rund 30 Minuten lang.<br />

Auch der Channel ELI Talks ist einen<br />

Klick wert, darunter etwa das Video<br />

A Journey Toward Jewish Mindfulness<br />

oder Falling in Love with Prayer.<br />

Den Himmel auf die<br />

Erde bringen<br />

Die Weisheit des Rabbi Schneerson<br />

aus New York – 365 Meditationen für<br />

jeden Tag<br />

Herausgeber Tzvi Freeman versammelt<br />

365 Meditationen, die auf die Lehren des<br />

chassidischen Meisters Rebbe Menachem<br />

Mendel Schneerson zurückgehen. Das<br />

Buch enthält einen kurzen, aber inhaltsvollen<br />

Gedanken zu jedem Tag des Jahres,<br />

die zum Nachdenken anregen und Zuversicht<br />

vermitteln. Sie kreisen um einen wesentlichen<br />

Gedanken: die Verschmelzung<br />

erhabenster spiritueller Höhen mit der<br />

weltlichsten materiellen Formenwelt.<br />

Books & Bagels, € 20,90<br />

über literaturhandlung.com<br />

DIGITALE MEDIEN<br />

APP Insight Timer<br />

Der Insight Timer ist eine kostenlose Meditationsapp<br />

für Ios und Android. Einmal eingeloggt,<br />

findet man eine schier unendliche<br />

Auswahl an Meditationsanleitungen von<br />

namhaften, aber auch weniger bekannten<br />

Meditations- und Achtsamkeitslehrern sowie<br />

Vorträge von Neurowissenschaftlern,<br />

Psychologen, Rabbis. Empfehlenswert für<br />

Anfänger und Fortgeschrittene sind zum<br />

Beispiel folgende geführte Meditationen:<br />

Meditation zum jüdischen Jahresrückblick<br />

sowie Returning Home: Teshuvah und Jewish<br />

Meditation: Light From Darkness von<br />

Rabbi Jill Zimmerman. Über die App kann<br />

man zudem Interessengruppen für einen<br />

regen Austausch über spirituelle Themen<br />

beitreten, etwa der Gruppe „Kabalah Meditation“<br />

oder dem Netzwerk „The Jewish<br />

Mindfulness Network“.<br />

Kostenlos im App-Store<br />

Das Buch vom Sinn<br />

Meditationen, die mich mein<br />

Rebbe lehrte<br />

Dieses kleine Buch enthält kurze Meditationen,<br />

die Jahrtausende alte jüdische<br />

Weisheiten über die Sinnfrage in sich bergen<br />

und einen Weg in eine bessere Zukunft<br />

weisen. Sie gehen auf die Worte und<br />

Gedanken von Rabbi Menachem Mendel<br />

Schneerson (1902–1994) zurück, der<br />

von Juden weltweit immer noch als „der<br />

Rebbe“ betrachtet wird. Zusammengestellt<br />

hat sie Tzvi Freeman, Autor zahlreicher Bücher<br />

und Artikel über jüdische Mystik und<br />

Philosophie.<br />

Books & Bagels, € 19,95<br />

über literaturhandlung.com<br />

BLOG<br />

Es gibt auch einige jüdische Blogger,<br />

die sich intensiv mit dem<br />

Thema Mindfulness auseinandersetzen.<br />

Rabbi Yael Levy schreibt<br />

etwa aufawayin.org unter der Rubrik<br />

„Teachings“ beinahe täglich zum<br />

Nachdenken und Mitmachen anregende<br />

Texte und Anleitungen und<br />

bietet in der Rubrik „Meditations“<br />

mittels Audiodateien geführte Meditationen<br />

an. Lohnend ist auch der<br />

Besuch auf mindfuljudaism.com/<br />

blog von Adam Fogel, einem Psychologen<br />

und Familientherapeuten<br />

in Kalifornien.<br />

12 wına| Juli_August 2019


DIGITALE NOMADEN<br />

© Almog Gurevich<br />

Sie arbeiten überall und nirgends,<br />

auf Parkbänken, von zu<br />

Hause und in diversen Hotelzimmern<br />

im Ausland. Und in<br />

Tel Avivs Kaffeehäusern sind<br />

sie zu beinahe jeder Tageszeit mit ihren<br />

Laptops anzutreffen. Ebenso wie ihre internationalen<br />

Kollegen sind Israels digitale<br />

Nomaden auf keinen festen Arbeitsplatz<br />

angewiesen, sie brauchen nur ihren<br />

Computer, ein Handy und eventuell noch<br />

einen Internetzugang, um ihren Job zu<br />

machen.<br />

Laut Wikipedia ist ein digitaler Nomade<br />

ein Unternehmer oder auch Arbeitnehmer,<br />

der fast ausschließlich digitale<br />

Technologien anwendet, um seine<br />

Arbeit zu verrichten, und zugleich ein<br />

eher ortsunabhängiges beziehungsweise<br />

multilokales Leben führt. So jemand wird<br />

auch als Internet-Nomade, Büro-Nomade<br />

oder urbaner Nomade bezeichnet.<br />

Es geht also um ein städtisches Phänomen,<br />

doch Omer Har-Shai, selbst so ein<br />

digitaler urbaner Nomade, hat beschlossen,<br />

seinesgleichen eine Erfahrung am<br />

Büro mit<br />

AUSSICHT<br />

Ein junger israelischer<br />

Unternehmer erfindet die<br />

Kibbuz-Erfahrung neu –<br />

diesmal in Kombination<br />

mit modernen Arbeitsplätzen<br />

für „Digital Nomades“.<br />

Von Daniela Segenreich<br />

wına-magazin.at<br />

13


HANDWERKLICHER AUSGLEICH<br />

Land zu ermöglichen und sozusagen aus<br />

den Stadtmäusen für jeweils einen Monat<br />

lang Landmäuse zu machen: „Ich war<br />

selbst monatelang im Ausland unterwegs<br />

und habe von dort meine Kunden betreut.<br />

In Tel Aviv habe ich dann von meinem<br />

Stammcafé oder von zu Hause gearbeitet“,<br />

erzählt der 30-jährige Unternehmer,<br />

der zuvor in Filmverleih, Marketing und<br />

Hightech tätig war. „Aber auf die Dauer<br />

war es doch irgendwie einsam und auch<br />

manchmal langweilig, und auch das viele<br />

Sitzen war unangenehm. Und man will ja<br />

auch Teil von etwas sein.“ In Südkorea war<br />

er erstmals auf die internationale Community<br />

der Urban Nomades gestoßen und<br />

hatte erlebt, dass das Arbeiten in der Gemeinschaft<br />

neue Kontakte und fruchtbare<br />

Interaktionen bringt, denn nach und nach<br />

schießen weltweit Initiativen wie Remote<br />

Year oder WiFi Tribe aus dem Boden, die<br />

diesem neuen Arbeitstrend gerecht werden<br />

wollen. Also suchte Har-Shai nach<br />

seiner Rückkehr nach einem Modell, das<br />

anderen Unternehmern, Bloggern, Designern,<br />

Hightechleuten und allen, die nicht<br />

an einen festen Arbeitsplatz gebunden<br />

sind, genau das in Israel bietet: eine neue<br />

Umgebung und die Vorteile, in einer Ge-<br />

Café im Kibbuz (hier<br />

Bluma im Kfar Blum) oder<br />

im Garten mit Naturblick:<br />

mögliche Arbeitsstätten für<br />

Gather-Teilnehmer.<br />

meinschaft arbeiten zu können. Wichtig<br />

war ihm dabei auch, dass es zum Ausgleich<br />

für die digitale Arbeit und das viele Sitzen<br />

auch handwerkliche oder körperliche Betätigungsfelder<br />

geben sollte.<br />

Vormittags Programmierer, nachmittags<br />

Schäfer oder Tischler. Der<br />

Kibbuz bot sich da als ideale Infrastruktur<br />

an. Jede dieser etwa 270 ländlichen Gemeinschaftssiedlungen<br />

in Israel hat immer<br />

noch ihren legendären gemeinsamen<br />

Speisesaal, Landwirtschaft, einen Swimmingpool<br />

und andere Sportanlagen, ein<br />

kleines Café oder Pub, einen Mini Market<br />

sowie Wäscherei, Post und andere für<br />

das tägliche Leben nötige Einrichtungen.<br />

Die kleinen Wohneinheiten haben meist<br />

eine Kochmöglichkeit, Dusche und WC.<br />

Es ist also für alles gesorgt, und man muss<br />

sich kaum um tägliche Hausarbeiten und<br />

Erledigungen kümmern. Har-Shai wollte<br />

das Phänomen der Volontäre wiederbeleben,<br />

die in den 60er- und 70er-Jahren<br />

zu Tausenden aus aller Welt in die Kibbuzim<br />

kamen, um in der Landwirtschaft<br />

mitzuarbeiteten und diese spezielle Lebensweise<br />

kennenzulernen. Sie bekamen<br />

dafür Kost und Quartier und einen Einblick<br />

in den Kibbuz und in den jungen<br />

Staat. Das bedeutete, mit den Hühnern<br />

aufzustehen, um noch vor der großen<br />

Hitze die Arbeit auf den Feldern, auf den<br />

Orangenplantagen oder in den Lagerhäusern<br />

zu verrichten. Aber das war es wert,<br />

wenn man das Leben in diesen einzigartigen<br />

Gemeinschaften erfahren wollte. Damals<br />

kamen laut Har-Shai jährlich etwa<br />

3.000 Volontäre in die Kibbuzim, heute<br />

sind es nur noch an die 500. Mit seinem<br />

Projekt Gather, der Name stammt von der<br />

englischen Übersetzung der Wortwurzel<br />

von „Kibbuz“, will Omer Har-Shai diese<br />

Erfahrung wiederbeleben und die Gegebenheiten<br />

der Kibbuzim nutzen, diesmal<br />

mit einem etwas anderen Konzept: „Jeder<br />

Kibbuz hat etwas Besonderes, ein pastorales<br />

Setting im Grünen oder in der Negev-Wüste.<br />

Und bei Gather kann jeder<br />

seine Stunden frei einteilen und sich aussuchen,<br />

ob, wo und wie viel er sonst noch<br />

im Kibbuz mitarbeiten will.“ So kann man<br />

zum Beispiel morgens am Laptop recher-<br />

© Almog Gurevich<br />

14 wına| Juli_August 2019


STOPP IN DER KIBBUZOASE<br />

Omer Har-Shai, Mitgründer<br />

von Gather, ist selbst<br />

digitaler Nomade.<br />

Kfar Blum. In dem<br />

wunderschönen<br />

Kibbuz im Norden, an<br />

den Ufern des Jordan,<br />

startet im Dezember<br />

der erste Durchgang<br />

für eine neue Generation<br />

von digitalen<br />

Nomaden.<br />

chieren und dabei ins Grüne schauen und<br />

nachmittags Ziegen hüten oder sich in der<br />

Tischlerei nützlich machen. Oder man<br />

kann zeitig in der Früh Orangen ernten<br />

und dann bei Sonnenuntergang im Freien<br />

programmieren und dabei Gazellen oder<br />

Schafe vorbeiziehen sehen. Jeder Teilnehmer<br />

bestimmt selbst, in welchem Ausmaß<br />

er sich in den Kibbuzbetrieb einbringen<br />

will, dafür kostet der Aufenthalt an die<br />

2.000 Dollar im Monat, inklusive Kost,<br />

Quartier, Office Space und Infrastruktur.<br />

Diese Ausgabe sollte, wie Har-Shai<br />

denkt, kein Hindernis sein: „Es gehen ja<br />

kaum Arbeitstage verloren, und die ‚Volontäre‘<br />

können ihre Wohnungen inzwischen<br />

untervermieten und damit die Kosten<br />

wieder hereinbekommen.“<br />

Bedingung für die Teilnahme an diesem<br />

Programm ist ein Aufenthalt von einem<br />

Monat, denn der Initiator will keine<br />

Touristen: „Es soll kein Urlaub sein, sondern<br />

es geht darum, die Arbeit im Job<br />

mit der Kibbuzerfahrung zu verbinden<br />

und dabei auch neue Kontakte zu schließen.“<br />

Jeder potenzielle Teilnehmer muss<br />

einen Fragebogen ausfüllen und ein kurzes<br />

Aufnahmegespräch führen, damit ge-<br />

„Bei Gather kann<br />

jederseineStunden<br />

freieinteilenundsich<br />

aussuchen, ob, wo<br />

und wie viel er sonst<br />

noch im Kibbuz<br />

mitarbeiten will.“<br />

Omer Har-Shai<br />

währleistet ist, dass er in das Konzept und<br />

in die Gruppe passt.<br />

Im Dezember geht der erste Durchgang<br />

mit 25 Teilnehmern in Kfar Blum<br />

los, einem wunderschönen Kibbuz im<br />

Norden, an den Ufern des Jordan. Im Januar<br />

startet dann eine Gruppe in Tuval<br />

in Galiläa, laut Har-Shai ein junger, ruhiger<br />

und pastoraler Ort, an dem auch viele<br />

Künstler wohnen. Im Februar soll es dann<br />

in die Arava im Süden des Landes gehen.<br />

Der junge Unternehmer ist mit vierzig<br />

weiteren Kibbuzim in Verhandlungen:<br />

„Jeder Kibbuz ist eine Welt für sich, und<br />

alle sind sehr interessiert und positiv, denn<br />

viele vermissen die Volontäre, die ein spezielles<br />

internationales Flair in die Kibbuzatmosphäre<br />

gebracht haben. Aber es ist<br />

nicht immer einfach, denn nicht alle haben<br />

die passenden Zimmer und Facilities.“<br />

Neben dem Logis und dem gemeinsamen<br />

Büroraum will Har-Shai auch sportliche<br />

Aktivitäten, Ausflüge und Treffen mit den<br />

Kibbuznikim, den Einwohnern des jeweiligen<br />

Kibbuz, anbieten. Und sollte jemandem<br />

das Landleben doch zu viel werden,<br />

gibt es ja immer noch die Möglichkeit,<br />

kurz zum Shopping oder zur nächsten<br />

Party nach Tel Aviv zu pendeln ... <br />

wına-magazin.at<br />

15


NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />

Bitte keine<br />

Marihuana-Witze!<br />

In Israel entsteht gerade ein staatlich gefördetes<br />

Eco-System für die Regulierung und Standarisierung<br />

von Cannabioniden.<br />

Von Gisela Dachs<br />

E<br />

in neuer Laden in der Dizengoffstraße<br />

heißt „Cannabis Museum<br />

Shop“. Dass es so etwas bereits woanders<br />

– nämlich in Holland – gibt,<br />

darauf wird mit kleinen hebräischen<br />

Buchstaben hingewiesen. Die Regale sind voller<br />

Öle, Salben und schlanker Glasgefäße. „Alles, was<br />

ihr in Amsterdam gesucht habt, gibt es jetzt auch<br />

hier in Tel Aviv“, steht auf der Facebook-Seite des<br />

internationalen Betreibers City Seed Bank. Es<br />

ist kein Geheimnis, dass viele Israelis gerne kiffen.<br />

Das Zeug dazu lässt sich unproblematisch<br />

an allen möglichen Kiosken erwerben. Neu aber<br />

ist diese quasi offizielle Niederlassung. Sie passt<br />

zum Zeitgeist, auch wenn der Konsum von Hanfblüten<br />

zum Vergnügen weiterhin verboten ist.<br />

Für die Legalisierung von Cannabis machen<br />

sich schon lange verschiedene Gruppierungen<br />

stark. Die Grüne-Blatt-Partei gibt es seit 1999,<br />

mit einer festen Stammwählerschaft, auch wenn<br />

sie es bisher nicht in die Knesset geschafft hat.<br />

Bei der jüngsten Wahl war sie nicht angetreten.<br />

In Israel wurde bereits 2016 eine<br />

Gesetzesreform verabschiedet, die<br />

Cannabis für den medizinischen<br />

Gebrauch legalisiert.<br />

Dafür machte in Tel Aviv ausgerechnet Moshe<br />

Feiglin mit seiner stramm rechten Identitätspartei<br />

von sich reden, weil er sich das Thema mit auf<br />

die Fahnen geschrieben hatte.<br />

Genau darum aber geht es all den neuen professionellen<br />

Züchtern im Land aber nicht. Sie<br />

wollen Cannabis allein zu medizinischen Zwecken<br />

herstellen und exportieren. Marihuana-<br />

Witze sind in dieser aufsteigenden Branche<br />

tabu. Ihre Produkte heißen auch nicht „Weißer<br />

Traum“, sondern haben neutrale, seriöse Bezeichnungen.<br />

Noch wird gestritten, ob der Hype gerechtfertigt<br />

ist, aber wer Rang und Namen hat,<br />

interessiert sich längst dafür.<br />

Zu den prominentesten Figuren gehört der<br />

ehemalige Premierminister Ehud Barak, heute<br />

Vorsitzender von Canndoc/Intercure. In seiner<br />

Eröffnungsrede auf der 4. CannaTech-Konferenz<br />

Anfang April lobte er Israel als das „Land von<br />

Milch, Honig und Cannabis“. Barak schätzte<br />

den Markt weltweit auf 17 Milliarden Dollar,<br />

mit riesigem Entwicklungspotenzial. In nicht<br />

allzu langer Zukunft, prophezeite er, werde einer<br />

von drei Menschen auf dem Planeten irgendeine<br />

Art von Cannabinoiden einnehmen.<br />

In Israel wurde bereits 2016 eine Gesetzesreform<br />

verabschiedet, die Cannabis für den medizinischen<br />

Gebrauch legalisiert. Nun ist es gerade<br />

in Kraft getreten. Ärzte sollen fortan auf unbürokratische<br />

Weise Rezepte ausstellen dürfen, für<br />

bedürftige Patienten ist das ein Segen. 35.000<br />

Israelis verfügen über eine staatliche Cannabis-<br />

Erlaubnis, doch die Wege zum Medikament<br />

waren oft hürdenreich. Noch fehlt es an ausreichenden<br />

wissenschaftlichen Studien, sagen die<br />

Experten, aber der Stoff hat sich bei der Behandlung<br />

von Krebs, posttraumatischen Belastungsstörungen,<br />

Autismus, Alzheimer und Epilepsie<br />

bewährt.<br />

Gesundheitsminister Rabbiner Litzmann<br />

überzeugt. Hier wird nun mit staatlicher Unterstützung<br />

weitergeforscht. Um sicherzustellen,<br />

dass nur hochqualitative Pflanzenextrakte konsumiert<br />

werden, soll die Herstellung stärker kontrolliert<br />

werden. Yuval Landschaft, Direktor der<br />

Israeli Medical Cannabis Agency, nennt es ein<br />

„staatlich geförderten Eco-System für Regulie-<br />

16 wına| Juli_August 2019


© Gisela Dachs<br />

rung und Standardisierung von Cannabioniden“.<br />

Auch er mag keine Marihuana-Witze. Dafür erzählt<br />

er lieber, wie er den Gesundheitsminister,<br />

Rabbiner Yaakov Litzmann, von der Notwendigkeit<br />

der Reform überzeugt hat. „Wir haben<br />

ihm versprochen, eine Thora für Cannabis zu<br />

schreiben.“ Das hat ihn überzeugt.<br />

Die Voraussetzungen für die Produktion solcher<br />

Medikamente sind ideal in Israel: Es gibt<br />

ein warmes Klima, eine seit Jahrzehnten hoch<br />

entwickelte Landwirtschaft und die stete Bereitschaft<br />

zur Innovation. In Revadim bei Rehovot<br />

entstand so eine der größten legalen Cannabis-<br />

Farmen der Welt. Hier betreibt BOL Pharma<br />

ein riesiges Gewächshaus. Schwer bewaffnete<br />

Sicherheitsleute bewachen den Eingang. Hinein<br />

darf man nur mit gewaschenen Händen<br />

und einem Schutzanzug. Schleusen entfernen<br />

die Keime von den Schuhen. Dann sieht man<br />

Blumentöpfe soweit das Auge reicht, mit grünen<br />

Pflänzchen in allen Längen und Größen.<br />

Die Forscher erklären und zeigen anschließend,<br />

wie die Cannabis-Blüten nach der Ernte in einer<br />

Lagerhalle getrocknet, verpackt und in einen<br />

stählernen Safe verfrachtet werden.<br />

Natürlich ist Israel nicht der einzige Staat, in<br />

dem Cannabis unter offizieller Aufsicht blüht,<br />

aber die neuen Start-ups spielen eine wichtige<br />

Rolle in allen wichtigen Forschungsfeldern,<br />

sei es die Pharma-, Bio- oder Agrartechnologie.<br />

So wurde gerade ein Robotersystem für die<br />

autonome Pflanzenzucht entwickelt, das ohne<br />

menschliche Berührung auskommt. Hochfliegende<br />

Pläne gibt es genug: Man will in Zukunft<br />

EU-Länder mit Cannabis-Produkten versorgen<br />

und die Ärzte dort fachgerecht schulen. Der alte<br />

Kontinent steckt in dieser Hinsicht zwar noch<br />

in den Kinderschuhen, aber die Nachfrage ist<br />

riesengroß. Israel sei das das einzige Land, das<br />

sich der Kluft bewusst sei zwischen aktuellem<br />

Gebrauch und der richtigen Verschreibung und<br />

Anwendung von Cannabis, sagt Hinanit Koltai,<br />

Professorin am Volcani-Forschungszentrum.<br />

Dass die Cannabis-Industrie gerade so aufblüht,<br />

hat sie Raphael Mechoulam zu verdanken.<br />

Der fast 90-jährige Professor forscht bis<br />

heute in seinem Labor an der Hebräischen<br />

Universität Jerusalem.1964 hatte er als Chemiker<br />

am Weizmann-Institut nach einem Forschungsthema<br />

gesucht, das ihm international<br />

einen Namen verschaffen konnte und das zwei<br />

Kriterien erfüllte: Es durfte nicht viel kosten<br />

und sollte soziale Relevanz haben. Mechoulam<br />

entschied sich für die wissenschaftliche Untersuchung<br />

der Cannabis-Pflanze. Er extrahierte<br />

daraus das Tetrahydrocannabinol, den psychoaktiven<br />

Wirkstoff der Hanfpflanze. Seither erschienen<br />

hunderte von Publikationen unter seinem<br />

Namen und Dutzende von Patenten. Ihm<br />

und seinen Nachfolgern in Forschung und Industrie<br />

geht es um die Herstellung verlässlicher<br />

Medikamente. Dazu braucht es Expertise.<br />

Denn die Hanfpflanze beherbergt gut 400<br />

Stoffe, deren Verhältnis mehr oder weniger von<br />

der Laune der Natur bestimmt wird.<br />

Sollte an dem Hype etwas dran sein, könnte<br />

dies das Leben vieler Patienten verändern, auch<br />

weit über Israel hinaus. In den Cannabis-Museumsshops<br />

werden sie dann allerdings nicht<br />

geschickt werden. Weder in Amsterdam noch<br />

in Tel Aviv. <br />

Yuval Landschaft,<br />

Direktor der Israeli<br />

Medical Cannabis<br />

Agency.<br />

Man will in Zukunft EU-Länder mit<br />

Cannabis-Produkten versorgen und die<br />

Ärzte dort fachgerecht schulen.<br />

wına-magazin.at<br />

17


INTERVIEW MIT MARTIN WEISS<br />

„Israel spricht heute mit<br />

Österreich auf Augenhöhe“<br />

Martin Weiss, Österreichs Botschafter in Israel,<br />

freut sich über fundamentale Verbesserungen in den<br />

Beziehungen der beiden Staaten.<br />

Ein Abschiedsinterview mit Marta S. Halpert<br />

WINA: Sie haben im November 2015<br />

Ihren Posten als österreichischer Botschafter<br />

in Israel angetreten. Welche<br />

Ihrer Erwartungen von damals haben<br />

sich erfüllt, welche nicht?<br />

Martin Weiss: Ich bin mit sehr positiven<br />

Einstellungen nach Israel gekommen.<br />

Es gibt viele Parallelitäten zwischen den beiden<br />

Staaten: Sie sind von ähnlicher Größe und in vielerlei<br />

Hinsicht mit einander verknüpft – auch durch<br />

die problematische Geschichte. Ich habe mir viel erhofft,<br />

und das meiste hat sich realisiert: In den fast<br />

vier Jahren war die gesamte Bundesregierung hier,<br />

inklusive eines Staatsbesuchs des Bundespräsidenten,<br />

was einer Krönung im Verhältnis von zwei Staaten<br />

gleichkommt.<br />

Im Bereich der Wirtschaft und des Tourismus sind<br />

beide Staaten in den letzten Jahren stark auf einander<br />

zugegangen. Das war in dieser Form nicht zu erwarten.<br />

Das habe ich mir gewünscht – und das ist<br />

auch alles eingetreten.<br />

Worauf führen Sie das zurück?<br />

❙ Österreich und Israel hatten über die Jahre auch<br />

ein schwieriges Verhältnis, vor allem, weil Österreich<br />

nach Erreichung seiner Unabhängigkeit sehr<br />

schnell bereit war, seine Geschichte und seine Rolle<br />

im Zweiten Weltkrieg zu vergessen. Es hat einige<br />

Zeit gebraucht, um ehrlich darüber zu reden: Erst in<br />

den 1980er-Jahren gab es eine Zäsur, bedingt durch<br />

die Waldheim-Affäre. Auch Bruno Kreisky, der als<br />

erster Europäer die PLO anerkannte und sehr kritisch<br />

mit Israel ins Gericht gegangen ist, hat das Verhältnis<br />

nicht erleichtert. Wegen Jörg Haider und der<br />

Resümee. Nach<br />

knapp vier Jahren in<br />

Israel geht es für Botschafter<br />

Weiss nun<br />

nach Washington.<br />

MARTIN WEISS,<br />

geboren 1962 in Salzburg,<br />

hat in Graz, Wien und den<br />

USA (University of Virginia)<br />

Jus studiert. Seit 2015<br />

Botschafter in Tel Aviv; ab<br />

Herbst 2019 österreichischer<br />

Botschafter in Washington.<br />

Zweimal leitete er die Presseabteilung<br />

des Außenministeriums<br />

(2001–2004<br />

und 2012–2015). Weiss<br />

war zuletzt österreichischer<br />

Botschafter in Zypern<br />

(2009–2012), davor österreichischer<br />

Generalkonsul in<br />

Los Angeles (2004–2009).<br />

ersten schwarz-blauen Regierung gab<br />

es weniger Aufs als Abs. Diese Zeit<br />

ist jetzt vorbei, Österreich hat gelernt,<br />

ehrlich über seine Geschichte zu sprechen,<br />

und zwar mit offenem Visier.<br />

Wir brauchen da nichts beschönigen,<br />

wir wissen, was passiert ist. Da hat sich<br />

Österreich sicher weiterbewegt.<br />

Trotz der zweiten schwarz-blauen Regierung?<br />

❙ Ja, das hängt auch an der Person Sebastian Kurz, der<br />

ein besonderes Interesse an diesen bilateralen Beziehungen<br />

gehabt hat, und das hat sich dann auf tausend<br />

Ebenen widergespiegelt – und zwar für beide Seiten.<br />

Israel spricht heute mit Österreich auf Augenhöhe,<br />

und man hat begonnen, das gegenseitig vorhandene<br />

Potenzial zu heben. Ich habe das bei den Besuchen<br />

der Regierungsmitglieder beobachtet: Viele dieser<br />

Politiker waren noch nie in Israel, aber sicher schon<br />

auf Bali oder in Japan. Jetzt besinnt man sich auf das<br />

ganz Normale: Wir haben historische Verbindungen,<br />

hier leben viele Menschen, die Deutsch sprechen<br />

oder in den letzten Jahren als begeisterte Touristen<br />

in Österreich waren. Auch zahlreiche Unternehmen<br />

sagen heute: Israel hat ein großes Innovationspotenzial,<br />

dafür haben wir die industrielle Basis, also machen<br />

wir etwas daraus.<br />

Bemüht sich Israel um die Unterstützung Österreichs,<br />

wenn es um Anliegen oder auch Konflikte<br />

mit der EU geht?<br />

❙ Israel hat oft das Gefühl, dass es von Europa nicht<br />

verstanden wird oder mit ungleichem Maß gemessen<br />

wird. Das ist im Kern richtig, insbesondere wenn<br />

© Reinhard Engel<br />

18 wına| Juli_August 2019


AUFEINANDER ZUGEGANGEN<br />

Botschafter Martin Weiss. „Zahlreiche<br />

Unternehmen sagen heute: Israel hat<br />

ein großes Innovationspotenzial, dafür<br />

haben wir die industrielle Basis, also<br />

machen wir etwas daraus.“<br />

internationale Organisationen Resolutionen verabschieden,<br />

wie z. B. „die Juden haben keine Verbindung<br />

zu Jerusalem“, so ist das irre. Israel hofft auf<br />

gewisse Kurskorrekturen, und zu denen waren Bundeskanzler<br />

Kurz und auch Österreich bereit: sich Themen<br />

nochmal anzuschauen und zu überlegen, ob das<br />

wirklich noch stimmig ist. Österreich ist willens, seine<br />

Meinung zu adjustieren, wenn etwas unfair gegenüber<br />

Israel ist.<br />

„Wir haben<br />

klar gesagt:<br />

Der Antisemitismus<br />

ist nicht ein<br />

Thema,dasdie<br />

Judenbetrifft,<br />

sondern ein<br />

Thema, das Europa<br />

betrifft.“<br />

Ist Österreich bei einer EU-Entscheidung schon einmal<br />

ausgeschert?<br />

❙ Nicht ausgeschert, aber wir haben versucht, zu einer<br />

Kurskorrektur beizutragen. Österreich hat z. B.<br />

das Thema „Antisemitismus“ auf die Tagesordnung<br />

des Europäischen Rates gebracht – und dazu auch einen<br />

Beschluss herbeigeführt. Wir haben klar gesagt:<br />

Der Antisemitismus ist nicht ein Thema, das die Juden<br />

betrifft, sondern ein Thema, das Europa betrifft.<br />

Das können wir in einer Gesellschaft nicht dulden,<br />

in der wir leben wollen, deshalb geht es uns alle an.<br />

Oder unser Abstimmungsverhalten beim UN-Menschenrechtsrat<br />

in Genf, da haben wir gegen die Resolution<br />

gestimmt, die Israel verurteilen sollte. Es ging<br />

um Gaza: Natürlich ist das ein ganz schwieriges Problem,<br />

und selbstverständlich müssen die Menschen<br />

dort Hoffnung bekommen, aber wenn es immer nur<br />

darum geht, dass Israel der alleinige Täter ist, dann<br />

ist das falsch gewichtet.<br />

Da muss man einen Schritt zurückgehen und sagen:<br />

Alles im Leben hat zwei Seiten, wenn wir immer<br />

nur bei einer Seite abladen, dann kommen wir<br />

in eine Schieflage. Israel hat eben nicht die Schweiz<br />

oder Liechtenstein als Nachbarn, sondern Syrien und<br />

den Libanon. Daher auch nicht den Luxus eines zentraleuropäischen<br />

Landes, wo es keinerlei Bedrohung<br />

gibt. In Österreich kann ich mir die Frage stellen,<br />

„wozu brauche ich ein Bundesheer?“ Diese Frage<br />

kann sich Israel nie stellen. Aber wenn Israel die EU<br />

kritisiert, dann erinnern wir daran, dass Europa Israel<br />

auch sehr viel bringt: Der reibungslose Flugverkehr<br />

ist dem Open Sky Agreement mit der EU zu danken.<br />

Dass israelische Forscher an EU-Forschungsprogrammen<br />

teilnehmen (Stichwort Horizon) und dort<br />

auch hohe Förderungen ansprechen können, das ist<br />

schon eine ganz klare Win-win-Situation.<br />

Im Herbst gehen Sie als Botschafter nach Washington.<br />

Ein großer Sprung vom kleinen Israel?<br />

❙ Ich kenne Washington, denn vor 28 Jahren trat ich<br />

dort meinen ersten Posten an. Israel ist viel zugänglicher,<br />

hier kenne ich jeden Minister – und bekomme<br />

schnell einen Termin. In Washington ist das nicht<br />

leicht, dort muss man einen kreativen Ansatz suchen,<br />

wie man als Botschafter eines kleinen Landes Gehör<br />

finden kann.<br />

wına-magazin.at<br />

19


WINA: Herr Schabhüttl, Sie sind jetzt seit sechs<br />

Jahren Wirtschaftsdelegierter in Israel. Was sind<br />

die größten Veränderungen in diesen Jahren? Als<br />

Sie gekommen sind, hat es diese und jene Probleme<br />

oder Herausforderungen gegeben. Was ist<br />

sechs Jahre später etwas anders, völlig anders<br />

oder gleich geblieben?<br />

❙ Günther Schabhüttl: Es hat sich völlig verändert,<br />

und zwar in allen Belangen zum Positiven, egal ob<br />

man es jetzt an harten Zahlen festmacht oder an<br />

persönlichen, subjektiven Eindrücken. Alles hat sich<br />

massiv verbessert, und ich meine jetzt nicht wegen<br />

mir. Es ist ein Momentum entstanden, vor allem<br />

im Technologiebereich, das uns ermöglicht hat, Tel<br />

Aviv in Österreich ganz anders zu präsentieren, es<br />

hat uns auch ermöglicht, für diesen Markt ein Alleinstellungsmerkmal<br />

herauszuarbeiten. Das hat uns<br />

ganz neue Möglichkeiten gegeben, österreichische<br />

Firmen anzusprechen.<br />

Beginnen wir vielleicht bei den Zahlen und sprechen<br />

dann über einzelne Branchen.<br />

❙ Bei den Exporten liegen wir derzeit bei 400 Mio.<br />

Euro, das bedeutet innerhalb der letzten sechs Jahre<br />

eine Verdoppelung. Dazu gehört das Brot- und Butter-Geschäft,<br />

die alten Stärkefelder, etwa Beiträge<br />

zur israelischen Infrastruktur. Renommierte Firmen<br />

sind jetzt noch sichtbarer aktiv, wie Strabag<br />

oder DOKA.<br />

Was bedeutet das im regionalen Vergleich?<br />

❙ Israel ist ein kleines Land, aber der erste Platz in der<br />

Region ist sich nur um ein Haar nicht ausgegangen.<br />

Wer liegt davor?<br />

❙ Die Vereinigten Arabischen Emirate. Aber Saudi-<br />

Arabien rangiert dahinter.<br />

„TECHNOLOGIE STEHT IM ZENTRUM“<br />

INTERVIEW MIT GÜNTHER SCHABHÜTTL<br />

Günther Schabhüttl vertritt als<br />

Wirtschaftsdelegierter seit sechs<br />

Jahren österreichische Unternehmen in<br />

Tel Aviv. Er zieht im Interview eine<br />

durchwegs positive Zwischenbilanz.<br />

Text und Foto: Reinhard Engel<br />

Das ist jetzt einmal der Export von Waren. Wie sieht<br />

es bei Dienstleistungen aus, etwa im Tourismus?<br />

❙ Vor zehn Jahren hat es 257.000 Nächtigungen von<br />

Israelis in Österreich gegeben. Im letzten Jahr waren<br />

es 685.000. Das ist mehr als eine Verdoppelung,<br />

bis auf zwei Jahre waren die Wachstumsraten<br />

immer zweistellig. Ganz aktuell im ersten Quartal<br />

2019 hat es bei den Ankünften eine Steigerung um<br />

35 Prozent gegeben, bei den Nächtigungen um 27<br />

Prozent. Diese hohen Zuwachsraten sind besonders<br />

eindrucksvoll, weil sie schon von einem hohen<br />

Niveau ausgehen.<br />

Und das sind nicht nur Skifahrer, das sind vor allem<br />

auch Sommerfrischler?<br />

❙ Das bedeutet 2/3 Sommer, 1/3 Winter, vorwiegend<br />

Aktiv- oder Familienurlaube. Und besonders<br />

günstig ist dabei, dass die österreichischen und israelischen<br />

Feiertage meist nicht gleichzeitig sind, die<br />

Israelis kommen daher oft zur Vor- oder Nachsaison.<br />

Aber die Israelis konzentrieren sich dabei immer<br />

noch auf einige wenige Orte und Regionen. Das<br />

zeigt, dass es noch ein enormes zusätzliches Potenzial<br />

gibt. Eine Million Nächtigungen kann in drei,<br />

vier Jahren durchaus möglich sein.<br />

Und wie sieht es umgekehrt aus, bei österreichischen<br />

Touristen in Richtung Israel?<br />

❙ Auch diese Zahlen steigen permanent. Die Direktverbindung<br />

Wien–Eilat ist wieder aufgenommen<br />

worden. Zwischen Wien und Tel Aviv gibt es<br />

wöchentlich 40 Flüge. Sun d’Or fliegt zweimal wöchentlich<br />

Salzburg an. Israel und besonders Tel Aviv<br />

wurde in den letzten Jahren als Destination von den<br />

Österreichern gänzlich anders wahrgenommen. Israel<br />

ist Technologie, Tel Aviv ist Lebensfreude, Kulinarik,<br />

es geht eben längst weit über den klassischen<br />

Pilgertourismus hinaus.<br />

Wenden wir uns einzelnen Branchen zu. Österreich<br />

ist gut im Export von Maschinen und Ingenieurdienstleistungen.<br />

In Israel war etwa die Bahn<br />

ein guter Kunde, immer auch ein Hoffnungskunde.<br />

Lange Zeit wurden Projekte verschleppt, jetzt wird<br />

wieder gebaut. Wie sieht es da derzeit für österreichische<br />

Unternehmen aus?<br />

20 wına| Juli_August 2019


START-UPS & TRADITIONELLE INDUSTRIE<br />

❙ Österreich ist absolut dabei. Es gibt etwa eine Kooperation<br />

zwischen den ÖBB und der Israelischen<br />

Bahn im Bereich Tunnelsicherheit. Gehen wir aber<br />

zu einem Projekt, das hier jeden beschäftigt, weil es<br />

während der Bauarbeiten massive Beeinträchtigungen<br />

beim Verkehr gibt, das U-Bahn-Projekt in Tel<br />

Aviv. Da ist etwa eine österreichische Planungsfirma<br />

beteiligt, die Schienen kommen von der Voestalpine,<br />

es gibt weitere unterschiedlichste Zulieferer.<br />

Und das trotz des chinesischen Generalunternehmers?<br />

❙ Ja, aber es kommt nicht alles aus China, er nimmt<br />

auch österreichische Produkte herein. Es gibt aber<br />

auch ganz andere Exporterfolge. Ich denke da etwa<br />

an eine österreichische Firma, die in israelischen<br />

Krankenhäusern die Kommunikation<br />

zwischen Patienten und Stationen<br />

einrichtet. Da würde man meinen,<br />

so etwas ist schwer in einheimischer<br />

Hand, und dennoch kommt ein österreichisches<br />

Unternehmen und stattet<br />

praktisch alle Krankenhäuser mit dieser<br />

Technologie aus. Ähnlich sieht es bei<br />

den Flughäfen aus, wo die Kommunikationseinrichtungen<br />

mit Software von einem<br />

österreichischen Unternehmen arbeiten.<br />

Sie haben die Strabag erwähnt mit dem<br />

langen Wassertunnel. Gibt es darüber<br />

hinaus in der Baubranche noch aktuelle<br />

Großprojekte?<br />

❙ Ja, es geht um eine so genannte mechanisch-biologische<br />

Abfallbehandlungsanlage.<br />

Diese entsteht im Süden<br />

Tel Avivs als Gemeinschaftsprojekt der<br />

Strabag mit lokalen Partnern. Und es<br />

gibt österreichische Firmen, die beim<br />

Einbau von Filtern in Industrieanlagen oder Kraftwerken<br />

gefragt sind, weil auch in Israel die Grenzwerte<br />

verschärft werden, wegen der teils schlechten<br />

Luft, etwa in Haifa.<br />

Das waren bisher durchwegs Beispiele aus der Industrie.<br />

Finden sich auch Exporterfolge kleinerer österreichischer<br />

Unternehmen?<br />

❙ Ja, die gibt es. Ich denke etwa an ein Unternehmen<br />

aus Niederösterreich mit vielleicht sieben, acht<br />

Millionen Umsatz. Das erzeugt Paneele für die Innenausstattung<br />

für bessere Raumakustik in Großraumbüros,<br />

in Co-Working-Spaces. Ihr wichtigster<br />

Auslandsmarkt ist Israel, und sie statten hier einen<br />

großen Kunden nach dem anderen aus, da reden wir<br />

WER VERTRITT ÖSTER-<br />

REICH IN ISRAEL?<br />

GüntherSchabhüttlwurdein<br />

Güssing im Südburgenland<br />

geboren. Er studierte an der<br />

FH in Eisenstadt mit einem<br />

Auslandssemester in Russland.<br />

Seit 2004 arbeitet er in<br />

derAußenwirtschaftAustria<br />

mitStationenunteranderem<br />

in der Slowakei und in Lettland.DavorwarerProjektmanager<br />

bei Porsche Austria.<br />

„Es ist ein Momentum<br />

entstanden,<br />

vor allem<br />

im Technologiebereich,dasuns<br />

ermöglichthat,<br />

TelAvivinÖsterreich<br />

ganz anders<br />

zupräsentieren.“<br />

von sehr bekannten Unternehmen wie Google, booking.com<br />

oder Amazon.<br />

Aber ist das jetzt ein besonders positiver Ausreißer?<br />

Ist der Markt insgesamt so aufnahmefähig und leicht<br />

zu bearbeiten?<br />

❙ Es gibt immer wieder so erfolgreiche Überraschungen.<br />

Aber der Markt ist insgesamt sehr kompetitiv und<br />

durchaus anspruchsvoll. Die Kunden sind extrem gut<br />

informiert, kennen die Alternativen. Es ist sicher kein<br />

Markt für jeden, aber für immer mehr. Wir sehen das<br />

in unseren eigenen Zahlen, wir betreuen heute sicher<br />

um 30 Prozent mehr österreichische Unternehmen<br />

als noch vor einigen Jahren. Wir sehen eher wenige<br />

Firmenniederlassungen, der Markt wird nach wie vor<br />

durch lokale Vertreter bearbeitet.<br />

Wo würden Sie noch Potenzial sehen?<br />

❙ Im Industriebereich ganz stark, bei der<br />

Modernisierung israelischer Produktionsunternehmen.<br />

Man darf nicht vergessen,<br />

neben den beeindruckenden Erfolgen der<br />

Start-up- und IT-Branche gibt es eine traditionelle<br />

Industrie. Und die läuft teilweise<br />

mit einer ganz anderen Geschwindigkeit,<br />

hat oft erheblichen Nachholbedarf.<br />

Die bekommen jetzt selbst Wettbewerbsdruck?<br />

❙ Wettbewerbsdruck von der Konkurrenz,<br />

und auch neue Auflagen von der öffentlichen<br />

Hand, die die Standards verschärft.<br />

Es hat in den letzten Jahren zahlreiche<br />

Berichte darüber gegeben, dass sich internationale<br />

Konzerne in Israel eingekauft<br />

haben, hier kleine Technologieunternehmen<br />

übernommen haben, die für<br />

sie Spezialaufgaben betreuen. Ich denke<br />

etwa an die Automobilindustrie: In Israel wird an Cyber<br />

Security im Fahrzeug oder am autonomen Fahren<br />

gearbeitet. Gibt es dazu ähnliche Beispiele aus<br />

Österreich?<br />

❙ Die gibt es. Technologie steht in der überwiegenden<br />

Zahl der Anfragen im Zentrum, 80 Prozent unserer<br />

Beratungstägigkeit ist technologierelevant. Viele Unternehmen<br />

kommen hierher und schauen, was für sie<br />

neue Technologien sein könnten, suchen einschlägige<br />

Kontakte. Diese Aktivitäten können unterschiedlich<br />

intensiv sein. Das Maximum, das wir an einem österreichischen<br />

Beispiel sehen, ist der Grazer Industrieanlagenbauer<br />

Andritz. Dieser hat innerhalb von einem<br />

Jahr hier ein Unternehmen im Cyber-Bereich<br />

mit 50 Entwicklern hochgezogen.<br />

wına-magazin.at<br />

21


ISRAEL BLOG<br />

Das einsame Leben von<br />

Israels Lone Soldiers<br />

Ungefähr vier Prozent der Soldaten im aktiven Dienst der<br />

IDF sind Lone Soldiers. Im vergangenen Jahr machten sie<br />

30 Prozent aller Selbstmorde unter den Soldaten aus.<br />

E<br />

s ist Wochenende in der Militärbasis im<br />

Norden Israels, und die Soldaten fahren<br />

nach Hause zu ihren Familien. Rafael hat<br />

nicht wirklich ein Zuhause hier. Er ist alleine<br />

von Boston nach Israel gekommen,<br />

um seinen Kindheitstraum zu erfüllen –<br />

dem jüdischen Staat zu dienen und der israelischen Armee<br />

beizutreten. Rafael ist ein Lone Soldier oder Chayal<br />

Boded, ein Soldat ohne Familie im Land. Bereits als<br />

Teenager kannte er alle Einheiten der IDF und konnte es<br />

Von Iris Lanchiano<br />

kaum erwarten, in das Flugzeug<br />

zu steigen, um Baseballkappe,<br />

Jeans und Turnschuhe<br />

gegen die Uniform zu tauschen. Doch nach dem<br />

ersten Jahr seines Militärdienstes, nachdem die Aufregung<br />

und das Abenteuer zur Routine geworden sind,<br />

kommen ihm die ersten Zweifel. An der Wand in seinem<br />

kleinen Zimmer in einem Kibbuz in der Nähe von<br />

Aschkelon hängen die amerikanische und israelische<br />

Fahne nebeneinander. Ein Tattoo des Wappens Jerusalems<br />

ziert seinen Rücken: „Am Israel Chai.“ – Das<br />

Volk Israel soll leben. Er putzt seine Stiefel und macht<br />

sein Essen in der Mikrowelle warm. Er hatte Glück,<br />

dass niemand seiner Kameraden ihn wieder darum gebeten<br />

hat, die Wochenendschicht zu übernehmen. Obwohl<br />

es Organisationen gäbe, die in genau solchen Fällen<br />

„Adoptivfamilien“ vermittelt, um den Lone Soldiers<br />

ein Zuhause in Israel zu bieten, ist es einfach nicht dasselbe.<br />

Nach dem Herumreichen zwischen den Familien<br />

hatte Rafael das Gefühl, er sei eine Last.<br />

Er verbringt den Abend lieber alleine und<br />

streamt das Spiel seiner Lieblingsfootballmannschaft<br />

aus dem Internet.<br />

Depressionen und emotionale Belastungen,<br />

sowohl während des Militärdienstes<br />

wie auch unmittelbar nach der Entlassung,<br />

und die Schwierigkeit, sich auf<br />

Hebräisch richtig auszudrücken, machen<br />

vielen Lone Soldiers zu schaffen.<br />

Eine Reihe an Selbstmorden unter IDF-<br />

Soldaten aus dem Ausland hat rote Fahnen<br />

gehisst und die Probleme hervorgehoben,<br />

mit denen junge Menschen in Stresssituationen<br />

ohne ihre Familien konfrontiert sind.<br />

Die 19-jährige Michaela Levit aus Miami, von ihren<br />

Freunden „Mica“ genannt, nahm sich im Mai das Leben<br />

und wurde auf ihrer Militärbasis gefunden. Es war<br />

der dritte Selbstmordfall unter Lone Soldiers in diesem<br />

Jahr. Die Organisation Why They Fell will mehr Bewusstsein<br />

für die Situation der Lone Soldiers schaffen.<br />

„Es ist wahr, es gibt Vergünstigungen für Lone Soldiers.<br />

Aber das hilft nicht gegen das Gefühl der Einsamkeit.<br />

Dieser Eimer füllt sich von Tag zu Tag mehr und<br />

mehr, bis es viele nicht mehr ertragen. Sie wollen diese<br />

Depressionen und emotionale Belastungen, sowohl<br />

während des Militärdienstes wie auch unmittelbar<br />

nach der Entlassung, und die Schwierigkeit,<br />

sich auf Hebräisch richtig auszudrücken,<br />

machen vielen Lone Soldiers zu schaffen.<br />

Einsamkeit einfach nicht mehr. Einige denken, sie seien<br />

Versager, weil sie aufgeben möchten, oder dass sie einfach<br />

zu schwach sind. Oft wird ihnen gesagt, jeder erlebt<br />

diese Krise, da muss man durch – aber das klappt<br />

nicht immer“, erzählt Noam, einer der Sozialarbeiter,<br />

die sich um die Lone Soldiers kümmern.<br />

Für Rafael, der sich als Kind gerne als Soldat verkleidet<br />

hat und mit den Kochlöffeln seiner<br />

Mutter auf Spielfiguren schoss, ist<br />

Aufgeben keine Option. Seinen Militärdienst<br />

macht er fertig, auch wenn er danach<br />

wieder zurückgeht, „dann kann ich<br />

mit ruhigem Gewissen sagen, ich habe<br />

dem jüdischen Staat gedient.“ Währenddessen<br />

packt Noam Micas letzte persönliche<br />

Gegenstände zusammen, die sie in<br />

Israel hatte, um diese an ihre Familie zurückzuschicken.<br />

<br />

Israel ist stolz auf seine Lone<br />

Soldiers, doch es fehlt an<br />

Beratung und Betreuung.<br />

© flash90<br />

22 wına| Juli_August 2019


HIGHLIGHTS | 02<br />

Die Cellistin<br />

von Auschwitz<br />

Zum 94. Geburtstag der Musikerin<br />

Anita Lasker-Wallfisch am 17. Juli<br />

Natürlich rührte sich im Jänner 2018<br />

in einer ganz bestimmten Ecke des<br />

feierlich versammelten Plenums des<br />

Deutschen Bundestags zu Berlin keine<br />

Hand, als Anita Lasker-Wallfisch die humanitäre<br />

Öffnung der deutschen Grenzen<br />

im Jahr 2015 für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge<br />

als „unglaublich mutige,<br />

generöse Geste“ ausdrücklich lobte. Stille<br />

schlug ihr von jenen Sitzen entgegen,<br />

die der Fraktion der Partei Alternative für<br />

Deutschland zugewiesen sind.<br />

Es war die Gedenkstunde für die Opfer<br />

des Nationalsozialismus. Anlässlich<br />

der 85. Wiederkehr der so genannten<br />

„Machtergreifung“ Hitlers und seiner<br />

Mordschergen war Anita Lasker-Wallfisch<br />

geladen, die einst mit sechzehn Jahren<br />

in das KZ Auschwitz kam, dann Ende<br />

1944 nach Bergen-Belsen. Und überlebte.<br />

Denn sie wurde „gebraucht“, die<br />

begabte Cellistin wurde Mitglied des Frauenorchesters<br />

des Vernichtungslagers. Im<br />

April 1945 befreit, wie auch ihre Schwester<br />

Renate, emigrierte sie ein Jahr später<br />

nach Großbritannien, wo sie Karriere<br />

als Musikerin machte und unter anderem<br />

das English Chamber Orchestra gründete,<br />

ein heute renommiertes Kammerorchester.<br />

Fast ihre gesamte Familie musiziert<br />

heute professionell und auf höchstem Niveau.<br />

Ihre Schwester Renate entschied<br />

sich hingegen für das Wort. Sie war Jahrzehnte<br />

lang mit Klaus Harpprecht verheiratet,<br />

der seit den 1960er-Jahren eine<br />

Generation lang zu den wichtigsten<br />

westdeutschen Publizisten gehörte,<br />

als Redenschreiber Willy Brandts, als<br />

Mitarbeiter wichtiger Zeitungen, Buchautor<br />

und Zeitschriftenherausgeber.<br />

Anita Lasker-Wallfisch, die einst<br />

schwor, niemals nach Deutschland zurückzukehren,<br />

brach ihren Eid 1994.<br />

1996 erschienen ihre Memoiren. 2019<br />

erhielt sie den Deutschen Nationalpreis,<br />

wie vor ihr auch Fritz Stern und Václav<br />

Havel. Nach ihrer Rede 2018 pries sie<br />

der Berichterstatter der Tageszeitung Die<br />

Welt als „eine Kämpferin, der es wider<br />

alle Wahrscheinlichkeit gelang, über den<br />

sicheren Tod zu triumphieren“. A. K.<br />

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sozialen Medien ist Talia Sutra eine<br />

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als nur eine körperliche Übung, es ist<br />

eine Beziehung, in der sie von dem<br />

Tag an war, als sie mit Yoga anfing.<br />

Ihre Leidenschaft für Yoga verbreitete<br />

sie dieses Jahr beim Yoga-Festival<br />

am Wörthersee.<br />

instagram.com/talia_sutra<br />

Anita Lasker-<br />

Wallfisch überlebte<br />

die Schoah in Auschwitz.<br />

Am 17. Juli wird<br />

sie 94 Jahre alt.<br />

Neuigkeiten von Lena<br />

Dunham. Bei Industry<br />

geht es um den Kampf<br />

nach oben in der<br />

Finanzwelt.<br />

WINA PLOTKES<br />

Lena Dunhams<br />

neue HBO-Serie<br />

Nach dem Erfolg der Hit-Serie Girls –<br />

und der weniger erfolgreichen Serie<br />

Camping – paart sich Lena Dunham<br />

zum dritten Mal mit HBO. Der Fernsehprogrammanbieter<br />

hat Industry in Auftrag<br />

gegeben, eine achtteilige Serie, die<br />

einer Gruppe junger Uni-Absolventen<br />

folgt, die versuchen, heißbegehrte Arbeitsplätze<br />

bei einer Top-Investmentbank<br />

in London zu ergattern, um an die Spitze<br />

der Finanzwelt zu gelangen.<br />

Lena Dunham wird Regie und Produktion<br />

der Dramaserie übernehmen und<br />

beschreibt Industry auf ihrem Twitter-<br />

Profil als eine Mischung aus Wolf of Wall<br />

Street und Melrose Place.<br />

Gedreht wird im Sommer in Wales, wo<br />

sich auch die Produktionsfirma der Serie,<br />

Bad Wolf, befindet. Ein Veröffentlichungstermin<br />

wurde jedoch noch nicht<br />

bekanntgegeben.<br />

Ausverkauftes<br />

Konzert von Reggaeton-Superstar<br />

Ramon Luis Ayala Rodriguez, besser bekannt<br />

unter seinem Künstlernamen<br />

Daddy Yankee, trat in den letzten fünf<br />

Jahren dreimal in Israel auf. Nach Hits<br />

wie Despacito und Con Calma stand der<br />

42-Jährige Ende Juni im ausverkauften<br />

Live Park von Rischon LeZion.<br />

Yankee bedankte sich beim Publikum<br />

und betonte, dass er sich in Israel immer<br />

zu Hause fühlt. Israels große lateinamerikanische<br />

Community bejubelte seine<br />

Anwesenheit und wehte mit Fahnen aus<br />

Kolumbien, Ecuador, Venezuela, Chile,<br />

Brasilien, Uruguay und Kuba. Yankee<br />

kam nicht nur für das Konzert, sondern<br />

besuchte die Klagemauer und feierte mit<br />

Freunden in den Bars von Tel Aviv. I.L.<br />

© Joel C Ryan/picturedesk.com; Mirjam Reither/picturedesk.com; instagram<br />

wına-magazin.at<br />

23


INTERVIEW MIT DORON RABINOVICI<br />

„Natürlich werde<br />

ich immer<br />

als Jude gelesen“<br />

Doron Rabinovici, kürzlich mit<br />

dem Theodor-Herzl-Preis der IKG<br />

ausgezeichnet, spricht über seine diversen<br />

Identitäten, seine Literatur und seine Rolle<br />

in der Öffentlichkeit, seine Beziehung zu<br />

Israel und zum Judentum, sein Leben als<br />

Sohn und das Erinnern in Österreich.<br />

WINA: Wenn von Doron Rabinovici gesprochen<br />

wird, ist oft auch von seinen verschiedenen Identitäten<br />

– israelisch-österreichisch, jüdisch-säkular,<br />

Historiker und Schriftsteller, links und unabhängig<br />

und noch mehr – die Rede. Wie fühlst du dich mit<br />

diesen Zuschreibungen?<br />

Doron Rabinovici: Ich bin Jude in Wien, ein<br />

deutschsprachiger Autor in Österreich, und meine<br />

israelische Identität ist trotzdem sehr stark. Ich<br />

glaube, was gewesen ist, macht das Wesen aus, aber<br />

es gibt immer etwas, das noch vor uns liegt. Die<br />

voll ausformulierte Identität wird erst auf meinem<br />

Grabstein zu finden sein. Bis dahin habe ich noch<br />

ein Wörtchen mitzuschreiben.<br />

„Mitzuschreiben“, das heißt wohl, du siehst dich primär<br />

als Schreibender und nicht als Wortmelder.<br />

Inwieweit beeinflussen jedoch politische und gesellschaftliche<br />

Situationen die Gewichtungen? In<br />

schlimmen Zeiten könnte ein jüdischer Schriftsteller<br />

seine Aufgabe ja vielleicht eher im öffentlichen<br />

Aktivismus als im stillen Romanschreiben sehen.<br />

❙ Ja, es gibt Zeiten, da ist man als Jude stärker gefordert.<br />

Zu dem Thema hat Hannah Arendt den<br />

kürzesten klaren Satz gesagt: „Wenn man als Jude<br />

angegriffen wird, hat es keinen Sinn, sich als etwas<br />

anderes zu verteidigen.“ Wenn es hingegen um allgemein<br />

menschliche Themen geht, hat es keinen<br />

Interview: Anita Pollak<br />

Foto: Daniel Shaked<br />

„Ich glaube,<br />

dass mir<br />

zunehmend<br />

das mir Wichtigewichtiger<br />

wird und mir<br />

dasDringliche<br />

immer mehr<br />

aufdieNerven<br />

geht.“<br />

Sinn, immer mit jüdischen Texten zu antworten.<br />

Wenn wir z. B. darüber reden, dass uns eine Klimakatastrophe<br />

droht, so muss ich das nicht unbedingt<br />

mit Moses behandeln. Aber natürlich werde ich immer,<br />

egal was ich sage oder schreibe, als Jude gelesen.<br />

Stört dich diese Punzierung als jüdischer Autor<br />

manchmal?<br />

❙ Ja, es stört mich, wenn ich in eine Schublade gelegt<br />

werde, und es stört mich, wenn es verleugnet wird.<br />

Ich wehre mich gegen die falsche Punzierung durch<br />

mein Schreiben, und ich glaube, dass sich meine Romane<br />

auch dagegen abschirmen. Bei uns als Juden<br />

spielt es eine andere Rolle, dessen sind wir uns bewusst,<br />

aber auch ein Tiroler Autor wird immer wieder<br />

mit Tiroler Fragen konfrontiert werden. Letztlich<br />

kann ich aber nicht immer nur als Jude sprechen,<br />

das wäre nicht richtig.<br />

Es gibt neben der nicht-jüdischen Rezeption wohl<br />

auch die Vereinnahmung von jüdischer Seite, in<br />

dem Sinne, was man als Jude schreiben darf oder<br />

nicht. Wie stehst du dazu?<br />

❙ Ich setze mich darüber hinweg. Letztlich war ich<br />

aber immer wieder erstaunt, wie wenig Widerstand<br />

ich erlebt habe. Oft wurde mir auch gesagt,<br />

wie mutig ich sei, ich finde, verglichen mit dem,<br />

was andere Leute auf unserer Welt riskieren, ist das<br />

24 wına| Juli_August 2019


AUF MÄNGEL HINWEISEN<br />

wına-magazin.at<br />

25


I WIE RABINOVICI<br />

nichts. Natürlich gibt es auch die Überlegung, was<br />

missverständlich sein könnte, aber letztlich ist es<br />

die Aufgabe des Schriftstellers, sich etwas einfallen<br />

zu lassen. Die Inspiration liegt immer auch in<br />

der Nähe der Impertinenz, das muss so sein. Der<br />

gute Einfall kommt von innen und von außen, als<br />

käme er von einem anderen Universum, und insofern<br />

kann ich mich nicht darum scheren, ob das gebührlich<br />

ist oder nicht.<br />

Wenn man zu einem öffentlichen Anlass einen<br />

aufrechten, über jeden Zweifel erhabenen Redner<br />

sucht, wendet man sich an Doron Rabinovici.<br />

Stimmt dieser Eindruck?<br />

❙ Als Jude bin ich immer schon das, was als „das andere<br />

Österreich“ zitiert wird, aber in Österreich sind<br />

die Autoren, da gibt es eine ganze Reihe wie z. B.<br />

auch Michael Köhlmeier, überhaupt eine Stimme,<br />

die auf einen Mangel hinweist. Der Mangel ist, dass<br />

die anderen Eliten, Politiker oder auch Wissenschaftler,<br />

nicht genügend klar sagen, was international<br />

Mindestmaß der Zivilisation ist. Das ist z. B. in<br />

Deutschland anders. Dort gibt es keinen Markt dafür,<br />

jetzt ist er allerdings wieder im Wachsen, weil es<br />

neue rechte Entwicklungen gibt. In Israel ist die Sache<br />

ganz klar, dort haben Autoren eine Aufgabe, die<br />

im jüdischen Kontext auch an die biblischen Propheten<br />

denken lässt, es sind klare Stimmen.<br />

Aber alle israelischen Autoren, mit denen ich Gespräche<br />

geführt habe – von Amos Oz bis Nir Baram<br />

– haben gesagt, unsere politische Meinung äußern<br />

wir als Kolumnisten in israelischen Medien, aber<br />

unsere Literatur halten wir frei davon.<br />

Ja, aber das glaube ich nicht ganz. Denn ganz so<br />

wertneutral kann einer einen Roman nicht schreiben,<br />

damit er dann noch was wert ist.<br />

Wo liegt bei dir im Schreiben die Pflicht und wo<br />

die Kür?<br />

❙ Näher bin ich mir beim Schreiben eines Romans.<br />

Das Problem ist aber, dass sich das Dringliche<br />

oft vor das Wichtige schiebt, das halte ich<br />

für ein Grundproblem unserer Zeit. Ich glaube,<br />

dass mir zunehmend das mir Wichtige wichtiger<br />

wird und mir das Dringliche immer mehr auf die<br />

DORON RABINOVICI,<br />

geboren 1961 in Tel Aviv,<br />

übersiedelte mit seiner<br />

Familie 1964 nach Wien,<br />

wo er seither als Historiker,<br />

Schriftsteller und Publizist<br />

lebt. Zu seinem umfangreichen<br />

Werk zählen Romane<br />

wie zuletzt Die Außerirdischen,<br />

Kurzgeschichten<br />

und Essays. Gemeinsam<br />

mit Natan Sznaider schrieb<br />

er Herzl Relo@ded. Kein<br />

Märchen. Sein Band I wie<br />

Rabinovici. Zu Sprachen<br />

finden erschien jüngst bei<br />

Sonderzahl. Rabinovici ist<br />

mit zahlreichen Preisen, u. a.<br />

mit dem Toleranzpreis des<br />

Österreichischen Buchhandels,ausgezeichnetworden.<br />

Nerven geht. Aber es gibt leider äußere Pflichten,<br />

wenn man z. B. einen Artikel zu einem bestimmten<br />

Thema von mir verlangt. Oft ist man aber dann<br />

nicht zufrieden, wenn ich genau das mache, wofür<br />

ich eigentlich bekannt bin. Ich sage dann Dinge,<br />

die zu schrill klingen. Wie soll man z. B. über Antisemitismus<br />

nicht schrill sprechen, wenn die Freiheitlichen<br />

gerade in der Regierung sind – oder auch<br />

wenn die Freiheitlichen gerade nicht in der Regierung<br />

sind. Ich kann aber die Reaktionen nicht immer<br />

voraussagen. Ich habe z. B. im steirischen Landtag<br />

eine ziemlich harte Rede gehalten, aber sie wurde<br />

gegen meine Erwartung gut aufgenommen.<br />

Fühlst du als Mitglied der Gemeinde, der du angehörst,<br />

eine bestimmte Verantwortung?<br />

❙ Die spüre ich schon, aber sie hindert mich nicht,<br />

gewisse Dinge zu äußern. Wir sind eine kleine Gemeinde<br />

und sollten von uns auch nicht zu viel erwarten.<br />

Wir sind aber gleichzeitig eine gewisse Autorität<br />

für dieses Land, weil wir nicht nur für uns sprechen,<br />

sondern schon auch ein Vermächtnis haben. Wir haben<br />

das bisher gar nicht so schlecht gemacht. Mehr<br />

als die offizielle Politik hat zum Beispiel die Gemeinde<br />

verstanden, dass mit den Freiheitlichen kein<br />

Staat zu machen ist und man ihrem Wandel nicht<br />

trauen kann.<br />

Dein jüngster Band I wie Rabinovici zeigt besonders<br />

berührend, wie sehr dein Leben als Sohn, als Angehöriger<br />

der Zweiten Generation, dein Dasein und<br />

deinen Lebensweg bestimmt hat. Das Verständnis<br />

für die Eltern nimmt offenbar zu, je älter man wird.<br />

❙ Ja, man muss aber nicht alles, was sie gemacht haben,<br />

wiederholen. Für meine Eltern waren wir das<br />

Wichtigste. Meine Eltern haben uns mit ihrer Liebe<br />

aber auch zum Teil überfordert. Alles, was wir gesagt<br />

haben, wurde einerseits hochgehalten, andererseits<br />

wurden wir ins Theater, in die Oper, in Ausstellungen<br />

mitgeschleppt, wir sollten Sprachen lernen, aber<br />

nicht Rumänisch oder Polnisch. Und als ich einmal<br />

meiner Mutter sagte, ich würde gern ein Buch auf Jiddisch<br />

schreiben, sagte sie: Wer soll das lesen? Mir ist<br />

es wichtig, dass Kinder auch Kinder sein können. In<br />

einer Situation, in der es wichtig war, weiterzuleben,<br />

den Aufstieg zu schaffen, aufzubauen, ging das aber<br />

26 wına| Juli_August 2019


JÜDISCH-ORTHODOXER ATHEIST<br />

nicht. Als ich einmal die Idee hatte, Jus zu studieren,<br />

sagten sie, das wäre nicht gut, wir wüssten ja nicht,<br />

in welches Land es uns noch verschlagen würde. Sie<br />

waren glücklich, wenn man Arzt werden wollte. Da<br />

schwingt auch die Erfahrung mit, dass man als Arzt<br />

nicht so leicht nach links gewiesen wurde.<br />

Auch das Leben im Provisorium, das Zwischenden-Stühlen-Sitzen,<br />

war in dieser Generation prägend,<br />

wie hast du das verarbeitet?<br />

❙ Mein Vater hat hier gelebt, ist aber in Israel begraben,<br />

mein Bruder lebt in Israel, und ich war eigentlich<br />

der linke Zionist und bin hier geblieben. Was mir<br />

meine Eltern, ohne es zu wollen, mitgegeben haben,<br />

ist aber: Ich bin ein Mensch ohne Heimat. Aber Israel<br />

war und ist uns wichtig.<br />

Ich bin nicht der Meinung, dass wir hier sein sollen,<br />

dass es eine jüdische Gemeinde außerhalb Israels<br />

geben muss, aber ich finde, dass die, die da sind,<br />

geschützt werden sollen.<br />

Es ist eine Tatsache, dass die jüdische Existenz auf<br />

unserem Erdball prekär ist. Sie ist aber in Europa<br />

nicht unsicherer als anderswo. Die Idee, man muss<br />

von hier fliehen, halte ich für übertrieben. Die Diaspora<br />

wird aber umso stärker, weil wir wissen, dass es<br />

Israel gibt.<br />

Israel ist kein Land mehr, das so anders ist. Es gibt<br />

in Israel Minderheiten, eine Globalisierung, migrantische<br />

Arbeiter, und insofern ist es auch nicht<br />

verwunderlich, dass Israelis nach Berlin gehen. Weniger<br />

normal ist, dass Berlin ein Thema ist und London<br />

und Paris weniger, das verweist auf einen anderen<br />

Teil der Geschichte.<br />

Die letzten Zeugen dieser Geschichte, denen du ja<br />

im Burgtheater ein Forum gewidmet hast, verstummen.<br />

Bleibt die Erinnerung an die Vergangenheit<br />

eine lebenslange Aufgabe?<br />

❙ Es gibt kein Leben jenseits der Erinnerung. Die<br />

Frage ist, was wir erinnern und was wir vergessen.<br />

Wir, so sagen die Überlebenden, haben eine Geschichte,<br />

die in diesem Land Jahrzehnte lang vergessen<br />

und verdrängt wurde. Stattdessen wurde die<br />

Erinnerung der Stalin-Kämpfer und Landser gepflegt<br />

und der Mythos vom ersten Opfer. Diese unsere<br />

Erinnerung, die ein Störfaktor war, wieder in das<br />

Doron<br />

Rabinovici:<br />

I wie Rabinovici:<br />

Zu Sprachen<br />

finden.<br />

Sonderzahl<br />

Verlag,<br />

128 S., € 16<br />

Doron<br />

Rabinovici,<br />

Natan<br />

Sznaider:<br />

Herzl Relo@<br />

ded. Kein<br />

Märchen.<br />

Suhrkamp<br />

Verlag, 207 S.,<br />

€ 19,95<br />

„Esgibtdurchaus<br />

Dinge,<br />

die ich halte,<br />

Feste, die ich<br />

feiere, Lieder,<br />

die ich singe,<br />

aber nicht<br />

alsGläubiger,<br />

sondern als<br />

Teil einer Ehe,<br />

einer Familie<br />

und einer<br />

Gemeinde.“<br />

Zentrum zu rücken, war daher wichtig, und diese<br />

Erinnerung bleibt relevant, solange Menschen sagen,<br />

jetzt muss einmal Schluss sein. Es ist schwer,<br />

in Österreich jenseits der jüdischen Geschichte leben<br />

zu wollen, denn man wird hier immer wieder<br />

darauf zurückgeworfen.<br />

Rabbiner Paul Chaim Eisenberg hat einmal gesagt,<br />

Doron ist koscher genug. Wie hältst du es mit der<br />

Religion?<br />

❙ Die Existenz der Religiösen hat für mich als jüdisch-orthodoxen<br />

Atheisten eine besondere Notwendigkeit,<br />

nämlich, mich zurückzuweisen auf<br />

meine Toleranz, zu akzeptieren, dass ein anderer<br />

glaubt, auch wenn man das nicht nachvollziehen<br />

kann. Andererseits fordere ich Toleranz und<br />

Respekt vor der Säkularität. Der Staat muss getrennt<br />

sein von der Religion. Das ist besser für den<br />

Staat, aber auch besser für die Religion. Gleichzeitig<br />

verteidige ich die Religiösen sehr wohl, wenn<br />

es um Anwürfe von außen geht. Ich habe einmal<br />

für das Jüdische Museum einen Text mit dem Titel<br />

Wem koscher Blunzn ist geschrieben. Denn anders<br />

als in anderen Religionen kann man Jude sein,<br />

ohne an Gott zu glauben, aber der grundlegende<br />

Glaube, dass man ein Volk ist, bleibt. Damit ist erklärt,<br />

dass es immer schon ein säkulares Judentum<br />

geben konnte und seit der Aufklärung auch gibt.<br />

Es ist ein wichtiger Teil unserer Kultur. Man kann<br />

sagen, ja, ein Teil der Orthodoxie hat unsere Tradition<br />

weitergetragen, aber wichtig waren immer<br />

auch die Reformer. Sowohl das Festhalten wie auch<br />

das Anpassen haben den Fortbestand des Judentums<br />

ermöglicht.<br />

Und wie sieht dein persönliches Verhältnis zur Tradition<br />

aus?<br />

❙ Es gibt durchaus Dinge, die ich halte, Feste, die ich<br />

feiere, Lieder, die ich singe, aber nicht als Gläubiger,<br />

sondern als Teil einer Ehe, einer Familie und einer<br />

Gemeinde. Es gibt die Zeit, in der man als Kind in<br />

der Synagoge herumrennt, die Zeit, in der man als<br />

Jugendlicher davorsteht, dann gibt’s die Zeit, in der<br />

man hineingeht und vielleicht sogar mitliest, und<br />

die Zeit, in der man mit den Kindern hingeht, und<br />

das hat mit dieser Gemeinschaft zu tun.<br />

wına-magazin.at<br />

27


NARRATIVE LEBENSGESCHICHTEN<br />

Brigitte Ungar-<br />

Klein: „Es ist der<br />

Wunsch, auch wenn<br />

die Vorzeichen sehr<br />

negativ sind, dass wir<br />

doch in eine positive<br />

Zeit gehen.“<br />

28 wına| Juli_August 2019


INTERVIEW MIT BRIGITTE UNGAR-KLEIN<br />

Als U-Boot<br />

ÜBERLEBT<br />

Die Wiener Historikerin Brigitte Ungar-Klein legt nun<br />

mit Schattenexistenz ihre langjährige Forschung zum Überleben<br />

als U-Boot in der NS-Zeit in Buchform vor. Insgesamt haben an<br />

die 1.000 Jüdinnen und Juden im Verborgenen in Wien überlebt,<br />

sagte Ungar-Klein im Interview mit WINA.<br />

WINA: Was war Ihre Motivation, sich mit dem Thema<br />

auseinanderzusetzen?<br />

Brigitte Ungar-Klein: Es waren mehrere Zufälle. Der<br />

erste Zufall war, dass ich von Bekannten gehört habe,<br />

dass sie während des Krieges in einem Keller versteckt<br />

gelebt haben und dass sich ihre Lebenssituation danach<br />

sehr verändert hat, dass aus einem lebenslustigen<br />

Mann ein eher depressiver Mensch geworden ist,<br />

wo man nach 45 gemerkt hat, da war eine Zäsur und<br />

er konnte an das vorherige Leben nicht wirklich anschließen.<br />

Wann haben Sie davon erfahren?<br />

❙ Das war Anfang der 1980er-Jahre. Etwas später, als<br />

ich mit meinem Studium bereits fertig war, aber weiterforschen<br />

wollte, hat mich Erika Weinzierl gefragt,<br />

ob ich mich mit U-Booten beschäftigen will. Ich habe<br />

eigentlich sofort zugesagt, ohne dass ich mir vorstellen<br />

konnte, erstens wie lange ich brauchen werde – wobei<br />

natürlich ein ganzes Berufsleben zwischen dem Anfang<br />

und jetzt dem Buch steht. Aber ich wusste auch<br />

überhaupt nicht, wo ich Informationen herbekommen<br />

könnte. Und es war auch nicht so, dass ich mir<br />

einfach Literatur hernehmen konnte, das hat es zum<br />

damaligen Zeitpunkt nicht gegeben. Was es gegeben<br />

hat, war das Buch von Erika Weinzierl Zu wenig Gerechte<br />

und, als Einstieg in diese Forschung, Briefe, die<br />

sie bekommen hat, nachdem sie einen Aufruf in Zeitungen<br />

gemacht hat, wer hat Juden geholfen? So bin<br />

ich zu den ersten Namen gekommen.<br />

Sie haben in der Folge mehrere Jahrzehnte an diesem<br />

Thema gearbeitet. Wie sah zu Beginn die Quellenlage<br />

aus, und haben sich über die Jahrzehnte<br />

auch neue Quellen aufgetan?<br />

❙ Quellen hat es nur sehr beschränkt gegeben. Eben<br />

diese Briefe. Dann die bekannte Familie, die ich dazu<br />

Interview: Alexia Weiss<br />

Fotos: Daniel Shaked<br />

„Einige wenige<br />

haben das<br />

dann überlebt,<br />

abereinGroßteil<br />

dieser<br />

Aufgegriffenen<br />

ist genauso<br />

deportiert und<br />

ermordet<br />

worden.“<br />

befragt habe. Von einer Freundin der Familie habe<br />

ich erfahren, dass die Mutter bei der Schwester überlebt<br />

hat, diese hat in einer „privilegierten Mischehe“<br />

in der Naglergasse gewohnt. Dann habe ich selbst in<br />

der jüdischen Gemeindezeitung ein Inserat geschalten,<br />

und da haben sich einige Personen gemeldet, teilweise<br />

auch Personen, die selbst nicht betroffen waren,<br />

aber über U-Boot-Geschichten Bescheid wussten. Da<br />

hat sich zum Beispiel auch die Zion-Schwester Hedwig<br />

gemeldet, eine Tochter des Ehepaars Wahle, das<br />

versteckt in Wien gelebt hat. Sie hat mir über ihre Eltern<br />

ein Interview gegeben.<br />

Und so, step by step und zunächst einmal über oral history,<br />

also über narrative Lebensgeschichten, bin ich zu<br />

der Thematik gekommen. Dann haben mir meine Gesprächspartner<br />

auch erzählt, sie hätten sich bei Stellen<br />

gemeldet, es hat einen U-Boot-Verband gegeben,<br />

der hat Ausweise ausgestellt. Dem bin ich nachgegangen.<br />

So bin ich zur Information gekommen, dass<br />

es die „Zentralregistrierstelle für die Opfer des Naziterrors“<br />

gegeben hat, wo man sich melden und angeben<br />

konnte, aus welchem Grund man verfolgt wurde,<br />

und da hat es eben auch schon ein Feld „U-Boot“ gegeben,<br />

das man ankreuzen konnte. Diese Karteikarten<br />

befinden sich im Wiener Stadt- und Landesarchiv.<br />

Wie schwer ist/war es, hier auf nachvollziehbare Zahlen<br />

von Menschen, die als U-Boot in Wien gelebt oder<br />

überlebt haben, zu kommen?<br />

❙ Letztgültig ist bei diesen historischen Forschungen<br />

eigentlich gar nichts. Es kann sich immer wieder irgendetwas<br />

ergeben. Vorausschicken möchte ich, dass<br />

die Definition, welche Personengruppe ich in meinem<br />

Buch behandle, eine ganz spezielle ist. U-Boot heißt<br />

für mich nicht ausschließlich versteckt sein, es geht<br />

mir um das Leben im Verborgenen, darum habe ich<br />

das Buch ja auch Schattenexistenz genannt. Es waren<br />

wına-magazin.at<br />

29


LEBEN IM VERBORGENEN<br />

Existenzen, die sich dahinter, im Schatten abgespielt<br />

haben. Es hat Personen gegeben, die sich eine illegale<br />

Identität verschafft haben. Es hat Personen gegeben,<br />

die versucht haben, ihre Einordnung im Rahmen der<br />

Nürnberger Rassegesetze zu verändern, also von einem<br />

„Volljuden“ zu einem „Mischling 1. Grades“ zu<br />

werden. Es hat Familien gegeben, wo die Frauen dann<br />

angeführt haben, dass der Vater gar nicht der Vater war,<br />

einfach um für die Kinder eine bessere Einordnung<br />

zu bekommen. Ich habe jüdische U-Boote in meiner<br />

Kartei aufgenommen beziehungsweise dann in<br />

den Statistiken behandelt, die hauptsächlich in Wien<br />

im Verborgenen gelebt haben, unabhängig von der<br />

Staatsbürgerschaft. Ein prominenter Fall zum Beispiel<br />

waren Dorothea Neff und Lilli Wolff, sie waren<br />

beide deutsche Staatsbürgerinnen.<br />

Wie viele Menschen haben Sie gefunden, die in Wien<br />

als U-Boot gelebt haben, und wie viele Menschen haben<br />

das Kriegsende auch erlebt?<br />

❙ Ich habe etwa 1.500 Personen, die in die Kategorie<br />

fallen, die ich behandelt habe, gefunden. Bei ungefähr<br />

einem Drittel ist es beim Versuch geblieben.<br />

Sie wurden aus den verschiedensten Gründen aufgegriffen,<br />

festgenommen und kamen dann eben in die<br />

Mühlen der NS-Behörden. Einige wenige haben das<br />

dann überlebt, aber ein Großteil dieser Aufgegriffenen<br />

ist genauso deportiert und ermordet worden wie<br />

viele andere auch.<br />

Das heißt, ungefähr 1.000 Menschen haben als U-<br />

Boot oder mit einer falschen Identität in Wien überlebt.<br />

❙ Ja. Es gibt unter diesen 1.000 Menschen, die überlebt<br />

haben, noch eine Gruppe von Personen, hauptsächlich<br />

Männer und hauptsächlich Personen, die entweder<br />

als „Geltungsjuden“ oder als „Mischlinge“ eingeordnet<br />

waren, die ab Herbst 1944 versucht haben, von<br />

der Bildfläche zu verschwinden. Das ging damit zusammen,<br />

dass ab diesem Zeitpunkt vor allem jüngere<br />

Männer rekrutiert wurden zum Schanzen Graben –<br />

im Burgenland zum Beispiel, in der Steiermark. Mein<br />

Vater war zum Beispiel beim so genannten Schanzenbau<br />

und war dann ein paar Monate dort zwangsverpflichtet.<br />

Der frühere Präsident der Kultusgemeinde,<br />

Paul Grosz, sollte sich auch melden und ist damals<br />

mit seinem Vater in die Castellezgasse zu dieser Meldestelle<br />

gegangen. Er hat aber dann mit seinem Vater<br />

einen Weg gefunden, wegzugehen von dort, und war<br />

dann von dem Zeitpunkt an versteckt.<br />

Sie haben Ihren Vater erwähnt – hat er auch in Wien<br />

überlebt?<br />

❙ Mein Vater hat hier überlebt, aber eben nicht als U-<br />

Boot, er war so genannter „Mischling 1. Grades“, er<br />

war eine Zeit lang als Totengräber am Zentralfriedhof,<br />

dann war er als Kürschner zwangsverpflichtet und<br />

30 wına| Juli_August 2019<br />

BUCHTIPP<br />

Brigitte Ungar-Klein:<br />

Schattenexistenz.<br />

Jüdische U-Boote in Wien<br />

1938−1945.<br />

Picus Verlag 2019,<br />

367 Seiten, € 28<br />

„Die Betroffenen<br />

haben<br />

wirklichJahre<br />

lang um Anerkennung<br />

ringen müssen,<br />

wie überhaupt<br />

Juden als Opfer<br />

spät anerkannt<br />

wurden.“<br />

dann ein paar Monate beim so genannten Schanzen<br />

eingeteilt.<br />

Ihr Vater war also bedroht, konnte aber offiziell hier<br />

überleben.<br />

❙ So ist es, er war offiziell gemeldet. Es haben ja zwischen<br />

5.000 und 5.500 Juden hier das Kriegsende<br />

erlebt, das waren zum Großteil Personen, die in<br />

„Mischehen“ gelebt haben, die eben einen Status als<br />

„Geltungsjuden“ gehabt haben, Arik Brauer war zum<br />

Beispiel ein so genannter „Geltungsjude“.<br />

Wer fiel denn in die Kategorie „Mischling“, wer in die<br />

Kategorie „Geltungsjude“?<br />

❙ „Mischling 1. Grades“ war jemand, der einen jüdischen<br />

und einen nicht-jüdischen Elternteil hatte und<br />

nicht in der Kultusgemeinde eingeschrieben war, das<br />

heißt, kein Glaubensjude war, und zwar zum Zeitpunkt<br />

des Inkrafttretens der Nürnberger Rassegesetze<br />

1935, was natürlich für die österreichische jüdische<br />

Bevölkerung sehr prekär war, denn wie sollten die<br />

1935 schon wissen, was auf sie zukommt. Bei meinen<br />

Großeltern und bei meinem Vater war der Fall so gelagert,<br />

dass sie – ich nehme an, aus politischen Gründen<br />

– etwa 1927 aus der Kultusgemeinde ausgetreten<br />

sind, und daher war mein Vater so genannter „Mischling<br />

1. Grades“. „Geltungsjuden“ sind hingegen in der<br />

Kultusgemeinde eingeschrieben gewesen.<br />

Menschen überlebten Jahre ohne medizinische Versorgung,<br />

ohne regelmäßiges Essen, in Angst, teilweise<br />

ohne fixes Dach über dem Kopf, ohne Heizung,<br />

ohne Sanitäranlagen. Doch nach dem Krieg wurde<br />

ihnen abgesprochen, Opfer zu sein. Wie lange hat es<br />

gedauert, bis auch die U-Boote als Opfer, die es zu<br />

entschädigen gilt, anerkannt wurden?<br />

❙ Erst mit der 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes<br />

wurden U-Boote 1961 finanziell entschädigt. Der<br />

behördliche Terminus ist Leben im Verborgenen.<br />

Dieses musste in menschenunwürdigen Bedingungen<br />

vonstattengegangen sein. Die Betroffenen haben<br />

wirklich Jahre lang um Anerkennung ringen müssen,<br />

wie überhaupt Juden als Opfer spät anerkannt wurden.<br />

Das Opferfürsorgegesetz hat es ja schon relativ<br />

bald nach Kriegsende gegeben, und Juden waren<br />

gar nicht berücksichtigt, weil es darum gegangen ist,<br />

dass man für ein freies, demokratisches, unabhängiges<br />

Österreich gekämpft haben musste. Auch eine der<br />

bekanntesten Helferinnen, Dr. Ella Lingens, musste<br />

über viele Jahre kämpfen, um eine Entschädigung für<br />

ihren Aufenthalt in Auschwitz und in anderen Lagern<br />

zu bekommen.<br />

1961 kam es also zu dieser Novellierung. Wurden<br />

dann alle U-Boote entschädigt?<br />

❙ Wenn man für die Opferfürsorge eingereicht hat,<br />

musste man eine Art Erlebnisbericht verfassen, man


ALS OPFER SPÄT ANERKANNT<br />

musste Zeugen beibringen, je mehr Zeugen umso besser.<br />

Wenn man sich nach 1945 schon bei diversen Opferverbänden<br />

gemeldet und dort einen Fragebogen<br />

ausgefüllt hatte, war das schon mal gut. Dann war dokumentiert,<br />

dass man im Verborgenen als U-Boot gelebt<br />

hatte, aber es musste dann auch von Zeugen bestätigt<br />

werden. Schwierig hatten es Personen, die von<br />

„arischen“ Familienmitgliedern betreut worden waren,<br />

und auch Personen, die beim späteren Lebensgefährten,<br />

späteren Ehegatten, bei der späteren Ehegattin<br />

versteckt waren.<br />

Wurde das nicht als Leben im Verborgenen anerkannt?<br />

❙ Es wurde nicht als menschenunwürdig anerkannt,<br />

weil bei der Familie zu leben oder beim späteren Lebenspartner<br />

kann doch nicht menschenunwürdig sein.<br />

Mit welchen physischen, aber auch psychischen Folgen<br />

hatten Menschen, die als U-Boot überlebt haben,<br />

zu kämpfen? Und zu welchen Brüchen in Lebensgeschichten<br />

führte das Leben im Verborgenen?<br />

❙ Ich glaube, dass es bei allen Menschen, die unter<br />

Verfolgung leiden mussten, Brüche gegeben hat. Die<br />

Familien wurden auseinandergerissen, Familienmitglieder<br />

ermordet, da kann man nicht zur Normalität<br />

übergehen. Ich habe in meinen Gesprächen gehört,<br />

dass man nicht imstande ist, in einem Lift zu fahren,<br />

in einem engen Raum zu sein. Elfriede Gerstl hat zum<br />

Beispiel Kleidungsstücke gesammelt, und das war sicher<br />

eine Kompensation dafür, dass sie als Kind keine<br />

oder nur sehr begrenzt Kleidungsstücke hatte. Die wenigsten<br />

konnten wieder in ihre Berufe einsteigen. Es<br />

hat zum Beispiel eine Opernsängerin versteckt gelebt,<br />

sie musste flüstern und hat dadurch ihre Singstimme<br />

verloren. Ich habe bereits das Ehepaar Wahle<br />

erwähnt: In diesem Fall konnten dann beide wieder<br />

in ihren Berufen arbeiten, er war später auch Präsident<br />

des Obersten Gerichtshofs. Aber das waren Ausnahmen.<br />

Es hing sicherlich vom Alter ab, ob es junge<br />

Erwachsene waren, die erst vor oder in einer Ausbildung<br />

waren, oder ältere Menschen, die dann einfach<br />

nicht mehr anschließen konnten.<br />

Auch Helferinnen und Helfer waren von Repressionen<br />

bis hin zu KZ-Internierung und Tod betroffen.<br />

Wie mutig müssen Menschen sein, um dennoch für<br />

andere einzustehen?<br />

❙ In meinen Gesprächen habe ich wenig von Mut<br />

gehört. Ich habe mehr davon gehört, dass es einfach<br />

selbstverständlich war zu helfen, dass man ein Gegner<br />

des Regimes war. Das Ehepaar Lingens war eindeutig<br />

gegen das NS-Regime eingestellt und hat in<br />

ihrem Kreis durchaus auch diskutiert, was man tun<br />

kann. Die wenigsten haben über Konsequenzen nachgedacht,<br />

es war vermutlich auch gar nicht die Zeit,<br />

über Konsequenzen nachzudenken. Erst wenn es so<br />

weit war, man diese Entscheidung getroffen hat, kam<br />

einem vielleicht das Bewusstsein.<br />

Hat das auch damit zu tun, dass die Konsequenzen<br />

nicht klar waren? Es war ja auch vielen Juden nicht<br />

klar, was sie nach einer Deportation erwartet, was<br />

ein KZ ist.<br />

❙ Vor allem diese Endgültigkeit der Konzentrationslager.<br />

Das war sicherlich nicht so bekannt, obwohl es<br />

selbstverständlich Verordnungen gegeben hat, das hat<br />

schon jeder gewusst: Man darf nicht mit Juden verkehren,<br />

und es ist auch verboten, Juden zu beherbergen.<br />

Das waren ganz dezidierte Gesetzmäßigkeiten.<br />

Hat man gedacht, wenn man erwischt wird, kommt<br />

man in ein herkömmliches Gefängnis – oder was hat<br />

man gedacht, was dann passiert?<br />

❙ Ich glaube, man hat in der Sekunde nicht gedacht.<br />

Und wie man dann schon in der Situation war, war<br />

es zu spät.<br />

Wie geht es einem, wenn man selbst Jüdin ist, wenn<br />

man hier mit Familiengeschichten von Freunden und<br />

Bekannten konfrontiert ist? Wie erschwert diese<br />

emotionale Betroffenheit die Arbeit an einem solchen<br />

Forschungsprojekt? Oder schafft sie einen<br />

leichteren Zugang?<br />

❙ Dadurch, dass ich als Historikerin seit Jahrzehnten<br />

im Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />

Widerstandes bei Projekten tätig bin, die sich hauptsächlich<br />

mit dieser Thematik beschäftigen, ist es wohl<br />

beides. Einerseits hat man einen, ich will nicht sagen:<br />

Schutzmantel – den hat man nicht. Aber man<br />

nimmt die Akten, wie sie sind, schreibt den Namen<br />

auf, schreibt das Geburtsdatum auf, schreibt die Zeugen<br />

auf, schreibt vielleicht, „hat in einem Grab, hat in<br />

einer Gruft überlebt“. Das nimmt man so zur Kenntnis.<br />

Bei den Gesprächen ist das wieder ein bisschen<br />

anders. Wenn ich einen Gesprächspartner habe, der<br />

plötzlich zu weinen beginnt, dann tue ich mir bis heute<br />

schwer damit. Das rührt einen, da kann man nicht sagen,<br />

ich bin Historikerin, ich arbeite.<br />

Sie haben mehrere Enkel, denen Sie auch das Buch<br />

gewidmet haben – welche Botschaft möchten Sie<br />

Ihnen als Fazit aus Ihrer Forschung mit auf den Weg<br />

geben?<br />

❙ Es war mir wichtig, das Buch einerseits meinen Enkelkindern<br />

zu widmen, andererseits den Personen,<br />

die geholfen haben. Warum habe ich das für meine<br />

Enkelkinder gemacht? Man weiß nie, was kommt.<br />

Man muss hellhörig sein. Man muss aufpassen. Man<br />

soll und darf sich auch nicht verkriechen. Man muss<br />

selbstbewusst durch das Leben gehen und nach Möglichkeit<br />

auch die Identität nicht verleugnen. Es ist der<br />

Wunsch, auch wenn die Vorzeichen sehr negativ sind,<br />

dass wir doch in eine positive Zeit gehen.<br />

BRIGITTE<br />

UNGAR-KLEIN,<br />

1953 in Wien geboren,<br />

LehramtsstudiumanderUniversität<br />

Wien (Deutsch und<br />

Geschichte), anschließend<br />

Unterricht an einer Wiener<br />

AHS. Daneben historische<br />

Projekte am Dokumentationsarchiv<br />

des österreichischen<br />

Widerstandes (DÖW),<br />

schließlich von 1996 bis<br />

2013 Leiterin des Jüdischen<br />

Instituts für Erwachsenenbildung<br />

(JIFE) der Wiener<br />

Volkshochschulen. Co-<br />

Autorin des Buches KündigungsgrundNichtariersowie<br />

Herausgeberin des Bandes<br />

Jüdische Gemeinden in<br />

Europa. Eben erschien ihre<br />

Studie Schattenexistenz.<br />

Ungar-Klein ist verheiratet,<br />

Mutter zweier erwachsener<br />

Söhne sowie sechsfache<br />

Großmutter.SielebtinWien.<br />

wına-magazin.at<br />

31


PERSÖNLICHES FILMDOKUMENT<br />

Ronny Böhmer auf<br />

der Spur seines Vaters,<br />

dem KZ-Häftling<br />

Robert Böhmer.<br />

Was alles noch<br />

EIN GLÜCK WAR ...<br />

Wie er Dem Buchewald-Häftling Robert<br />

Böhmer auf der Spur war und daraus<br />

ein Film wurde, erzählt dessen Sohn<br />

Ronaldo, den seine Freunde<br />

„Ronny“ nennen.<br />

Von Anita Pollak<br />

E<br />

s ist eine Geschichte, wie<br />

sie viele der Nachgeborenen<br />

kennen. Solange die<br />

Eltern lebten, hat man sie<br />

nicht gefragt; wenn sie etwas<br />

erzählten, hat man nicht wirklich zugehört;<br />

und wenn man ehrlich ist, hat es<br />

einen damals, als man jung war, eigentlich<br />

auch nicht so brennend interessiert,<br />

das gibt Ronny Böhmer heute gerne zu.<br />

Doch ein zerknittertes Stück Papier,<br />

das wusste er, das trug sein Vater immer<br />

mit sich: aus Wien über die Stationen<br />

seiner Emigration bis nach Argentinien<br />

und dann schließlich wieder zurück<br />

nach Wien, in seine Geburtsstadt. Es war<br />

der Entlassungsschein des „Schutzhäftlings“<br />

Robert Böhmer aus dem KZ Buchenwald.<br />

Und als Ronny vor einigen Jahren mit<br />

seiner Familie eine Reise nach Leipzig<br />

und Weimar plante, wollte er gleichsam<br />

am Weg das nahe liegende Buchenwald<br />

bzw. die heutige KZ-Gedenkstätte aufsuchen.<br />

Eine Kopie des Entlassungsscheins<br />

hatte er vorab schon hin gesandt.<br />

Was sich daraus ergab, vor Ort und aus<br />

seinen nachfolgenden Recherchen, das<br />

berichtet Ronny in einem etwa halbstündigen<br />

Film, den seine Tochter Lia aufgenommen<br />

hat. Zweimal hat er ihn bereits<br />

vor größerem Publikum präsentiert und<br />

ist damit auf großes Interesse gestoßen.<br />

Nachdem er auf YouTube gestellt wurde,<br />

hat ihn sogar das Filmarchiv Austria in<br />

sein Archiv aufgenommen.<br />

„Aktionsjude“. Wie in allen Überlebensgeschichten<br />

aus der NS-Zeit hat<br />

auch in dieser das so genannte Glück<br />

eine schicksalshafte Rolle gespielt, und<br />

32 wına| Juli_August 2019


AKTIONSJUDE<br />

Sammelkuvert. Darin befanden<br />

sich die Dokumente<br />

Robert Böhmers, die ihm im<br />

KZ ausgestellt wurden.<br />

Robert Böhmer. Geboren 1912 in<br />

Wien, wuchs er jüdisch, großbürgerlich<br />

und kaisertreu auf. Ab April<br />

1939 überlebte er mehrere KZs.<br />

Screenshots aus dem Film: © Ronny Böhmer<br />

dass es damals schon ein<br />

Glück sein konnte, verhaftet<br />

und nach Dachau geschickt<br />

zu werden, ergibt<br />

sich heute aus der historischen<br />

Rückschau.<br />

Nach dem „Anschluss“<br />

versprach der ehrgeizige<br />

Gauleiter Odilo Globocnik<br />

dem „Führer“, Wien<br />

binnen kürzester Zeit „judenrein“ zu machen.<br />

In einer der Abschreckung dienenden<br />

„Aktion“ wurden etwa 6.000 Juden<br />

nach Dachau transportiert, in der Hoffnung,<br />

die anderen Juden Wiens würden<br />

dann schnellstens freiwillig ausreisen.<br />

Robert Böhmer wurde als einer dieser so<br />

genannten „Aktionsjuden“ erst nach Dachau<br />

und einige Monate später von dort<br />

nach Buchenwald deportiert, wo er gemeinsam<br />

mit anderen „Aktionsjuden“ im<br />

April 1939 entlassen wurde. Ausgefolgt<br />

wurde ihm dabei seine gesamte spärliche<br />

Habe, penibel aufgelistet auf der „Effektenkarte“,<br />

auf der unter anderem „2 Binder“,<br />

also Krawatten verzeichnet waren.<br />

Bei der Einlieferung<br />

war es kurioserweise<br />

nur einer gewesen.<br />

„Aber was macht ein<br />

Häftling im KZ überhaupt<br />

mit Krawatten?“<br />

Das ist nur eine der<br />

Fragen, die sich Ronny<br />

heute stellt. Auch die<br />

„Schreibstubenkarte“<br />

und eine Art Kontoblatt, das Einnahmen<br />

und Ausgaben vermerkte – „mein<br />

Vater war in Relation zu anderen Häftlingen<br />

ein reicher Mann“ – gehört zu<br />

den erstaunlichen Dokumenten, die sich<br />

beim „International Tracing Service“ im<br />

deutschen Bad Arolsen fanden. Allesamt<br />

Zeugen der bürokratisch höchst präzisen<br />

Verwaltung des mörderischen Systems.<br />

Robert Böhmer ist zwar nicht unbeschadet,<br />

aber doch noch einmal davongekommen.<br />

„In Wien wäre er sicherlich<br />

erst in eine Sammelwohnung und später<br />

vielleicht nach Auschwitz gekommen“,<br />

ist der Sohn heute überzeugt. Nach seiner<br />

Entlassung ging der Vater in Wien<br />

„Wasmachtein<br />

Häftling im KZ<br />

mitKrawatten?“<br />

Ronny Böhmer<br />

zunächst zur „Fuß- und Handpflege“ und<br />

danach zur Auswanderungsstelle, wo ihn<br />

ein Beamter mit den Worten „Nehmen<br />

Sie Platz, Herr Böhmer“ empfing. Es war<br />

Adolf Eichmann. Nach dem KZ habe er<br />

diese höflichen Worte „wie ein neues Leben“<br />

empfunden, an diese verblüffende<br />

Erzählung des Vaters kann sich Ronny<br />

gut erinnern.<br />

Das neue Leben sollte dann doch<br />

noch etwas auf sich warten lassen, aber<br />

schließlich ist Robert Böhmer in Buenos<br />

Aires vom Schiff gestiegen und dort geblieben.<br />

Er hat eine Berliner Jüdin, Ronnys<br />

Mutter, geheiratet und zwei Söhne<br />

bekommen. 1954 wollte er mit der Familie<br />

dann „für zwei Jahre“ nach Wien<br />

zurück, um seiner Mutter beim Schuhgroßhandel,<br />

den sie restituiert bekamen,<br />

zu helfen. „Meine Eltern sind noch immer<br />

da, allerdings auf dem Friedhof.“ Robert<br />

Böhmer war 1960 ein Mitbegründer<br />

der Bnai-Brith-Loge in Wien und<br />

im Vorstand der Hakoah, womit er in die<br />

Fußstapfen seines Vaters trat, der bereits<br />

vor dem Krieg Präsident der Hakoah-<br />

wına-magazin.at<br />

33


ERFOLGSPROJEKT PEACECAMP<br />

Sektion Ski & Touristik gewesen ist. „In der<br />

Hakoah-Hütte am Semmering erinnert eine<br />

Plakette noch immer an meinen Großvater<br />

Rudolf Böhmer, der den ersten Spatenstich<br />

zur Hütte gemacht hatte.“<br />

Wir sind ein nach ISO 9001 zertifiziertes Unternehmen<br />

im Bereich Gas-, Wasser- und Heizungsinstallationen<br />

und Solar. Vom Exklusivbad bis zum preiswerten<br />

Badezimmer – unser freundliches, kompetentes Team<br />

berät Sie gerne und unterbreitet Ihnen Vorschläge für Ihr<br />

neues Bad oder Ihre Heizungsanlage!<br />

Im Zuge unserer Arbeiten können wir Ihnen auch andere<br />

Professionistenarbeiten aus einer Hand anbieten.<br />

Für kleinere Reparaturen oder Gebrechen steht Ihnen ein<br />

20-köpfiges Team zur Verfügung, das rasch und kompetent<br />

arbeitet. Sollten Sie Interesse haben, würden wir uns<br />

über Ihren Anruf oder Ihre E-Mail freuen!<br />

Besuchen Sie uns auch auf unserer Homepage unter<br />

www.mueller-helmert.at und erfahren Sie mehr<br />

über unser Unternehmen!<br />

Müller & Helmert GesmbH & CO KG<br />

„Den Frieden haben wir leider nicht geschafft.“<br />

Evelyn Böhmer-Laufer und Ronny Böhmer<br />

organisieren heuer den 17. peacecamp in Lackenhof.<br />

Israel und retour. Ronny hat in Wien Welthandel<br />

studiert und seine Karriere bei der<br />

IBM gestartet. Nach mehreren beruflichen<br />

und privaten Stationen „lief ich wieder der<br />

Evelyn über den Weg“. Die beiden kannten<br />

einander seit Jugendtagen, waren wechselseitig<br />

bei ihren ersten Hochzeiten zu Gast gewesen<br />

– und beide frisch geschieden. Evelyn<br />

Laufer lebte gerade als Psychotherapeutin<br />

in Jerusalem, und so zog der Jugendfreund<br />

1988 zu ihr nach Israel. Der Entschluss fiel<br />

ihm leicht, denn „ich hatte gerade keinen Job,<br />

keine Wohnung und nicht einmal ein Auto“.<br />

1991 kam das Paar nach Wien zurück, und<br />

Ronny landete schließlich als „Mädchen für<br />

alles“ in der Immobilienkanzlei von Ariel<br />

Muzicant. Vor zehn Jahren ging er in Pension.<br />

Gewaltfrei und friedlich. Evelyn und Ronny<br />

verbindet man heute vor allem mit dem peacecamp,<br />

das arabische und jüdische Jugendliche<br />

jeden Sommer für einige Tage in Österreich zusammenbringt.<br />

„Es sollte ein einmaliges Ereignis sein, und<br />

jetzt machen wir mit 32 Jugendlichen in Lackenhof<br />

am Ötscher gerade das 17. peacecamp! Ursprünglich war<br />

es Evelyns Idee, jetzt ist<br />

es unser beider Projekt.<br />

Den Frieden haben wir<br />

leider nicht geschafft.“<br />

Gerne, sagt er, würde<br />

er den Film über seinen<br />

Vater wieder vor<br />

Publikum zeigen und<br />

hat auch bereits Kontakt<br />

mit Schulen aufgenommen.<br />

Routine ist es<br />

für ihn noch nicht, wie<br />

man nach der Filmpräsentation<br />

im Republikanischen<br />

Club erleben<br />

konnte. Da kämpfte<br />

Ronny ganz unerwartet<br />

und plötzlich mit den<br />

Tränen. Wie es zu diesem<br />

emotionalen Moment<br />

kam, kann er sich<br />

selbst nicht erklären. „Es<br />

war in dieser Art das<br />

erste Mal. Im Film bin<br />

ich eher sachlich, wie es<br />

ja auch die Dokumente<br />

sind, die der Auslöser für<br />

meine Recherchen waren.“<br />

<br />

peacecamp<br />

Ist ein psychotherapeutisch-pädagogischesModellzurFriedenserziehung.<br />

Es bringt seit 2004 jährlich<br />

Jugendliche und seit 2016 auch<br />

Schutzsuchende für zehn Tage<br />

zusammen und bietet ihnen Raum<br />

für eine Begegnung mit sich und<br />

anderen. peacecamp will jüdische<br />

und palästinensische Jugendliche<br />

aus Israel befähigen, für den<br />

scheinbar unlösbaren Konflikt der<br />

beiden Völker besseres Verständnis<br />

und gewaltfreie, auf Empathie<br />

basierendekreativeLösungsansätze<br />

zu entwickeln und sich als mündige<br />

BürgerInnen in ihrem Lebensraum<br />

einzubringen.<br />

Ein Team aus etwa 14 Erwachsenen<br />

– PädagogInnen, KunsttherapeutInnen,<br />

TraumatherapeutInnen,<br />

ein Gruppenanalytiker und ein<br />

Video-Filmemacher – begleitet die<br />

Jugendlichendurchdaspeacecamp.<br />

Insgesamt nahmen bisher etwa 700<br />

PersonenamModellpeacecampteil.<br />

2019.peacecamp.net<br />

Foto: © Markus Neubauer, 2015 / helden-von-heute.at:<br />

34 wına| Juli_August 2019


TAG DER OFFENEN<br />

TÜR DER IKG WIEN<br />

15. September 2019<br />

Seitenstettengasse 2,<br />

1010 Wien<br />

Verantwortung für die Gesellschaft<br />

DR. JOHANN<br />

STROBL (59)<br />

kommt aus dem burgenländischen<br />

Mattersburg<br />

und lebt dort<br />

bis heute. Nach seinem<br />

Wirtschaftswissenschaftsstudium<br />

an<br />

der WU arbeitete er<br />

bis 1989 als Assistent<br />

am Institut für Kreditwirtschaft.<br />

Dann wechselte<br />

er in die damalige<br />

Creditanstalt, die spätere<br />

Bank Austria (BA),<br />

in deren Vorstand der<br />

Risikoexperte 2004<br />

aufstieg. Bis 2007 war<br />

er dort für Risiko und<br />

Finanzen zuständig.<br />

2007 wechselte er in<br />

das Führungsgremium<br />

der Raiffeisen Zentralbank.<br />

2010 zog er in<br />

den Vorstand der Raiffeisen<br />

Bank International<br />

ein. Seit März 2017<br />

ist er Vorstandschef<br />

der RBI.<br />

Die RBI unterstützt den Tag der offenen<br />

Tür der Israelitischen Kultusgemeinde<br />

Wien seit vielen Jahren. Welchen Hintergrund<br />

hat dieses Engagement?<br />

Ein Unternehmen unserer Größe hat eine<br />

Verantwortung für unsere Gesellschaft.<br />

Aufgrund unserer genossenschaftlichen<br />

Wurzeln unterstützen wir insbesondere<br />

Projekte und Institutionen, die eigenverantwortliches<br />

Handeln großschreiben. Die Israelitische<br />

Kultusgemeinde ist ein Musterbeispiel<br />

dafür, was durch bürgerschaftliches<br />

Engagement erreicht werden kann. Wenn<br />

man dann noch in die Geschichte zurückschaut<br />

und sich vergegenwärtig, wie viel<br />

Wien seinen jüdischen Bürgern verdankt –<br />

kulturell, wissenschaftlich, sozial –, dann ist<br />

unsere Unterstützung für die IKG fast schon<br />

eine Selbstverständlichkeit.<br />

Bildung hat einen sehr hohen Stellenwert<br />

im Judentum. Welche Bedeutung messen<br />

Sie Bildung bei?<br />

Bildung ist der wichtigste Rohstoff unseres<br />

Landes. Ihre Bedeutung kann gar nicht überschätzt<br />

werden. Sie ist der Schlüssel zum<br />

langfristigen Erfolg einer Volkswirtschaft,<br />

zur sozialen Teilhabe und zur Integration.<br />

Wir leben in einer Zeit, in der sehr viel über<br />

Gerechtigkeit diskutiert wird. Letztendlich<br />

ist es immer eine subjektive Wahrnehmung,<br />

was gerecht und was ungerecht ist. Für mich<br />

ist es zutiefst ungerecht, wenn man Menschen<br />

den Zugang zur Bildung verwehrt.<br />

Wie sehen Sie den zunehmenden Antisemitismus<br />

in Europa?<br />

Als Schande für Europa. Wenn Juden wieder<br />

Angst haben, in der Öffentlichkeit religiöse<br />

Symbole zu tragen, oder sogar aus<br />

Angst Europa verlassen, dann ist das unerträglich.<br />

Wir haben nicht nur die Verpflichtung,<br />

den Opfern der Schoah ein würdiges<br />

Andenken zu bewahren, sondern insbesondere<br />

auch eine Verantwortung gegenüber<br />

unseren jüdischen Mitbürgern im Hier und<br />

Heute. Sie müssen sich in Europa sicher fühlen<br />

können. Wir dürfen es nicht zulassen,<br />

dass sich das Gift des Antisemitismus weiter<br />

ausbreitet. Unser Bundespräsident hat<br />

anlässlich seines Israel-Besuchs Anfang Februar<br />

sehr klare Worte dazu gefunden.<br />

In Ihrem Metier hat die Risikobewertung<br />

einen hohen Stellenwert. Welche Risiken<br />

sehen Sie derzeit in Österreich und global?<br />

Die Wirtschaft, insbesondere die Banken,<br />

besitzen viel Erfahrung mit der Bewertung<br />

wirtschaftlicher Risiken. Wir haben gelernt,<br />

mit konjunkturellen Zyklen umzugehen.<br />

Die Bewertung von politischen Risiken, die<br />

sich, wenn sie sich manifestieren, auf die<br />

Wirtschaft durchschlagen, ist wesentlich<br />

schwieriger. Klassische Risikomodelle können<br />

das nicht abbilden. Zurzeit sind wir<br />

mit einer ganzen Reihe von politischen Risiken<br />

konfrontiert: dem Brexit, einem drohenden<br />

globalen Handelskrieg, dem Ukraine-Konflikt<br />

und so weiter. In einer solchen<br />

Situation müssen sie in der Lage sein, sehr<br />

schnell zu reagieren und sich anzupassen.<br />

Sie waren begeisterter Reiter und haben<br />

eine große Passion für Pferde. Was können<br />

Menschen von Pferden lernen?<br />

Pferde sind Fluchttiere, sehr aufmerksame<br />

und sensible Beobachter. Behandelt man<br />

sie mit Respekt und überfordert sie nicht,<br />

dann sind sie unglaublich leistungsbereit<br />

und vertrauensvoll. So kann der Umgang<br />

mit Pferden auch eine gute Übung für den<br />

Umgang mit Menschen sein.<br />

Entgeltliche Einschaltung


VON DER KONTINUITÄT ABLENKEN<br />

Der Holocaust<br />

als Folge<br />

CHRISTLICHER<br />

STIGMATISIERUNG<br />

Maccoby geht in Ein Pariavolk<br />

hart mit dem Christentum<br />

ins Gericht. Antisemitismus<br />

sei zwar kein nur in christlichen Gesellschaften<br />

auftauchendes Phänomen. Der<br />

Wissenschaftler unterscheidet zwischen<br />

griechischem, römischem, gnostischem,<br />

muslimischem und eben christlichem<br />

Antisemitismus. Nur Letzterer habe allerdings<br />

den Holocaust hervorgebracht.<br />

Der christliche Antisemitismus habe Juden<br />

auf einen Pariastatus hinabgedrückt<br />

und sie mit Stigma und Abscheu ausgestattet,<br />

„wodurch sie Ausbrüchen allgemeiner<br />

oder obrigkeitlicher Gewalt ausgesetzt<br />

wurden“. Bitteres Fazit: „Das Niveau der<br />

christlichen antisemitischen Propaganda,<br />

ihre Bestätigung in sakralen Texten und<br />

die Länge der Zeit, über die sie verbreitet<br />

wurde, sind ohne Parallele.“<br />

Das Neue Testament stellte die Juden<br />

als verfluchtes Volk hin, dem eine außergewöhnliche<br />

Bestrafung zugedacht war,<br />

so Maccoby. „Schon in den Schriften des<br />

Neuen Testaments gilt die Zerstörung des<br />

Tempels als Erfüllung dieses Fluches, und<br />

das spätere Exil der Juden (das in Wirklichkeit<br />

nicht vor der arabischen Eroberung<br />

im 7. Jahrhundert begann) wurde<br />

vordatiert und als weitere Erfüllung des<br />

Fluches betrachtet.“ Es sei allerdings nicht<br />

Die Schoah baut auf dem<br />

vom Christentum über<br />

Jahrhunderte geschürten<br />

Antisemitismus auf.<br />

Zu diesem Ergebnis kam<br />

der Talmudphilologe und<br />

Judaist Hyam Maccoby<br />

(1924–2004) in seiner 1996<br />

erschienenen Arbeit<br />

Ein Pariavolk. Zur<br />

Anthropologie des Antisemitismus.<br />

Der Verlag<br />

Hentrich & Hentrich<br />

brachte das Buch nun in<br />

deutscher Sprache heraus.<br />

Von Alexia Weiss<br />

„DasNiveauderchristlichenantisemitischen<br />

Propaganda,ihreBestätigunginsakralenTexten<br />

[…] sind ohne Parallele.“ Hyam Maccoby<br />

das Neue Testament selbst, dass die Juden<br />

zu einem Pariavolk degradiert habe. „Die<br />

Juden wurden zum Pariavolk als Folge<br />

des Triumphs des Christentums im Römischen<br />

Reich nach dem Regierungsantritt<br />

Konstantins, der sie zum ersten Mal<br />

zu einem untertanen Volk in einem christlichen<br />

Reich machte.“<br />

Doch auch dann dauerte es noch Jahrhunderte,<br />

bis Juden zu einer Pariagruppe<br />

in der christlichen Gesellschaft wurden.<br />

Trotz ständiger feindseliger Predigten<br />

hätten Juden ein menschliches und sogar<br />

würdevolles Erscheinungsbild behalten.<br />

Den Wendepunkt ortet Maccoby im<br />

11. Jahrhundert, „als Juden allmählich von<br />

der breiten Masse dämonisiert wurden:<br />

Sie wurden zur geächteten Gruppe, ausgeschlossen<br />

vom gesellschaftlichen Umgang,<br />

von der Mischehe und von jedem<br />

ehrbaren Beruf.“<br />

Die Kontinuität zwischen dem mittelalterlichen<br />

Pariatum und dem modernen<br />

Antisemitismus könne man deutlich<br />

in Russland sehen, wo die Abfassung der<br />

gefälschten Protokolle der Weisen von Zion<br />

stattfand. „Aber der größte Ausbruch von<br />

Antisemitismus fand nicht in Russland<br />

statt, sondern in Deutschland, wo die Kontinuität<br />

nicht ganz so stark ins Auge fällt<br />

und deshalb von allen geleugnet wurde, die<br />

den Antisemitismus von seinen christlichen<br />

Vorläufern loslösen möchten.“<br />

Rolle der Paria. In Deutschland seien<br />

Juden im 20. Jahrhundert nicht in Ghettoszusammengepferchtgewesen,sondern<br />

waren Richter, Professoren, Naturwissen-<br />

36 wına| Juli_August 2019


RÜCKFALL IN DAS MITTELALTER<br />

schaftler, Ärzte, Schriftsteller, Politiker. Sie<br />

lebten in Freiheit und rühmten sich überdies<br />

ihres deutschen Patriotismus. „Aber<br />

hier wurden sie zusammengetrieben, in<br />

Lager im Osten geschickt und umgebracht<br />

unter Umständen, die an mittelalterliche<br />

Bilder von der Hölle erinnern, mit<br />

jeder Beigabe, die bitterer Hass sich als Demütigung,<br />

Hunger und Folter ausdenken<br />

konnte.“ Es sei das blühende deutsche Judentum<br />

vor dem Holocaust gewesen, das<br />

dazu diente, die Aufmerksamkeit von der<br />

historischen Kontinuität des Antisemitismus<br />

abzulenken. In Wahrheit aber sei die<br />

antisemitische Propaganda der Nazis „ein<br />

Rückfall in mittelalterliches Denken und<br />

Verhalten“ gewesen, „veranlasst durch Ressentiment<br />

gegen den jüdischen Versuch,<br />

den Vorteil der Versprechungen der Aufklärung<br />

wahrzunehmen und der mittelalterlichen<br />

Rolle als Paria zu entkommen“.<br />

Die Maßnahmen der Nazis, welche die demokratischen<br />

Bürgerrechte von Juden beschnitten,<br />

hätten die mittelalterlichen Verfügungen<br />

wiederholt. Außerdem sei die<br />

Hyam Maccoby:<br />

Ein Pariavolk.<br />

Zur Anthropologie des<br />

Antisemitismus,<br />

Hentrich & Hentrich,<br />

Berlin 2019,<br />

208 S., € 24,90<br />

Propaganda, mit der die Juden verleumdet<br />

wurden, „einschließlich der Ritualmordlegende<br />

direkt der mittelalterlichen Literatur<br />

und Luthers antisemitischen Schmähschriften<br />

entnommen“ worden.<br />

Angesichts dieser Kontinuität hält<br />

Maccoby fest, „dass der Holocaust kein<br />

Mysterium war“. „Wenn ein Volk durch<br />

die Jahrhunderte ständiger Verleumdung<br />

und Dämonisierung ausgesetzt war, sodass<br />

ein allgemeiner Abscheu so tief eingeimpft<br />

wurde, um wie ein Instinkt zu funktionieren,<br />

kann es nicht überraschen, dass<br />

irgendwann eine Bewegung aufkommt,<br />

deren Ziel die Auslöschung dieses angeblichen<br />

Schädlings und Feindes der Menschheit<br />

ist.“<br />

Doch warum schlug der Willen zur<br />

Vernichtung dann ausgerechnet im 20.<br />

Jahrhundert zu, nach der Aufklärung, zu<br />

einem Zeitpunkt, als Jüdinnen und Juden<br />

schon seit Längerem gleichberechtigte<br />

Bürger waren? Maccobys bittere Erklärung:<br />

„Wenn eine Nation eine demütigende<br />

Niederlage in einem großen Krieg<br />

erlitten hat und auch unter wirtschaftlicher<br />

Not leidet, ist es überhaupt nicht<br />

überraschend, dass ein Sündenbock in einer<br />

unbewaffneten Minderheitengruppe<br />

gefunden wird, die in den Köpfen der<br />

Menschen immer noch den Pariastatus<br />

einnimmt, der sich aus tiefen religiösen<br />

heilsbringenden Vorstellungen herleitet,<br />

oder dass eine politische Bewegung, die<br />

sich aus nationaler Verzweiflung speist,<br />

es sich nicht entgehen lässt, eine solche<br />

kraftvolle einende politische Waffe wie<br />

Abscheu und Misstrauen gegenüber den<br />

Juden zu nutzen.“ <br />

bundeskanzleramt.gv.at<br />

Sie haben Fragen …<br />

• an die Bundeskanzlerin<br />

• an die Bundesministerin für<br />

Frauen, Familien und Jugend<br />

• an den Bundesminister für EU,<br />

Kunst, Kultur und Medien<br />

• zur Europäischen Union<br />

Bürgerinnen- und<br />

Bürgerservice<br />

0800 222 666 *<br />

Mo bis Fr: 8 – 16 Uhr<br />

service@bka.gv.at<br />

Bundeskanzleramt<br />

Ballhausplatz 1<br />

1010 Wien<br />

Frauenservice<br />

0800 20 20 11 *<br />

Mo bis Do: 10 – 14 Uhr<br />

Fr: 10 – 12 Uhr<br />

frauenservice@bka.gv.at<br />

Familienservice<br />

0800 240 262 *<br />

ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG<br />

• zur öffentlichen Verwaltung<br />

in Österreich<br />

+43 1 531 15-204274<br />

* gebührenfrei aus ganz Österreich<br />

Mo bis Do: 9 – 15 Uhr<br />

familienservice@bka.gv.at<br />

Wir freuen uns auf Ihre Fragen und Anliegen!<br />

wına-magazin.at<br />

37


KONSERVIEREN RESTAURIEREN<br />

BEWAHREN,<br />

WAS EINMAL WAR<br />

Die Exilbibliothek im Literaturhaus bewahrt<br />

Objekte und Arbeiten aus dem früheren Besitz von<br />

in der NS-Zeit verfolgten Künstlern und Künstlerinnen,<br />

die sich ins Ausland retten konnten. Nun bemüht<br />

sich die Einrichtung darum, die Sammlung zeitgemäß<br />

zu lagern beziehungsweise für die Forschung etwa<br />

durch Digitalisierung nutzbar zu machen.<br />

Seit 1993 sammelt die Exilbibliothek,<br />

gegründet als Abteilung der<br />

Dokumentationsstelle für neuere<br />

österreichische Literatur, Arbeiten und<br />

Nachlässe von Exilkünstlern: Anders,<br />

als der Name der Einrichtung vermuten<br />

lassen würde, dokumentiert die Exilbibliothek<br />

allerdings nicht nur das Wirken<br />

von von den Nationalsozialisten verfolgten<br />

und emigrierten Schriftstellern und<br />

Schriftstellerinnen, sondern auch von<br />

Musikern, Bildhauern, Architekten und<br />

Tänzern. Die Sammlung umfasst daher<br />

neben rund 9.000 Büchern auch zahlreiche<br />

andere Objekte.<br />

Darunter finden sich etwa die charakteristischen<br />

Puppen der Tänzerin<br />

und Performancekünstlerin Cilli Wang,<br />

gefertigt nach Karikaturen, etwa von<br />

Erich Sokol, Hüte und Fotografien aus<br />

dem Nachlass der Lyrikerin und Modistin<br />

Mimi Grossberg oder Tonaufnahmen<br />

von Jimmy Berg, erzählt die Leiterin<br />

der Exilbibliothek, Veronika Zwerger.<br />

Insgesamt liegen Nachlassbestände und<br />

Handschriften von etwa 150 Personen<br />

im Literaturhaus in der Seidengasse. Die<br />

Bandbreite reicht dabei „von einem Einzeltyposkript<br />

oder dem Tagebuch eines<br />

jugendlichen Flüchtlings bis hin zu einem<br />

Nachlass von 150 Archivboxen“.<br />

Während der vergangenen 25 Jahre hat<br />

die Exilbibliothek den Schwerpunkt ihrer<br />

Arbeit auf Projekte gelegt, im Rahmen<br />

derer die Institution mit vielen überlebenden<br />

Exilkünstlern und -künstlerin-<br />

Von Alexia Weiss<br />

Fotos: Daniel Shaked<br />

Schachtelpate werden.<br />

Viele Objekte brauchen<br />

schlicht eine säurefreie,<br />

maßgeschneiderte<br />

Verpackung, um auch für<br />

künftige Generationen<br />

erhalten zu werden.<br />

nen in Kontakt kam. Dabei entschieden<br />

einige der Kunstschaffenden, der Bibliothek<br />

Materialien, Objekte, Archivalien<br />

als Vorlass zu übergeben. Zwerger freut<br />

sich hier über das große Vertrauen, dass<br />

ihrer Institution entgegengebracht wird.<br />

Manches wurde auch angekauft. Inzwischen<br />

ist das Gros der verfolgten Künstler<br />

allerdings bereits verstorben. Mit Nachkommen<br />

sei man weiter in Kontakt – und<br />

immer noch werden der Einrichtung neue<br />

Exponate übergeben. Dennoch: Die Zeit<br />

des Sammelns neigt sich langsam dem<br />

Ende zu.<br />

„Nun ist es wichtig, die Bestände gut<br />

zu erhalten“, betont Zwerger. Während es<br />

für Projekte oder auch den Ankauf von<br />

Objekten Förderungen gebe, sei diese<br />

Art der Finanzierung für konservierende<br />

oder restaurierende Maßnahmen kaum<br />

vorgesehen. Daher wendet sich die Exilbibliothek<br />

nun mit dem Aufruf „Werden<br />

Sie Schachtelpate/Schachtelpatin!“<br />

an die interessierte Öffentlichkeit. Viele<br />

Objekte brauchen schlicht eine säurefreie,<br />

maßgeschneiderte Verpackung, um<br />

auch für künftige Generationen erhalten<br />

zu werden. Tonaufnahmen oder Fotografien<br />

wiederum müssen digitalisiert<br />

werden. Zwerger hat hier überschaubare<br />

Pakete geschnürt: So kann man Patin<br />

beispielsweise einer Seite des Fluchtfotoalbums<br />

von Mimi Grossberg werden<br />

oder die Kosten für die Digitalisierung einer<br />

Minute von Jacov Linds Kurzspiel-<br />

38 wına| Juli_August 2019


Durchblick.<br />

Die Exilbibliothek dokumentiert<br />

das Wirken von<br />

in der NS-Zeit verfolgten<br />

und emigrierten<br />

Schriftstellern Musikern,<br />

Bildhauern, Architekten<br />

und Tänzern.<br />

firm Die Öse übernehmen. Für eine Patenschaft<br />

sind je nach gewähltem Objekt<br />

20 bis 40 Euro zu übernehmen – das sei<br />

überschaubar und komme bisher gut an, so<br />

die Leiterin der Exilbibliothek. Sie kann<br />

sich vorstellen, das Projekt in Zukunft daher<br />

ähnlich fortzuführen.<br />

Alle Paten und<br />

Patinnen sollen<br />

gegenJahresende<br />

eingeladen werden,<br />

um zu sehen, was<br />

inzwischen mit den<br />

von ihnen geförderten<br />

Objekten<br />

passiert ist.<br />

Objekte mit Geschichte. Alle Paten und<br />

Patinnen sollen gegen Jahresende eingeladen<br />

werden, um zu sehen, was inzwischen<br />

mit den von ihnen geförderten Objekten<br />

passiert ist. Bereits einen Schachtelpaten<br />

gefunden hat beispielsweise eine Schreibmaschine<br />

aus den 1930er-Jahren, die einst<br />

von Joseph Roth verwendet und in Tournon,<br />

Frankreich, verkauft worden sein<br />

soll. Geschichten wie diese seien plausibel,<br />

auch wenn sie heute nicht mehr nachgeprüft<br />

werden könnten, so Zwerger. In<br />

jedem Fall erzählen die Reisen, welche<br />

Manuskripte, Bücher, Objekte gemacht<br />

haben, bevor sie in Wien in der Seidengasse<br />

ihr neues Zuhause fanden, viel von<br />

den Flucht- und Lebenswegen ihrer geächteten<br />

und verfolgten Besitzer.<br />

Die Malerin und Grafikerin Anna Heilig<br />

ging beispielsweise ins Exil nach Indien.<br />

Das Hindi-Übungsheft der Künstlerin<br />

ist heute Teil der Sammlung der<br />

Exilbibliothek. Die Lehrerin Barbara<br />

Turnbull, geb. Gisela Rusznyák, floh nach<br />

Australien, wo sie das Billbar Puppet Theatre<br />

gründete. Ihr Sohn übergab Zwerger<br />

und ihrem Team digitale Dokumente zu<br />

dem Theater. Die Gerichtsberichterstatterin<br />

(Wiener Abend) Alice Penkala, geb.<br />

Rosa Alice Krausz, rettete sich nach Südfrankreich,<br />

wo sie als Schriftstellerin tätig<br />

wurde. Ein Großteil ihrer Manuskripte zu<br />

den Themen Faschismus und Exil wurde<br />

nicht zu ihren Lebzeiten veröffentlicht.<br />

Die Exilbibliothek publizierte 2016 ihren<br />

Roman Schokolade für das Afrika-Corps, der<br />

in der Emigrantengemeinde von Tanger<br />

spielt. Der Komponist und Schlagertexter<br />

Jimmy Berg wiederum, dessen inzwischen<br />

100-jährige Witwe Zwerger erst kürzlich<br />

in New York traf, schuf auch im Exil in<br />

den USA Wiener Lieder wie das Wiener<br />

Schnitzel. Die Exilbibliothek verfügt über<br />

eine ansehnliche Sammlung von Schellackplatten,<br />

die allerdings dringend digitalisiert<br />

werden müssen. „Bei einer Platte,<br />

die wir kürzlich digitalisieren ließen, hat<br />

sich herausgestellt, dass die Nadel schon<br />

per Hand geführt werden musste“, schildert<br />

Zwerger. <br />

Paten und Patinnen gesucht<br />

Wer mithelfen möchte, Objekte aus Nachlässen von verfolgten Künstlern und<br />

Künstlerinnen zu restaurieren beziehungsweise gut geschützt für die Zukunft<br />

zu bewahren, kann Schachtelpatin oder -pate werden.<br />

Auf literaturhaus.at findet sich eine Liste der Patenschaften, die übernommen<br />

werden können. Eine Seite des Fluchtfotoalbums von Mimi Grossberg<br />

zu restaurieren, kostet beispielsweise 20 Euro, eine Minute des 35-mm-Films<br />

Die Öse von Jakov Lind zu digitalisieren, 30 Euro, eine Aufnahme eines Lieds<br />

von Jimmy Berg zu digitalisieren und eine säurefreie Hülle für die Schellackplatte<br />

anfertigen zu lassen, 40 Euro. Bei Interesse mailen an:<br />

exilbibliothek@literaturhaus.at<br />

wına-magazin.at<br />

39


Seit der ersten Operation im August<br />

2011 führt die Abteilung für Urologie<br />

und Andrologie vor allem radikale<br />

Prostataentfernungen, Nieren- (organerhaltende<br />

Nierentumorresektionen,<br />

Nierenentfernungen und Nierenbeckenplastiken)<br />

und Blaseneingriffe sowie<br />

Inkontinenzkorrekturen durch. Das<br />

Team der Gynäkologischen Abteilung<br />

verwendet das System seit 2016 überwiegend<br />

bei Gebärmutter-Entfernungen,<br />

Myomenukleationen und Operationen<br />

bei Gebärmutter- und Scheidensenkungen.<br />

2017 entdeckte auch die Chirurgische<br />

Abteilung das Robotersystem für<br />

sich und führte fortan Operationen im<br />

Bereich der kolorektalen Eingriffe, d.h.<br />

bei Operationen am Dick- und Mastdarm<br />

bei gut- und bösartigen GewächdaVinci<br />

® Operationsroboter<br />

D<br />

as Krankenhaus der Barmherzigen<br />

Brüder Wien hat als einziges Spital<br />

in ganz Österreich zwei daVinci ® Operationssysteme<br />

im Einsatz. Der Operationsroboter<br />

wird primär bei minimal-invasiven<br />

Eingriffen der Fachgebiete<br />

Urologie, Gynäkologie und der Chirurgie<br />

verwendet. Auch die HNO-Abteilung<br />

setzt das System für unterschiedliche<br />

Halsoperationen ein.<br />

Beide Robotersysteme sind auf dem<br />

technologisch höchsten Stand, sodass<br />

beispielsweise Gefäße und die Durchblutung<br />

von Organen und Gewebe während<br />

der Operation mit einem Speziallicht<br />

dargestellt werden können. So sind die<br />

Operationen präziser aber auch schonender<br />

für die Patientinnen und Patienten.<br />

„Wir sind stets bemüht, Kompetenz,<br />

Menschlichkeit sowie modernste Medizintechnik<br />

in Einklang zu bringen. Aus<br />

diesem Grund freuen wir uns, die roboterassistierte<br />

Chirurgie als Schwerpunkt<br />

anbieten zu können. Mit mittlerweile<br />

vier medizinischen Abteilungen,<br />

die unsere beiden daVinci ® Roboter<br />

nutzen, sind wir auf einem guten Weg<br />

in Richtung robotisches Zentrum“, beschreibt<br />

Gesamtleiter Prof. Mag. Helmut<br />

Kern, MA.<br />

EINSATZGEBIETE AM<br />

KRANKENHAUS DER<br />

BARMHERZIGEN<br />

BRÜDER WIEN<br />

© Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien<br />

© feel image - Fotografie: Felicitas Matern<br />

© Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien/L. Schedl<br />

Luftaufnahme Krankenhaus der<br />

Barmherzigen Brüder Wien<br />

daVinci® Operationssystem<br />

Prof. Mag. Helmut Kern, MA<br />

KONTAKTDATEN:<br />

Krankenhaus der Barmherzigen<br />

Brüder Wien<br />

Johannes-von-Gott-Platz 1, 1020 Wien,<br />

Tel.: +43 1 211 21-0, www.bbwien.at<br />

Spendenkonto:<br />

IBAN: AT69 6000 0000 0706 4001<br />

BIC: BAWAATWW<br />

sen mit dem daVinci ® Operationsroboter.<br />

Seit Ende 2017 setzt nun auch die<br />

Abteilung für HNO und Phoniatrie den<br />

daVinci ® Operationsroboter für unterschiedliche<br />

Halsoperationen ein. In erster<br />

Linie werden bösartige Tumore im Rachen-<br />

und oberen Kehlkopfbereich damit<br />

operiert. Aber auch Eingriffe, wie die<br />

Entfernung der Mandeln oder bestimmte<br />

Schnarchoperationen können mit dem<br />

daVinci ® Roboter behandelt werden.<br />

EIN SYSTEM -<br />

ZAHLREICHE VORTEILE<br />

A<br />

uch<br />

wenn wir vom Krankenhaus<br />

der Barmherzigen Brüder Wien auf<br />

rund 25 Jahre Erfahrung im Bereich der<br />

bekannten minimal-invasiven Operationstechniken<br />

zurückgreifen können, gibt<br />

es oft Situationen, bei denen die Laparoskopie<br />

auf Grund ihrer technischen Möglichkeiten<br />

(2D-Sicht, eingeschränkte Bewegungsfreiheit<br />

der Instrumente) nur<br />

beschränkt eingesetzt werden kann. Aus<br />

diesem Grund stellt der Einsatz der Roboterchirurgie<br />

eine konsequente Weiterentwicklung<br />

unserer Techniken dar.<br />

Davon profitieren am meisten unsere<br />

Patientinnen und Patienten: Durch<br />

den Einsatz des Robotersystems kann<br />

oftmals ein Bauchschnitt vermieden<br />

werden. Somit reduzieren sich die Infektionsgefahr,<br />

das Risiko von Verwachsungen<br />

im Bauchraum, wie auch die<br />

Schmerzen und der Blutverlust. Darüber<br />

hinaus heilen die meist kleineren Operationsnarben<br />

schneller und bieten ein<br />

besseres kosmetisches Ergebnis. Kürzere<br />

Krankenhausaufenthalte und eine<br />

schnellere Erholung gehen mit diesen<br />

Vorteilen einher. Gut geeignet ist das<br />

Operieren mit dem daVinci ® -Operationssystem<br />

zudem für Menschen mit<br />

Risikofaktoren, wie Herz-Kreislauf-<br />

Erkrankungen, Diabetes, Übergewicht<br />

oder Voroperationen am Bauch.<br />

„Wir sind seit über 400 Jahren täglich<br />

im unermüdlichen Einsatz am Menschen.<br />

Das Wohl der Patientinnen und<br />

Patienten steht dabei immer im Vordergrund.<br />

Deshalb freuen wir uns darüber,<br />

dass wir unseren Patientinnen und Patienten<br />

diese schonende und risikoarme<br />

Operationsmethode anbieten können“,<br />

erklärt Prof. Mag. Kern, MA, abschließend.


ABSURDEM GLAUBEN SCHENKEN<br />

Bloßstellung der<br />

Otto Hans Ressler:<br />

Die Verleumdung.<br />

Novelle.<br />

edition splitter 2019,<br />

128 S., 20 €<br />

Niedertracht<br />

In der Novelle Die Verleumdung beleuchtet<br />

Otto Hans Ressler den Antisemitismus<br />

im verherrlichten „Wien um 1900“ und<br />

spannt den Bogen ins Heute.<br />

Von Marta S. Halpert<br />

I<br />

ch bin Otto Hans Ressler sehr dankbar,<br />

dass er diese dunkle und gewalttätige<br />

Seite des heute so verherrlichten<br />

‚Wien um 1900‘ wieder in<br />

Erinnerung ruft und in eine fesselnde<br />

Novelle verpackt.“ Mit diesen Worten<br />

leitet Oliver Rathkolb, Vorstand des Instituts<br />

für Zeitgeschichte der Universität<br />

Wien, das Buch Die Verleumdung des<br />

Kunstexperten und geschäftsführenden<br />

Gesellschafters der Ressler Kunst Auktionen<br />

GmbH, Otto Hans Ressler, ein.<br />

Als historische Hintergrundfolie<br />

nimmt Ressler, der schon 18 Bücher verfasst<br />

hat, den fast vergessenen Antisemitismus<br />

in der Habsburger Monarchie<br />

vor 1914 aufs Korn. Die Hauptfigur, der<br />

Fabrikant Baron Salomon Schön, klagt<br />

den rechtsradikalen Reichstagsabgeordneten<br />

Gerwald Holomek, Mitglied der<br />

Alldeutschen Vereinigung, auf Ehrenbeleidigung<br />

und Rufschädigung. Holomek<br />

beschuldigt die Schön & Co AG, der<br />

k.u.k. Armee untaugliche, ja Menschenleben<br />

gefährdende Perkussionsschlösser<br />

für das Repetiergewehr Steyr-Mannlicher<br />

geliefert zu haben. Diese Behauptung<br />

unterstellt Schön nicht nur Sabotage,<br />

sondern rückt ihn in die Nähe des<br />

Hochverrats. Die heftigen antisemitischen<br />

Polemiken während des Prozesses<br />

stehen im Zentrum der Novelle.<br />

„Meine ursprüngliche Absicht war es,<br />

ein Buch zu schreiben, in dessen Mittelpunkt<br />

ein Gerichtsprozess steht. In einem<br />

Antiquariat habe ich ein völlig zerfleddertes<br />

Heft entdeckt, in dem mehrere<br />

Prozesse aus der Zeit um 1900 beschrieben<br />

waren“, erzählt der ehemalige Auktionator<br />

im Wiener Dorotheum. „Da-<br />

runter war auch<br />

ein Prozess im Jahr<br />

1892 in Berlin, in<br />

dem ein Abgeordneter<br />

des deutschen<br />

Parlaments<br />

einen jüdischen<br />

„Mir ging es um<br />

dieBloßstellung<br />

von Lügen, von<br />

Niedertracht,von<br />

Bösartigkeit –und<br />

da gibt es heute<br />

mehr als genug<br />

Stoff.“<br />

Otto Hans Ressler<br />

Fabrikanten verleumdet,<br />

Gewehre<br />

für die Armee absichtlich<br />

unbrauchbar<br />

gemacht zu haben,<br />

um nach dem<br />

nächsten Krieg, der<br />

zwangsläufig verloren werden musste, die<br />

jüdische Weltherrschaft zu errichten.“<br />

Der gebürtige Steirer empfand das ungeheuerlich<br />

und absurd, wollte sich gar<br />

nicht vorstellen, dass tatsächlich jemand<br />

diesen Wahnsinn geglaubt haben konnte.<br />

„Andererseits erlebe ich Tag für Tag, dass<br />

das Ungeheuerliche, Absurde und Niederträchtige<br />

geglaubt wird.“<br />

Bloßstellung von Niedertracht und<br />

Bösartigkeit. Ressler verlegt den Ort<br />

der Handlung nach Wien und erzählt<br />

die Geschichte aus der Sicht des Anwalts<br />

des jüdischen Fabrikanten. Er beschränkt<br />

sich nicht darauf, die Abläufe des Prozesses<br />

zu beschreiben, der sich durch ständige<br />

Wiederholung der Propagandalügen<br />

der Gegenseite zu einer antijüdischen<br />

Hassorgie emporschaukelt, sondern fügt<br />

die Figur der geheimnisvollen Valerie<br />

Kronsky hinzu. Sie sorgt als begehrtes<br />

Liebesobjekt für die emotionale<br />

Dynamik zwischen<br />

den männlichen Hauptprotagonisten,<br />

dem Fabrikanten<br />

Schön, dem Abgeordneten<br />

Holomek und dem<br />

erzählenden Advokaten.<br />

Angesichts der Wucht des<br />

politischen Hauptstrangs<br />

wirkt diese von allen dreien<br />

geteilte Leidenschaft genau<br />

so konstruiert, wie sie<br />

ist. Aber die Schlusspointe<br />

tröstet darüber hinweg.<br />

„Ich wollte nie einen historischen<br />

Roman schreiben.<br />

Deshalb habe ich mir als<br />

handelnde Personen auch<br />

Menschen vorgestellt, die jetzt leben“, erzählt<br />

Ressler. „Ich bin sogar so weit gegangen,<br />

einzelne wörtliche Zitate von aktiven<br />

Politikern einzubauen. Mir ging es<br />

um die Bloßstellung von Lügen, von Niedertracht,<br />

von Bösartigkeit – und da gibt<br />

es heute mehr als genug Stoff. Wer hätte<br />

sich noch vor zwei Jahren vorstellen können,<br />

dass die Demokratie in Österreich<br />

unter Druck gerät, die Pressefreiheit, die<br />

Einhaltung menschenrechtlicher Grundsätze<br />

oder unser System des Ausgleichs<br />

der Interessen?“ <br />

wına-magazin.at<br />

41


MEN T SCHEN: GERDA FREY<br />

„Im vereinten Europa<br />

ist Verwurzelung nicht so wichtig.“<br />

Gerda Frey erlebte als Kleinkind die Flucht vor den Nazis. Sie vertrat<br />

eine Frauenorganisation bei der UNO und gilt als scharfe Kritikerin des<br />

Rechtspopulismus. 2016 war sie in der Wahlkampagne für Alexander<br />

van der Bellen aktiv. Redaktion und Fotografie: Ronnie Niedermeyer<br />

WINA: 1938 flüchtete Ihre Familie von Mattersburg nach<br />

Ungvár (heute Uschhorod), die Heimatstadt Ihrer Mutter. Was<br />

sind Ihre ersten Erinnerungen?<br />

Gerda Frey: Ich war nur bis zu meinem 5. Lebensjahr in Ungvár<br />

und erinnere mich an liebende, etwas überforderte Großeltern<br />

sowie an den fröhlichen jüdischen Kindergarten. Aus<br />

diesem Kindergarten war ich das einzige Kind, das nicht in<br />

Auschwitz ermordet wurde.<br />

Wie gelang es Ihrer Familie, die Schoah zu überleben?<br />

❙ In Ungvár konnte man der Schoah nicht entkommen. 1942<br />

mussten wir die Stadt verlassen, Richtung Budapest. Zuerst<br />

waren wir in Internierungslagern untergebracht; 1944 wurden<br />

wir neun Monate lang von einer christlichen Familie in<br />

ihrer Wohnung versteckt. Während der Bombardierung Budapests<br />

haben wir mithilfe gefälschter Dokumente als „Flüchtlinge<br />

vor den russischen Truppen“ überlebt.<br />

Die Stationen Ihres frühen Lebens sind fast ein Palindrom:<br />

Wien – Mattersburg – Ungvár und Budapest – Mattersburg –<br />

Wien. Fühlen Sie sich in einer dieser Städte verwurzelt? Sind<br />

„Wurzeln“ überhaupt notwendig?<br />

❙ Eigentlich betrachte ich Wien als meine Heimat – hier bin<br />

ich seit meinem 14. Lebensjahr. Da wir glücklicherweise in<br />

einem vereinten Europa leben dürfen, ist eine Verwurzelung<br />

meiner Meinung nach nicht mehr so wichtig.<br />

In Ihrer Jugend verbrachten Sie ein Austauschjahr in Syracuse,<br />

New York. Sie bezeichnen diese Reise als derart<br />

prägend, dass auch Ihre viel später geborenen Kinder davon<br />

beeinflusst sind. Inwiefern?<br />

❙ Nach traurigen Kriegs- und Nachkriegsjahren wurde ich<br />

durch diese glückliche Auswahl in eine heile jüdische Großfamilie<br />

in den USA gehievt. Dort erlebte ich auch erstmals<br />

ein modernes jüdisches Leben – ohne die selbstverständlichen<br />

Zwänge, die mein tiefgläubiger, liebender Vater fühlte,<br />

ausüben zu müssen. Dieses positive, aktive, progressive Judentum<br />

hat auch meine Kinder und ihr späteres Leben geprägt.<br />

1956 erlebten Sie als Volontärin beim Roten Kreuz, wie infolge<br />

der ungarischen Revolution zahlreiche Flüchtlinge nach<br />

Wien kamen. Was waren für Sie die prägendsten Eindrücke<br />

dieser Zeit? Warum hat die hiesige Gesellschaft damals so<br />

anders reagiert als im Syrien-Krieg?<br />

❙ Als Studentin erlebte ich 1956 in Österreich eine großartige<br />

Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Dann kamen neuere<br />

Flüchtlingswellen. In Österreich ging es den Menschen wirtschaftlich<br />

immer besser – daher hatte man das Gefühl, durch<br />

„Teilen“ auch mehr zu verlieren. Die Kultur der angekommenen<br />

Menschen wurde im Laufe der Geschehnisse immer mehr<br />

als fremd wahrgenommen. Auch nahm das Einfühlungsvermögen<br />

vieler Menschen hier immer mehr ab.<br />

Wie entsteht ein solcher Rechtsruck, und was können wir<br />

dagegen tun?<br />

❙ Rechtspopulisten scheinen einfache Antworten auf die brennenden<br />

Fragen unserer Zeit parat zu haben. Sie teilen die Menschen<br />

bewusst in „wir“ und die „anderen“ ein. Dabei überhöhen<br />

sie das „wir“ und teilen diesem gleichzeitig eine Opferrolle<br />

zu, während ihre Ideologie jegliche Empathie den „anderen“<br />

gegenüber untergräbt. Ich kann nur hoffen, dass man in Kindergärten,Schulen,JugendorganisationenundSportvereinen<br />

den Kindern und Jugendlichen ein mitmenschliches Verhalten<br />

vorlebt und sie dies lernen.<br />

Was betrachten Sie als Ihr Lebenswerk?<br />

❙ Eine erfüllte Ehe. Söhne, die zu tollen, fühlenden Menschen<br />

heranwuchsen, die eine glückliche Hand in der Wahl<br />

ihrer Ehepartner bewiesen und ihrerseits wunderbare Familien<br />

gründeten. Und auch, dass es mir vergönnt war, als gebender<br />

Teil etliche jüdische wie auch nichtjüdische Organisationen<br />

mitgestalten zu dürfen.<br />

42 wına| Juli_August 2019


„Sobald es einem<br />

wirtschaftlich besser geht,<br />

hat man das Gefühl,<br />

durch Teilen mehr<br />

zu verlieren.“<br />

wına-magazin.at<br />

43


NAHOSTKONFLIKT<br />

Angela Scharf: „… Frauen bei Konfliktlösungen in die Entscheidungsprozesse einbeziehen“.<br />

Frauen<br />

machen Frieden<br />

Angela Scharf: Eine Ex-Wienerin an der Friedensfront.<br />

Nicht der Streit steht im Vordergrund, sondern die<br />

Initiative für eine nachhaltige Lösung<br />

Text: Marta S. Halpert, Foto: Reinhard Engel<br />

Die Sonne brennt auf die weißen<br />

Quader vor dem Habima<br />

Plaza. Jeder Zentimeter Stoff<br />

wiegt zu viel, aber Angela Scharf lässt<br />

es sich nicht nehmen: Über die luftige<br />

weiße Bluse schwingt sie einen türkisen,<br />

langen Baumwollschal und knotet<br />

ihn vorne zusammen. „An diesem Schal<br />

ist unsere Gruppe erkennbar, das ist unser<br />

Alleinstellungsmerkmal“, lacht Scharf<br />

und meint nicht ihre Firma, sondern die<br />

Initiative Women Wage Peace – Frauen machen<br />

Frieden. Seit zwei Jahren engagiert<br />

sie sich für die größte Basisbewegung Israels,<br />

getragen von rund 45.000 Frauen<br />

aus allen sozialen, religiösen und ethnischen<br />

Schichten im ganzen Land.<br />

Die NGO wurde 2014 als Reaktion<br />

auf die Operation Protective Edge gegründet.<br />

Es handelte sich um die Militäraktion<br />

als Antwort auf anhaltenden Raketenbeschuss<br />

Israels durch die Hamas und<br />

andere militante palästinensische Gruppen<br />

aus dem Gazastreifen und endete am<br />

26. August 2014 mit einer unbefristeten<br />

Waffenruhe. „Die Frauen sagten: ‚Genug<br />

ist genug. Wir wollen unsere Söhne<br />

nicht mehr in den Krieg schicken‘ “, weiß<br />

Scharf. „Am Anfang waren das etwa<br />

zwanzig Frauen, dann ein paar Hundert,<br />

2015 schon Tausende. Der Frauenanteil<br />

beträgt rund 80 Prozent, inzwischen machen<br />

auch Männer mit.“<br />

Das Besondere an dieser Friedensinitiative<br />

ist, dass keine Festlegung auf ein<br />

Modell betrieben wird: Es geht nicht um<br />

Zustimmung zu einer Ein- oder Zweistaatenlösung<br />

– und daher kommen die<br />

Unterstützerinnen aus dem linken, rechten,<br />

religiösen und säkularen Lager ebenso<br />

wie aus dem Kreis der israelischen Araber,<br />

Drusen und Beduinen. Beim March<br />

of Hope 2016 machten auch 3.000 Palästinenserinnen<br />

aus dem Westjordanland<br />

mit, für die Mahmud Abbas sogar Busse<br />

organisiert hatte. „Das Ziel heißt, einen<br />

neuen Weg zu finden, damit die Regierungen<br />

sich hinsetzen und über Frieden<br />

reden.“ Der zweite Schwerpunkt der Bewegung<br />

ist es, Frauen bei Konfliktlösungen<br />

in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen.<br />

Da beruft sich WWP auf die<br />

Umsetzung der UNO-Resolution 1325,<br />

die bereits im Jahr 2000 einstimmig vom<br />

UN-Sicherheitsrat verabschiedet wurde.<br />

Darin wurden die Mitgliedsstaaten der<br />

UNO erstmals dazu aufgerufen, Frauen<br />

gleichberechtigt in Friedensverhandlungen<br />

und Konfliktschlichtung einzubeziehen.<br />

44 wına| Juli_August 2019


WEIBLICHE FRIEDENSINITIATIVE<br />

„DieUnterstützerinnen<br />

kommen<br />

aus dem linken,<br />

rechten,religiösen<br />

und säkularen Lager<br />

ebenso wie aus dem<br />

Kreis der israelischenAraber,DrusenundBeduinen.“<br />

Angela Scharf<br />

Scharfs unternehmerische Tätigkeit war<br />

bereits zur Routine geworden, daher suchte<br />

sie nach einer zusätzlichen Herausforderung.<br />

„Ich war immer schon politisch sehr<br />

interessiert, und die Ideen dieser Gruppierung<br />

haben mich am ehesten angesprochen“,<br />

erzählt die Wienerin, die im Gymnasium<br />

Kundmanngasse im dritten Bezirk<br />

maturierte. Dass sie mit 18 Jahren nach Israel<br />

auswanderte, verdankte sie zwei Umständen:<br />

Erstens ging sie einer religiösen<br />

Freundin zuliebe in die Bnei Akiba. „Religiös<br />

wurde ich dort nicht, aber dafür stark<br />

zionistisch geprägt.“ Zweitens überredete<br />

sie die widerwilligen Eltern, sie doch gehen<br />

zu lassen, mit der wahrscheinlicheren Aussicht<br />

auf einen jüdischen Lebenspartner.<br />

Schon beim Studium der Politikwissenschaften,<br />

Nahoststudien und Arabisch<br />

an der Hebräischen Universität in Jerusalem<br />

dachte sie an eine Zukunft mit politischem<br />

Einschlag. „Ich wollte die neue<br />

Golda Meir werden“, schmunzelt Scharf.<br />

Während des Studiums jobbte sie im Jerusalemer<br />

ORF-Büro beim legendären Hans<br />

Benedict. Berufspolitikerin wurde sie nicht,<br />

aber wenigstens die Eltern konnte sie beruhigen:<br />

Angela heiratete einen französischen<br />

Studienkollegen, der in der Folge als<br />

Diplomat in Tel Aviv arbeitete.<br />

„Mein erstes Geld verdiente ich bei einer<br />

Firma, die Stoffe importierte, um dann<br />

fertige Kleidung nach Deutschland zu exportierten.<br />

Sie hatten mich vor allem wegen<br />

meiner Deutschkenntnisse angestellt“,<br />

erzählt die zierliche Mutter zweier erwachsener<br />

Kinder. „Dann haben sie mich einmal<br />

zur Frankfurter Messe mitgenommen und<br />

gesehen, dass ich gut mit Menschen umgehen<br />

kann. Sie steckten mich in den Verkauf,<br />

und ich stieg bis zur Import-Chefin auf.“<br />

Fünf Jahre arbeitete Angela dort, dann begann<br />

sie als selbstständige Handelsagentin,<br />

Stoffe aus Österreich, Italien, Deutschland<br />

und Frankreich nach Israel zu importieren.<br />

Mit der Versetzung ihres Mannes an die<br />

Botschaft in Südkorea erfolgte eine neuerliche<br />

Zäsur in Scharfs Leben. Für die<br />

eingeführte Agentur in Israel gewann sie<br />

ihre Bnei-Akiba-Freundin Paula Basch als<br />

Partnerin, die ab 1990 die Geschäfte in Israel<br />

weiterführte. Sie selbst begann, Stoffe<br />

von Seoul aus nach Israel zu importieren.<br />

Ab 1991 betreute die zweite Bnei-Akibaund<br />

Jugendfreundin Eva Kulcsar den österreichischen<br />

und ungarischen Markt. „Ich<br />

habe in rund zehn Staaten Subagenten aufgebaut,<br />

angefangen von Holland über Griechenland<br />

bis Italien, und wäre gerne mit<br />

meinem Mann von Südkorea nach Hongkong<br />

oder Vietnam gezogen“, berichtet sie.<br />

„Doch wir mussten auf Posten nach Köln.<br />

Das hat mich ziemlich deprimiert, denn ich<br />

bin nicht aus Österreich weggegangen, um<br />

in Deutschland zu landen.“ Ihre Arbeit in<br />

Korea hatte sich darauf konzentriert, Stofflieferanten<br />

zu finden und die Waren überprüft<br />

an die verschiedenen Vertretungen zu<br />

versenden. Damit war es jetzt vorbei, doch<br />

Angela Scharf begann von Köln aus, ihren<br />

Kundenstock in Deutschland und der Türkei<br />

aufzubauen, und nützte weiterhin ihre<br />

Kontakte in Asien.<br />

Women Wage Peace. Ab 1998 lebte die<br />

ganze Familie in Brüssel, von da aus konnte<br />

Scharf weiter ihren Markt in Deutschland<br />

betreuen. „Für die Kinder war Brüssel ein<br />

guter Ort, sie besuchten zuerst die jüdische<br />

Schule und danach die europäische. Aber<br />

mein Traum war es, nach Israel zurückzukehren.“<br />

Seit drei Jahren lebt Angela – inzwischen<br />

geschieden – wieder in Tel Aviv<br />

und beliefert noch immer ihre Textil-Grossisten<br />

in Deutschland. „Die israelische Politik<br />

habe ich von überall mit großem Interesse<br />

verfolgt. Als ich dann wieder hier<br />

war, ging ich zu Konferenzen und Vorträgen,<br />

darunter einmal über das Thema Demokratie<br />

in Israel. Dort lernte ich eine AktivistinvonWomen<br />

Wage Peace kennen,und<br />

seit zwei Jahren bin ich voll dabei.“<br />

Heute gehört Scharf zu den einhundert<br />

Frauen, die sich regelmäßig zur Strategiebesprechung<br />

zusammenfinden, um die<br />

vielfältigen Aktivitäten gezielt zu planen.<br />

Das Vorbild der Gruppe ist die Bürgerrechtlerin<br />

und Politikerin Leymah Roberta<br />

Gbowee aus Liberia, die 2011 den Friedensnobelpreis<br />

verliehen bekommen hat.<br />

„Im Bürgerkrieg zwischen Christen und<br />

Muslimen hat der Frauenprotest u. a. auch<br />

mit Sitzstreiks den Konflikt beendet. Natürlich<br />

passen wir uns in Israel an unsere Situation<br />

an“, erzählt Scharf. „Hier begannen<br />

wir 2014 mit einem Friedensmarsch in das<br />

ständig bedrohte Sderot; 2015, am ersten<br />

Jahrestag des Gaza-Krieges, errichteten wir<br />

ein Zelt vor der Residenz des Premierministers:<br />

Dort fasteten hunderte Frauen 50<br />

Tage lang, und Tausende kamen dorthin,<br />

um ihre Solidarität zu bekunden.“<br />

Friedensmärsche durch das ganze Land<br />

und plakative Aktionen dieser Art wären<br />

aber zu wenig, um das Establishment aufzurütteln.<br />

„Wir haben professionelle Gruppierungen,<br />

die das Gespräch mit Diplomaten<br />

und Politikern im In- und Ausland<br />

suchen, um echte Bewegung in die festgefahrene<br />

Situation zu bringen. Und unter<br />

dem Titel Sayeret (Aufklärungstruppe)<br />

gehen wir zu Wahlauftritten von Politikern<br />

und konfrontieren diese mit Fragen nach<br />

ihren Friedensinitiativen. Ich war z. B. bei<br />

Benny Gantz von Blau-Weiß und auch bei<br />

Naftali Bennett. Wir informieren die anderen<br />

Frauen über das Gesagte oder Versprochene,<br />

und bei der nächsten Gelegenheit<br />

werden diese Politiker erneut zur Rede<br />

gestellt.“<br />

Individuelle Gespräche mit Knesset-<br />

Abgeordneten gehören ebenso zum wöchentlichen<br />

Geschäft von Frauen machen<br />

Frieden wie das Friedenszelt vor der<br />

Knesset: Da kommen die Frauen mit ihren<br />

weißen Blusen und türkisen Schals<br />

seit eineinhalb Jahren – während der Sitzungsperioden<br />

– jeden Montag hin, um<br />

alle Menschen, die hier ein- und ausgehen,<br />

von ihrem Projekt zu überzeugen. Derzeit<br />

hat WWP einen konkreten Gesetzesvorschlag<br />

ausgearbeitet und hofft, diesen<br />

durchzubringen. „Mit dem Gesetz Political<br />

Alternatives First möchten wir bewirken,<br />

dass jede Regierung nur dann in den<br />

Krieg ziehen kann, wenn sie vorher bewiesen<br />

hat, dass sie bereits auf politischer<br />

Ebene alles unternommen hat, um diesen<br />

zu vermeiden.“<br />

Ist es nicht schwer, die Menschen für<br />

die Friedensinitiative zu begeistern? Man<br />

scheint sich im Status quo doch irgendwie<br />

eingerichtet zu haben? „Ja, das Gefühl,<br />

dass man nichts machen kann, ist deprimierend“,<br />

konzediert die Aktivistin. „Aber<br />

wenn man in dieser Gruppe ist, bekommt<br />

man gegenseitig so viel Kraft und positive<br />

Energie. Das ist unwahrscheinlich aufbauend.“<br />

Einmal im Monat stehen an ca. 100<br />

Standorten in ganz Israel WWP-Frauen<br />

an Verkehrskreuzungen und halten Poster<br />

mit Aufschriften wie „Geht/Fahrt in Frieden“.<br />

„Ich wohne in Ramat Aviv, da habe<br />

ich mir eine Kreuzung ausgesucht, und da<br />

stehe ich dann fast zwei Stunden.“ <br />

wına-magazin.at<br />

45


ARUM<br />

WIEN<br />

Fotos und Redaktion:<br />

Ronnie Niedermeyer<br />

E<br />

igentlich ging es um Geschäftliches, als<br />

ich im November 2008 ein verlängertes<br />

Wochenende in Wien verbrachte.<br />

Aus dem Geschäft wurde zu diesem Zeitpunkt<br />

nichts – meine Schokoladenkreationen fanden<br />

an diesen Tagen nicht die erhoffte Bewunderung<br />

–, dafür hatte ich aber auf der persönlichen<br />

Ebene einen viel größeren Erfolg: An diesem<br />

Schabbat lernte ich meine zukünftige Frau<br />

kennen. Nach der Hochzeit 2009 in Wien verbrachten<br />

wir ein Jahr in London. Doch meine<br />

Frau, eine waschechte Wienerin, zog es in ihre<br />

Heimatstadt zurück – und so durfte auch ich die<br />

kleine Wiener Gemeinde rasch besser kennen<br />

und schätzen lernen. Gerade weil diese im Vergleich<br />

zu den Gemeinden manch anderer europäischen<br />

Stadt nicht so groß ist, zeichnet sie sich<br />

umso mehr durch ihre Vielseitigkeit aus. Der<br />

Abwechslung wegen statte ich jeden Schabbat<br />

einer anderen Synagoge einen Besuch ab – ob<br />

chassidisch, sephardisch, bucharisch oder grusinisch,<br />

überall wurde ich mit offenen Armen<br />

empfangen. Dieser unglaubliche Zusammenhalt<br />

innerhalb der Gemeinde ist eine besondere<br />

Eigenschaft von Wien. Und bei einer so tollen<br />

Infrastruktur mit koscheren Geschäften und<br />

Restaurants sowie jüdischen Schulen ist das<br />

Leben in Wien einfach lebenswert. 2011 übernahm<br />

ich eine alte Backstube im 3. Gemeindebezirk<br />

und lieferte anfangs jedes einzelne Brot<br />

mit dem Fahrrad. Da sich den ursprünglichen<br />

französischen Namen meines Unternehmens<br />

niemand merken konnte, hieß es einfach: „Bestelle<br />

beim Shneor.“ Somit fiel der Entschluss,<br />

den Firmennamen auf „Shneor’s“ zu ändern<br />

und dank des Erfolges auch in eine moderne<br />

Backstube im 2. Bezirk zu investieren. Die<br />

unermüdliche Hilfe meiner Frau spielte beim<br />

Aufbau des Geschäftes eine zentrale Rolle;<br />

heute kümmert sie sich um die Betreuung unserer<br />

Kunden. Inzwischen steht schon ein größeres<br />

Projekt im Raum – vielleicht wäre es inzwischen<br />

also doch lohnend, sich den Namen<br />

„Shneor’s“ zu merken …<br />

TIPP:VonderkleinenfamiliärenRundeüberdie<br />

Firmenbesprechung bis zur großen Hochzeit – hier<br />

werden echte Handarbeit und natürliche Zutaten<br />

noch großgeschrieben. Fingerfood, handgemachte<br />

MacronsundTortenallerArtsowieBiosauerteigbrotgehörenzuunseremStandardsortiment.<br />

46 wına| Juli_August 2019<br />

Shneor Zivion:<br />

„In der Wiener<br />

Gemeinde wird<br />

man überall mit<br />

offenen Armen<br />

empfangen.“<br />

SHNEOR ZIVION<br />

wurde 1976 in Ramat Gan<br />

geboren. Nach dem Besuch einer<br />

Jeschiwa in Bnei Brak zog es ihn<br />

ins Ausland – von 1996 bis 1998<br />

machte er in Paris eine Ausbildung<br />

zum Pattisier; danach sammelte<br />

er in Italien, in der Schweiz und in<br />

den USA berufliche Erfahrung. Seit<br />

2010 lebt Shneor Zivion in Wien.<br />

Mit seiner Frau Basya hat er zwei<br />

Kinder (Eli, 8, und Noa, 6).


GENERATION UNVERHOFFT<br />

Die Botschafterin<br />

der Musik<br />

Die Sopranistin Gan-ya Ben-gur Akselrod<br />

hat sich Wien als Basis für ihre Weltkarriere ausgesucht.<br />

Von Anna<br />

Goldenberg<br />

E<br />

igentlich wollte Gan-ya Ben-gur Akselrod<br />

nach Berlin. Das war 2013. Die<br />

heute 32-Jährige hatte damals gerade<br />

ihr Masterstudium abgeschlossen,<br />

Operngesang am Brooklyn College<br />

in New York. Ihr Gesangslehrer riet der gebürtigen<br />

Israelin, nach Europa zu gehen, um dort Arbeit<br />

zu finden. In Berlin lebten viele Israelis, es war<br />

günstig und gab mehrere Opernhäuser. Also zog<br />

Gan-ya hin.<br />

Für einen Gesangswettbewerb kam sie bald darauf<br />

nach Wien. Dort entdeckte sie der Castingdirektor<br />

des Theater an der Wien und bot ihr einen<br />

Platz im Ensemble an. „Er hat mich nach Wien gebracht,<br />

und dafür bin ich ihm für immer dankbar“,<br />

„Wäre Wien ein Mann, ich würde ihn heiraten.“<br />

Gan-ya Ben-gur Akselrod<br />

als „Lauretta“ in Giacomo<br />

Puccinis Oper Gianni<br />

Schicchi, 2017 in China.<br />

sagt Gan-ya. Das erzählt sie allerdings am Telefon.<br />

Zurzeit ist sie nämlich gar nicht hier, sondern im<br />

südfranzösischen Aix-en-Provence. Im Juli hat dort<br />

im Rahmen des Festival d’Aix-en-Provence die israelische<br />

Oper Die schlafenden Tausend ihre Weltpremiere,<br />

Gan-ya probt für ihre Rolle.<br />

Nach zwei Jahren am Theater an der Wien ist die<br />

Sopranistin freiberuflich tätig. Sie kommt viel herum,<br />

singt an Opernhäusern, bei Konzerten und auf<br />

Festivals in Frankreich, Deutschland, den USA, Israel<br />

und China. „Mir ist die Freiheit am wichtigsten“,<br />

sagt sie. Nur in ihrem geliebten Wien ist sie<br />

nicht mehr so oft. Umso begeisterter ist sie, dieses<br />

Interview zu geben. Sie wäre gerne Botschafterin<br />

für Wien, sagt sie, und ihre Antworten auf<br />

die Frage, warum ihr die Stadt so gut gefällt, klingen,<br />

als würde sie bereits für die Rolle üben. „Wäre<br />

Wien ein Mann, ich würde ihn heiraten“, sagt sie.<br />

Die Lebensqualität, die Opernhäuser, die Diversität.<br />

„Wenn ich durch die Straßen gehe, bin ich von<br />

der schönen, starken, sicheren Stille beeindruckt.“<br />

Und weiter: „Ich habe Schmetterlinge im Bauch.“<br />

Gan-ya wuchs im Norden von Tel Aviv auf,<br />

spielte als Kind Cello, Klarinette und Klavier, war<br />

Teil von Orchestern und Big Bands. „Irgendetwas<br />

hat nicht geklickt“, sagt sie. „Ich<br />

konnte nicht ausdrücken, was in mir<br />

war.“ Mit 16 Jahren begann sie, in einem<br />

Chor zu singen. „Es war Liebe<br />

auf den ersten Blick. Ich hatte mein Instrument gefunden.“<br />

Während ihres Militärdiensts studierte sie<br />

an der Buchmann-Mehta School of Music der Tel<br />

Aviv University.<br />

Mit Israel sieht sie sich nach wie vor eng verbunden.<br />

„Ich repräsentiere das Land, in dem ich aufwuchs,<br />

und versuche die schönen Dinge zu zeigen,<br />

die nicht in den Nachrichten vorkommen“, sagt sie.<br />

So ist sie eben Botschafterin beider Orte, von Wien<br />

und von Israel. Mit Musik geht das.<br />

© Jacky-Photography<br />

wına-magazin.at<br />

47


KOCHEN. ESSEN. G<br />

LEIDENSCHAFT ESSEN<br />

Einfach zum<br />

Nachkochen<br />

E<br />

in<br />

Plädoyer für Fusionsküche,<br />

die nicht auseinanderzudividieren<br />

ist, die israelische nicht<br />

von der arabischen, die palästinensische<br />

nicht von der Israels. Ofir<br />

Raul Graizer, 1981 in Ra’anana geboren,<br />

lebt seit 2010, seit dem Ende<br />

seines Filmstudiums in Sderot, abwechselnd<br />

in Jerusalem und in Berlin<br />

(wo seine Kochkurse regelmäßig<br />

überbucht sind). Das wahrhaft<br />

Praktische an seinen Rezepten ist<br />

das Praktische. In der Praxis führen<br />

seine Anleitungen für vegetarische<br />

Gerichte – von Burekasim über<br />

Beilagen wie Auberginenstangen zu<br />

Shug, Shakshuka, Matbuche, Lahane<br />

oder Oliven-Käse-Tarte – stets<br />

zum Erfolg, und das auch bei Kocheleven<br />

(der Berichterstatter kann es<br />

bestätigen). Denn Graizer erklärt alles<br />

umstandslos verständlich und so<br />

genussverheißend, dass der Ausgang<br />

(fast) immer positiv ist.<br />

Kulturgut Essen<br />

verbindet<br />

E<br />

ssen<br />

konnte verbinden. Und<br />

trennen. Die zwölf Aufsätze<br />

dieses Bandes, nun als preiswertes<br />

Paperback erhältlich, zeigen dies<br />

von der Renaissance bis in die unmittelbare<br />

Gegenwart auf, von<br />

Mitteleuropa, der Sowjetunion<br />

und Israel bis nach Argentinien<br />

und den Südstaaten der USA. „In<br />

jeder Kultur und in jeder Zivilisation“,<br />

schreibt der italienische<br />

Slow-Food-Gründer Carlo Petrini<br />

in seiner Einleitung, „in jedem<br />

historischen oder geografischen<br />

Kontext dient Essen stets als<br />

Quelle der Identität, der Gemeinschaft<br />

und des Zusammenlebens“.<br />

Natürlich ist da die Rede von Gefilte<br />

Fish, aber auch von gastronomischen<br />

Assonanzen, kulinarischen<br />

Dissonanzen, Resilienz und<br />

Ablehnung und einer Gaumen-<br />

Diaspora. Eine kluge Global-Genuss-Lektüre,<br />

die satt macht.<br />

Gastropromenade<br />

durch Tel Aviv<br />

W<br />

as<br />

vermag kulinarisch<br />

eine Stadt zu versprechen,<br />

die einst, 1908, auf Sand<br />

gebaut wurde, im Sand, umgeben<br />

von noch mehr Sand? Viel. Verspricht<br />

und hält Reuven Rubin,<br />

den das Schicksal traf, in Krefeld<br />

im Rheinland zur Welt zu kommen.<br />

Er korrigierte dieses Ungemach,<br />

indem er nach Beendigung<br />

seines Architekturstudiums 1990<br />

nach Tel Aviv auswanderte. Um<br />

in Tel Aviv schlecht essen zu gehen,<br />

muss man, da hat er Recht,<br />

sich sehr anstrengen (manchen<br />

gelingt es tatsächlich – dafür<br />

übersteht, israelische Gaumen<br />

sind eben anspruchsvoll, nur eines<br />

von 17 Restaurants die ersten<br />

zwölf Monate). Seine Gastropromenade<br />

beginnt er im Norden<br />

und endet am Levinsky Market<br />

und am südlichen Ende der<br />

Stadt. Feine Tipps, schöne Hinweise<br />

und noch schönere Fotografien<br />

des in Wien lebenden Arnold<br />

Pöschl.<br />

Ofir Raul Graizer:<br />

Ofirs Küche.<br />

Israelisch-palästinensische<br />

Familienrezepte.<br />

Insel Verlag,<br />

240 S., 25,70 Euro<br />

Hasia Diner &<br />

Simone Ciotto (Hg.):<br />

Global Jewish Foodways.<br />

University of<br />

Nebraska Press,<br />

356 S., 29 Euro<br />

Reuven Rubin:<br />

Tel Aviv.<br />

Die Kultrezepte.<br />

Christian Verlag,<br />

240 S., 34 Euro<br />

© Illustration: Ella CW<br />

48 wına| Juli_August 2019


BÜCHER REZEPTE<br />

ENIESSEN.<br />

Von Familienrezepten und der Geschmacksdiaspora,<br />

von Fusionen und kulinarischen<br />

Assonanzen, Dissonanzen, Entwicklungen<br />

und Globalgeschichten. Neue Kochbücher<br />

zeigen viele Facetten auf. Und haben noch<br />

mehr zu erzählen. Von Alexander Kluy<br />

Experimentierfreudige<br />

Levante<br />

E<br />

xperimentierfreudig.<br />

Dieses<br />

etwas, pardon, abgenudelte<br />

Klischeewort ist wohl bei vielen<br />

die erste Assoziation, geht es um<br />

Küche aus der Levante. Dabei<br />

steht bei der Vielländerküche aus<br />

Israel, Jordanien, dem Libanon<br />

oder Syrien (zumindest in den<br />

Jahren vor dem Bürgerkrieg) stärker<br />

die Frische im Vordergrund,<br />

Kräuter und raffinierte Gewürzmischungen.Mehr<br />

als einhundert<br />

Rezepte, von feinen Mezze<br />

zu hippem Street Food, von strikt<br />

vegetarisch bis magentratzend<br />

übersüß, ansprechend präsentiert<br />

in zehn Menüfolgen, offeriert<br />

Tanja Dusy, eine fleißige Autorin<br />

und Rezeptesammlerin, die bereits<br />

über indische, französische<br />

und japanische Cuisine schrieb,<br />

in ihrem ansprechend illustrierten<br />

Kochbuch. Das nächste Mezze-<br />

Buffet kann kommen! Her mit<br />

den vielen Mezze!<br />

Die ultimative<br />

Hitliste<br />

H<br />

itlisten,<br />

oy. Eine jede Hitliste<br />

hat es in sich, sei sie<br />

nun extrasubjektiv eingefärbt, sei<br />

sie kommerziell handgreiflich<br />

unterfüttert und motiviert. Was<br />

also, wenn einem Alana Newhouses<br />

Listenbuch The 100 Most<br />

Jewish Foods in die Hände fällt?<br />

Newhouse ist Redakteurin des<br />

Tablet Magazine, jener Onlinerevue,<br />

die Jüdisches neu aufziehen<br />

will. Einer der ersten Buchsätze<br />

ist ein exkulpatorischer – der den<br />

Titel verwirft. Doch dann wird<br />

es schlagartig besser. Die vielen<br />

Einträge aus der Feder vieler<br />

Beiträgerinnen und Schreiber,<br />

changierend zwischen anekdotisch<br />

und sehr anekdotisch, sind<br />

leicht zu lesen, durchaus amüsant,<br />

manchmal mit Aha-Effekt<br />

versehen. Und lassen Platz<br />

für das eigene Urteil. Und die eigenen<br />

„hidden champions“, die<br />

man vermisst.<br />

Über die Leidenschaft<br />

des Essens<br />

E<br />

rzählende<br />

Gastroliteratur<br />

über Geschmackentdeckungen,<br />

Familiengeschichte<br />

plus Sozialveränderungshistorie,<br />

das ist hierzulande noch immer<br />

ein Fremdkörper. Im angloamerikanischen<br />

Raum ist das seit<br />

Langem ein Genre. Boris Fishman,<br />

1979 geborener Romancier<br />

(Der Biograf von Brooklyn, Eine<br />

Welt voller Wunder und rein gar<br />

nichts zu befürchten), legt mit Savage<br />

Feast – hoffentlich rasch ins<br />

Deutsche übersetzt – genau so etwas<br />

Opulentes vor, das um Familienmahlzeiten<br />

und Migration<br />

(er emigrierte mit seiner Familie<br />

1988 aus Minsk nach Brooklyn,<br />

New York), autobiografische Miniaturen<br />

und Anekdoten über die<br />

Leidenschaft des Essens und der<br />

Genüsse und 25 Rezepte kreist.<br />

Das Ganze ist hinreißend selbstironisch.<br />

Prosa, die wirklich Lust<br />

auf mehr macht, vor allem darauf,<br />

die Rezepte der Familie Fishman<br />

auszuprobieren.<br />

Tanja Dusy:<br />

Levante. Gemeinsam<br />

orientalisch genießen.<br />

100 Rezepte für opulente<br />

Mezze-Buffets. Edition<br />

Michael Fischer,<br />

160 S., 22,70 Euro<br />

Alana Newhouse (Hg.):<br />

The 100 Most<br />

Jewish Foods.<br />

A Highly Debateable List.<br />

Artisan Books,<br />

256 S., 21 Euro<br />

Boris Fishman:<br />

Savage Feast.<br />

Three Generations,<br />

Two Continents,<br />

and a Dinner Table.<br />

Harper Verlag,<br />

348 S., 18 Euro<br />

wına-magazin.at<br />

49


WINAKOCHT<br />

Warum vermehrt sich das Huhn<br />

in der Suppe, ...<br />

... und was ist dran am und drin im „jüdischen Penicillin“? Die Wiener Küche steckt voller<br />

köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie ab sofort an dieser Stelle. Ob Koch-<br />

Irrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leser fragen, WINA antwortet.<br />

Liebe Kulinarik-Experten,<br />

warum spricht man von „Hühnersuppe“,<br />

wenn die warme Mahlzeit doch meist nur<br />

aus einem Huhn gekocht wird?<br />

<br />

Ilana K. aus 1180 Wien<br />

M<br />

it geflügelten Zutaten ist es tatsächlich<br />

eine merkwürdige Sache. Sobald sie in<br />

den Topf kommen, vermehren sie sich plötzlich:<br />

Aus dem Suppenhuhn wird Hühnersuppe,<br />

aus der Gans ein Gänsebraten ... Natürlich<br />

findet dieses Wunder der Pluralisierung<br />

aber nur sprachlich statt. Weshalb, das erklärt<br />

uns der Duden leider nicht. Der Sprachhüter<br />

stellt aber klar, dass es grammatikalisch korrekt<br />

ist – zum Beispiel bei der Speisekartenformulierung.<br />

Steht auf dem Menü im Beisl<br />

also zum Beispiel „Salat mit Hühnerbrust“, so<br />

handelt es sich auch dann nicht um irreführende<br />

Werbung, wenn man nur das Fleisch eines<br />

Federviehs serviert bekommt.<br />

Werte WINA-Redaktion,<br />

ich habe mich im Freibad erkältet. Hühnersuppe,<br />

auch „jüdisches Penicillin“ genannt, soll<br />

da angeblich helfen. Ist an der ihr zugesprochenen<br />

Heilwirkung tatsächlich etwas dran?<br />

<br />

Johannes S. aus 1140 Wien<br />

Die wohltuende Wirkung von Hühnersuppe<br />

wurde schon im Altertum beschrieben:<br />

Hebammen empfahlen sie den Wöchnerinnen<br />

als Stärkungsmittel. Heute weiß man<br />

dank Forschungen aus Japan, dass Hühnersuppe<br />

blutdrucksenkend wirkt – wenn man auch die<br />

Hühnerfüße mitkocht. Denn diese enthalten<br />

ein Kollagen-Hydrolysat, einen natürlichen<br />

Blutdrucksenker ohne Nebenwirkungen.<br />

Weit größerer Beliebtheit und Bekanntheit<br />

erfreut sich die Hühnersuppe aber als Hausmittel<br />

bei Erkältungen und grippalen Infekten.<br />

Bislang existieren jedoch keine aussagekräftigen<br />

wissenschaftlichen Studien, die die Heilwirkung<br />

von Hühnersuppe bei Schnupfen und<br />

Co. tatsächlich bestätigen.<br />

So hat Dr. Stephen Rennard, Lungenspezialist<br />

an der Universität Nebraska, zwar heraus-<br />

50 wına| Juli_August 2019<br />

GEFÜLLTE<br />

MAZZEKNÖDEL<br />

ZUTATEN FÜR 12 KNÖDEL:<br />

4 große Eier<br />

3 EL Pflanzenöl<br />

120 g Mazzemehl*<br />

1 TL grobes Salz<br />

75 ml Sodawasser<br />

ZUTATEN FÜR DIE FÜLLUNG:<br />

1 EL Pflanzenöl<br />

1 gehackte Zwiebel<br />

1 gehackter Stangensellerie<br />

½ Bund gehackte Petersilie<br />

1 gehackte Knoblauchzehe<br />

100 g gekochtes, gehacktes<br />

Huhn, 1 großes Ei, nach Geschmack<br />

Salbei, Salz, Muskatnuss<br />

und Pfeffer<br />

ZUBEREITUNG:<br />

Eier und Öl in einer großen<br />

Schüssel verrühren. Mazzemehl,<br />

Salz und Soda zugeben<br />

und Teig gut durchmischen.<br />

Schüssel abdecken und für<br />

mindestens eine Stunde in den<br />

Kühlschrank stellen. Für die Füllung<br />

Zwiebeln und Sellerie in Öl<br />

andünsten, Knoblauch und Petersilie<br />

zugeben. Gemüse mit<br />

dem Huhn, Ei und den Gewürzen<br />

im Mixer zu einer groben<br />

Paste verarbeiten und für mindestens<br />

eine Stunde in den<br />

Kühlschrank stellen. Den Knödelteig<br />

mit feuchten Händen zu<br />

zwölf Knödeln rollen, je ein tiefes<br />

Loch eindrücken und dieses<br />

mit einem Esslöffel Füllung füllen.<br />

Knödel verschließen. Knödel<br />

in kochendem Salzwasser<br />

für ca. 30 Minuten kochen.<br />

*ungesalzen<br />

gefunden, dass zu Beginn einer Erkältung zu<br />

viele weiße Blutzellen in die Nasenschleimhäute<br />

transportiert werden – was sich in seinen Versuchen<br />

durch den Genuss von Hühnersuppe messbar<br />

reduzieren ließ. Doch welcher Stoff genau<br />

dafür verantwortlich ist, dass die Schleimhäute<br />

wieder abschwellen, blieb auch Dr. Rennard ein<br />

Rätsel. Zumal es durchaus möglich ist, dass der<br />

Effekt schlicht auf den Dampf zurückzuführen<br />

ist, den man beim Löffeln der heißen Suppe<br />

einatmet. Dann täte jedoch auch jedes andere<br />

Heißgetränk der verstopften Nase gut. Zumal<br />

es bei Erkältung besonders wichtig ist, den Körper<br />

mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen.<br />

Aber fördern nicht die ganzen guten mitgekochten<br />

Sachen in der Suppe die Genesung?<br />

Fakt ist: In der Hühnersuppe sind Vitamine,<br />

Eisen, Zink und andere Stoffe zu finden. Es<br />

gibt aber bislang keine Untersuchungen, die<br />

belegen, dass etwa Vitamine bei einem Infekt<br />

wirklich einen Benefit haben. Und die entzündungshemmende<br />

Wirkung der Suppe auf den<br />

menschlichen Körper ist bis heute auch nur<br />

eine vermutete.<br />

Vertreter der traditionellen chinesischen<br />

Medizin empfehlen Hühnersuppe übrigens<br />

nur zur Vorbeugung oder wenn der Erkrankte<br />

schon auf dem Weg der Besserung ist, nicht<br />

aber während der Erkältung. Die Suppe wirke<br />

nämlich nicht nur auf den Kranken, sondern<br />

auch auf den Keim stärkend, der sich dadurch<br />

länger im Körper halte, so die Experten.<br />

Immerhin: Nicht abstreiten kann man, dass<br />

Hühnersuppe so etwas wie eine „Gefühlte<br />

Wirkung“ hat. Bekommt man sie nämlich<br />

von einer sich liebevoll sorgenden Person gekocht<br />

und serviert, fördert dies das Wohlbefinden<br />

ungemein. Erst recht, wenn sie auch noch<br />

mit einem gefüllten Mazzeknödel (siehe Rezept)<br />

kredenzt wird.<br />

Was ist also das Fazit? Sagen wir’s einmal so:<br />

Ohne Suppe dauert die Erkältung sieben Tage,<br />

mit Suppe ganz sicher nur eine Woche!<br />

Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle<br />

Fragen haben, schicken Sie sie bitte an<br />

office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />

© 123RF


MATOK & MAROR<br />

Lunchen mit Geschichte<br />

claro; ist ein feines mediterranes Restaurant im Tel Aviver Stadtteil Sarona, in<br />

einem Gebäude, das seine Gäste quer durch die israelische Historie führt.<br />

Auf den ersten Blick wirkt der<br />

große, helle Raum wie eine ehemalige<br />

Markthalle. Die steinernen<br />

Mauern wurden unverputzt belassen, durch<br />

große Fenster fällt viel Licht herein, Kellnerinnen<br />

und Kellner wuseln zwischen der<br />

offenen Küche und den rohen Holztischen<br />

hin und her. Außen duckt sich der dicht<br />

grün verwachsene Bau in die südwestliche<br />

Ecke des heutigen Ausgehviertels Sarona,<br />

schon fast an die modernen Wohntürme<br />

gelehnt.<br />

Wer hierher zum Essen kommt, erhält<br />

einen Schnelldurchgang israelischer Geschichte,<br />

bereitwillig erzählt vom Personal<br />

am Beispiel des Baus. Errichtet wurde er<br />

1886, noch im von Deutschen gegründeten<br />

Dorf, und damals gehörte das Haus zur örtlichen<br />

Weinkooperative. Im heutigen Speisesaal<br />

wurden die Fässer erzeugt. Ab 1925<br />

destillierten hier die bekannten Weinproduzenten<br />

Segal und Teperberg Hochprozentiges.<br />

1930 schaffte die Firma Rekord<br />

eine deutsche Druckerpresse an, und diese<br />

Branche sollte noch später eine Rolle spielen.<br />

Während des Zweiten Weltkriegs war<br />

hier das Britische Oberkommando untergebracht,<br />

ehe in den späten 40er-Jahren erst<br />

israelische Briefmarken gedruckt wurden,<br />

später überhaupt die Druckerei der Regierung<br />

ihre Arbeit aufnahm. Ab 1950 hatte in<br />

dem Gebäude die israelische Nationalbank<br />

ihren Sitz. Und schließlich arbeiteten von<br />

1963 an Agenten und Beamte des Mossad<br />

in den historischen Mauern.<br />

Seit 2014 darf man hier genießen, und<br />

das ist nicht wirklich schwer. Unter der Leitung<br />

des Küchenchefs Ran Shmueli hat<br />

sich claro; zu einem der beliebtesten Restaurants<br />

der Stadt hinaufgearbeitet, und an<br />

Konkurrenz fehlt es in Tel Aviv nicht gerade.<br />

Beginnen kann man mit rohen lokalen<br />

Fischen, etwa in der Kombination mit<br />

Tomatensauce, Taboule und Joghurt (NIS<br />

Wer hierher zum<br />

Essen kommt, erhält<br />

einen Schnelldurchgang<br />

israelischer<br />

Geschichte,bereitwillig<br />

erzählt vom<br />

Personal am Beispiel<br />

des Baus.<br />

Ceviche,<br />

angerichtet mit<br />

Wassermelone,<br />

Schalotten, scharfem<br />

Pfefferoni und<br />

Labane.<br />

WINATIPP<br />

claro;<br />

HaArba’a St #23, Ecke Rav Aluf<br />

David Elazar 30, Tel Aviv<br />

Tel.: +972/(0)3/601 77 77<br />

clarotlv.com<br />

68) oder als Ceviche, angerichtet mit Wassermelone,<br />

Schalotten, scharfem Pfefferoni<br />

und Labane (NIS 54). Wer sich nicht für<br />

Fisch interessiert, findet kreativ gemixte<br />

Salate der Saison, etwa mit eingelegten<br />

Zwiebeln und Schafkäse (NIS 58).<br />

Die Hauptgerichte haben ebenfalls einen<br />

Fischschwerpunkt, etwa geräucherte<br />

Forelle aus dem Fluss Dan mit Kartoffelsalat,<br />

grünen Bohnen und Krensauce (NIS<br />

98) oder gegrilltes Fischfilet mit geröstetem<br />

Kukuruz und türkischem Spinat<br />

(NIS 142). Für Fleischesser<br />

gibt es Lammrippen<br />

mit eingelegten Zitronen<br />

(NIS 138) oder<br />

klassischen Hamburger<br />

mit selbst erzeugter<br />

Barbecue-Sauce<br />

und eingelegtem saurem<br />

Gemüse (NIS 88).<br />

Am günstigsten isst<br />

man zu Mittag, da zahlt der<br />

Kunde für den Business Lunch<br />

den jeweiligen Preis des Hauptgerichts,<br />

bekommt aber eine Vorspeise und<br />

ein alkoholfreies Getränk dazu.<br />

Die Weinkarte ist umfangreich, allerdings<br />

wie überall in Israel nicht gerade<br />

günstig.<br />

Unter dem Speisesaal bietet LeMata,<br />

eine Lounge-Bar für Events, Firmenfeiern<br />

oder Hochzeiten, Raum für bis zu 200<br />

Personen. Wer dort Party feiert, kann noch<br />

den einstigen Tresor der Nationalbank besichtigen.<br />

Paprikasch<br />

© Reinhard Engel, claro;<br />

wına-magazin.at<br />

51


HIGHLIGHTS | 03<br />

Fotografiert,<br />

um zu zeigen<br />

Das Museum Ludwig in Köln ehrt den<br />

Fotografen Benjamin Katz zu seinem<br />

80. Geburtstag.<br />

Ohne ihn, Benjamin Katz mit dem Finger<br />

auf dem Auslöser, wäre vieles des<br />

Kunst-, Künstlerinnen- und Künstlerbetriebs<br />

im Westdeutschland der 1970erund<br />

1980er-Jahre vergessen worden. Er<br />

hielt es fest. Mit der Kamera. Er begleitete<br />

als so dezenter wie diskreter Bilddokumentarist<br />

Georg Baselitz und Rosemarie<br />

Trockel, James Lee Byars, A. R.<br />

Penck oder auch Cindy Sherman. Am 14.<br />

Juni 1939 kam er, Sohn aus Berlin geflüchteter<br />

Juden, in Amsterdam zur Welt.<br />

Das Museum Ludwig in Köln am Rhein<br />

ehrt ihn nun mit der erstmals überhaupt<br />

vollständigen Ausstellung<br />

seiner Fotoreihe Berlin Havelhöhe.<br />

Die Schwarzweißserie<br />

ist gewaltig. Sie besteht<br />

aus 41 in drei unterschiedlichen<br />

Größen abgezogenen<br />

Motiven und aus 318 Vintage-Prints<br />

im DIN-A4-Format.<br />

Was so idyllisch klingt,<br />

hat einen bedrohlichen Hintergrund.<br />

Katz dokumentierte<br />

die achtzehn Monate,<br />

die er, an Tuberkulose erkrankt,<br />

in dieser Heilanstalt 1960/61<br />

verbrachte. Ein junger Mann mit hellwachem,<br />

scharfem Blick. A.K.<br />

DAZWISCHENDASEIN<br />

Jüdisches Leben zwischen Czernowitz, Wien<br />

und Montevideo: Jüdische Familiengeschichten<br />

sind meist durch Vertreibung, Flucht und<br />

Exil geprägt. Pablo Rudich stellt aus mikrohistorischer<br />

Perspektive die Frage, was eine Biografie<br />

leisten kann. mandelbaum.at<br />

Benjamin Katz:<br />

Berlin Havelhöhe,<br />

1960/1961,<br />

Bis 22. September<br />

museum-ludwig.de<br />

Annabeth Rosen:<br />

Talley, 2011.<br />

Bis 19. Jänner 2020<br />

thecjm.org<br />

Gebrannt,<br />

um zu bleiben<br />

Die erste Werkretrospektive der<br />

Keramikerin Annabeth Rosen in<br />

San Francisco<br />

Ja, was ist das nur? Sind das nun recht<br />

lieb aussehende fremde Wesen aus<br />

entfernten Galaxien? Und was ist das<br />

übermannshoch Aufgetürmte, ein Nest<br />

aus Steinen und Eiern eines gentechnisch<br />

veränderten Riesenhasen? Und<br />

Boogaloo, was ist das nun wieder? Eine<br />

Katastrophe, aus dem Brennofen herausgekratzt,<br />

und ein stolzes Desaster?<br />

Nein. Ganz und gar nicht. Oder anders<br />

ausgedrückt: All das sind Arbeiten der in<br />

Nordkalifornien lebenden Annabeth Rosen.<br />

Die Keramikerin verließ rasch den<br />

konventionellen, weidlich ausgetretenen<br />

Weg. Sie schafft Skulpturen<br />

aus Keramik, aus vielen lustigen<br />

kleinen Teilen. Die überaus<br />

passend, da sehr ironisch<br />

benannte One-Woman-Schau<br />

Annabeth Rosen: Fired, Broken,<br />

Gathered, Heaped, also:<br />

erhitzt, zerbrochen, zusammengesammelt,<br />

gehäufelt,<br />

im Contemporary Jewish Museum<br />

in San Francisco bietet<br />

die Gelegenheit, ihr formal<br />

überbordend verspieltes<br />

Werk der letzten zwanzig Jahre zum ersten<br />

Mal nahezu umfassend zu sehen<br />

und zu erleben. A.K.<br />

MUSIKTIPPS<br />

INBAR<br />

Das muss man sich erst einmal<br />

trauen wollen! Der Pianist<br />

Yehuda Inbar, in Haifa geboren<br />

und seit 2015 in London lebend,<br />

wohl vertraut mit dem Klavierrepertoire,<br />

hat ein Faible für zeitgenössische Musik.<br />

Und so bat er Michael Finnissy, Schuberts<br />

Sonate Reliquie zu vollenden. Auf<br />

dem nun erstmals auf CD eingespielten<br />

Programm Schubert/Finnissy/Widmann<br />

(Oehms) kombinierte er subtil Schubert<br />

und Finnisseys Schubert mit Jörg Widmanns<br />

sechs Schubert-Reminiszenzen.<br />

GOLDSCHMIDT<br />

Für eines – außer außergewöhnlicher<br />

Seebühne und Sommerregen<br />

– sind die Bregenzer<br />

Festspiele auch bekannt: für Wiederentdeckungen.<br />

Für Neuaufführungen halb oder<br />

ganz vergessener Werke der Opernliteratur.<br />

So wie dies Beatrice Cenci von Berthold<br />

Goldschmidt (1903–1996) widerfuhr,<br />

einem vor 1933 hochgelobten Komponisten,<br />

der dann im englischen Exil fast vergessen<br />

wurde. Auf DVD und Blu-ray liegt nun<br />

der Mitschnitt der aufregenden Inszenierung<br />

(Regie: Johannes Erath) vor.<br />

STOLTZMAN<br />

Was es alles geben kann?!<br />

Da ist Richard Stoltzman ein<br />

exzellenter und fürs Zusammenspiel<br />

mit Emanuel Ax und Yo-Yo Ma<br />

preisgekrönter Klarinettist. Er spielt auch<br />

in Jazzbands und in Klezmer-Formationen<br />

mit. Und er hat nun mit seiner Frau Mika<br />

auf Palimpsest (Avie) Werke von Bach, Ravel,<br />

Piazolla und John Zorn arrangiert – für<br />

Klarinette und Marimba, das südamerikanische<br />

Vibraphon, das Mika virtuos spielt.<br />

Eine bisher unerhörte diskographische Ergänzung.A.K.<br />

© VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Reproduktion: Rheinisches Bildarchiv Köln; Courtesy of the artist; Anglim Gilbert Gallery, San Francisco, and P.P.O.W, New York<br />

52 wına| Juli_August 2019


AUFBRUCHSTIMMUNG ZUKUNFTSGLAUBE<br />

Evelyn Adunka:<br />

Zionistenkongresse<br />

in Wien.<br />

Der XI. Zionistenkongress<br />

1913 im Musikverein<br />

mit der Gründung<br />

der Hebräischen<br />

Universität und der XIV.<br />

Zionistenkongress<br />

1925 im Konzerthaus.<br />

Edition INW, € 19,90<br />

„Dieses Start-up<br />

war in Wien“<br />

Blau-weiße Fahnen wehten vom<br />

Hauptportal des Musikvereins.<br />

Im Großen Saal fanden hunderte<br />

jüdische Delegierte aus aller Welt<br />

und insgesamt rund 9.000 Besucher zusammen.<br />

Mehrere Tage lang wurde vorgetragen<br />

und debattiert und letztlich die<br />

Gründung einer Hebräischen Universität<br />

als verbindlich angenommen.<br />

106 Jahre später wurde wiederum im<br />

Musikverein, diesmal im kleineren Steinernen<br />

Saal, bei<br />

der hochkarätigen<br />

Buchpräsentation<br />

von<br />

Evelyn Adunkas<br />

Band, erschienen<br />

in der Edition der Illustrierten<br />

Neuen Welt, an dieses historische Ereignis<br />

erinnert.<br />

„Der Start-up der Start-up-Nation<br />

Israel ist die Hebräische Universität in<br />

Jerusalem, und dieses Start-up war in<br />

Wien“, stellte Menahem Ben-Sasson,<br />

Kanzler der Hebräischen Universität Jerusalem,<br />

in seinem Einleitungsvortrag<br />

fest, nachdem auch Botschafterin Talya<br />

Lador-Fresher auf die Bedeutung beider<br />

Wiener Kongresse hingewiesen hatte.<br />

Chaim Weizmann, der spätere erste<br />

Präsident Israels, und Chaim Nachman<br />

Bialik, der bedeutendste hebräische<br />

Dichter der jungen Nation, waren<br />

die prägenden zionistischen Persönlichkeiten<br />

beider Veranstaltungen, zwischen<br />

denen der Erste Weltkrieg und die Eröffnung<br />

der Universität am Mount Scopus<br />

im April 1925 lagen. Aber die Teilnehmer-<br />

und Gästelisten lesen sich insgesamt<br />

wie das Who is Who der jüdischen<br />

Geistesgrößen dieser Zeit. Auch<br />

Franz Kafka schaute 1913 vorbei, sein<br />

gegenüber Max Brod festgehaltener Eindruck,<br />

er sei „wie bei einer gänzlich frem-<br />

Den beiden großen Zionistenkongressen in Wien in<br />

den Jahren 1913 und 1925 und ihren Folgen hat die<br />

Historikerin Evelyn Adunka einen erhellenden<br />

Band gewidmet.<br />

Von Anita Pollak<br />

den Veranstaltung dagesessen“, muss<br />

auf Kafkas persönliche Befindlichkeit<br />

zurückzuführen sein, denn die meisten<br />

Auch bei der eigenen Frauenversammlung<br />

des Kongresses wurden im Beethovensaal<br />

Brüche zwischen Orthodoxie<br />

und verbreiteter Assimilation spürbar. „In<br />

Westeuropa ist meistens die Tatsache, Jüdin<br />

zu sein, ein unbequemer Geburtszufall“,<br />

beklagte etwa die Hauptreferentin,<br />

Johanna Simon Friedberg, was „nichtzionistische<br />

Frauen“ als Angriff empfanden.<br />

Dem Echo der Veranstaltungen in<br />

der jüdischen und nichtjüdischen Presse<br />

„Blau-weiße Fahnen wehten vom Hauptportal des Musikvereins“<br />

Teilnehmer waren nahezu durchgängig<br />

euphorisch, die wenigsten kritisch, denn<br />

allesamt waren sie ja Zionisten aus ganzer<br />

Seele.<br />

Hochgefühle. Diese Aufbruchstimmung,<br />

die Hoffnungen und Hochgefühle,<br />

den Zukunftsglauben der Delegierten<br />

spiegeln die von Adunka zitierten Protokolle<br />

der Sitzungen und der wichtigsten<br />

Reden. Gerade in der ausführlichen<br />

Wiedergabe ergeben sie in ihrer Gesamtheit<br />

ein beeindruckendes Zeitdokument.<br />

Ein „Strom von Licht und Helligkeit“ ,<br />

eine „neue Kraft zum Vorwärtsstreben“<br />

fühlten sie und waren überzeugt, „daß alle<br />

Regierungen und Völker unser Friedenswerk<br />

mit Wohlwollen betrachten“.<br />

In der Debatte über die geplante<br />

Gründung einer Hebräischen Universität<br />

gab es 1913 viele pathetische Befürworter,<br />

aber auch vehemente Gegner,<br />

vor allem von religiöser Seite, was letztlich<br />

darin gipfeln sollte, dass der Tag ihrer<br />

Eröffnung im April 1925 vom orthodoxen<br />

Rabbiner der Schiffschul in Wien<br />

zum Fasttag bestimmt wurde.<br />

geht Adunka in eigenen Kapiteln nach,<br />

ebenso der „Ignorierung oder Wahrnehmung<br />

bei Zeitgenossen der literarischen<br />

Moderne“. Stefan Zweig und Richard<br />

Beer-Hofmann gehörten offenbar zu<br />

diesen Zeitgenossen, wiewohl sie dann<br />

viel später, 1936, gemeinsam mit der intellektuellen<br />

Elite des jüdischen Wien,<br />

unter anderen auch Sigmund Freud und<br />

Franz Werfel, einen Aufruf des neu gegründeten<br />

Vereins der Freunde der Hebräischen<br />

Universität, der bis heute besteht,<br />

unterzeichneten.<br />

Besonders wertvoll und erhellend sind<br />

die von der Autorin angefügten Biografien<br />

der Protagonisten der Kongresse<br />

und anderer zionistischer Aktivisten,<br />

und nicht nur insofern ist Evelyn Adunkas<br />

zeithistorischer Band ein Nachschlagewerk<br />

ebenso wie ein durchaus lesbares,<br />

ja sogar spannendes Buch, wenn man<br />

ein Grundinteresse an der zionistischen<br />

Idee mitbringt. Denn so viel Zukunftsglaube<br />

wie bei den geschilderten Kongressen<br />

sollte das jüdische Wien danach<br />

nie wieder erleben. <br />

wına-magazin.at<br />

53


BUCKLIGE WELT WECHSELLAND<br />

Beschaulich ruhig ist es an diesem<br />

Sonntagvormittag auf der<br />

Hauptstraße 10 im niederösterreichischen<br />

Bad Erlach. Gut<br />

sichtbare Schilder in Blauweiß verweisen<br />

darauf, dass „das Museum“ heute geöffnet<br />

ist. Aber dies ist kein übliches Regionalmuseum,<br />

es ist das ehemalige Geschäftsund<br />

Wohnhaus der jüdischen Familie Max<br />

Hacker. Mit seinen drei Räumen ist es<br />

Schauplatz der Dauerausstellung im Zeitgeschichtemuseum<br />

der 3.108 Einwohner<br />

zählenden Marktgemeinde, zehn Kilometer<br />

südlich von Wiener Neustadt.<br />

Zwei Besucherpaare wandern umher,<br />

eine Dame steht vor einem Glaskasten<br />

mit einem wunderschönen Schofar, dem<br />

traditionellen Widderhorn, das bereits in<br />

der Bibel als rituelles Musikinstrument erwähnt<br />

wird. In der Erlacher Privatsynagoge<br />

wurde dieser Schofar von Leopold<br />

Hacker, dem Sohn des Synagogengründers<br />

Simon, geblasen. Zum jüdischen Neujahr<br />

am 14. September 1939 schickte Leopold<br />

das Horn seinem Neffen Manfred<br />

Ehrenreich an dessen Fluchtort Nizza.<br />

Dieser Neffe, seine Frau und weitere Verwandte<br />

wurden in der Schoah ermordet.<br />

Doch der Schofar ging nicht verloren, sondern<br />

kehrte jetzt als Leihgabe nach Bad<br />

Erlach zurück: Dank Simon Hackers Urenkelin<br />

Dr. Lieselotte Kastner, die mit ihrer<br />

Familie in London lebt, ist das vielgewanderte<br />

Objekt hier zu sehen. Ihre Söhne Robert<br />

und Raphael Kastner setzen in dritter<br />

und vierter Generation die Familientradition<br />

des Schofarblasens fort.<br />

„Diese Objekte, die mit den überlebenden<br />

Menschen mitgegangen sind, tragen<br />

so viele Erinnerungen in sich – manchmal<br />

quer durch die Welt“, sinniert Martha<br />

Keil, Kuratorin der Dauerausstellung sowie<br />

der Wechselausstellung Mit ohne Juden<br />

(bis 19. März 2021), die in der angebauten<br />

gläsernen Ellipse jüdische Lebenswelten<br />

in der gesamten Region Bucklige Welt<br />

und Wechselland vor 1938 zeigt. In 21<br />

Ortschaften existierte ein religiös-traditionelles,<br />

kulturell aufgeschlossenes und<br />

sozial engagiertes Landjudentum. „Die<br />

meisten jüdischen Familien der Region<br />

stammten aus Westungarn, dem heutigen<br />

Burgenland“, erzählt Keil. „Man lebte<br />

nicht in einem ‚Stetl‘, sondern teilte die<br />

Kultur der Umgebung.“ Kaschrut und<br />

Feiertage wurden allerdings streng eingehalten.<br />

In Erlach und in Krumbach errichteten<br />

die Familien Hacker und Blum<br />

private Synagogen, die organisatorisch zu<br />

Das Hacker Haus<br />

in Bad Erlach<br />

Das neue Museum für Zeitgeschichte wird zum<br />

Zentrum der Erinnerung an 21 niederösterreichische<br />

Gemeinden, in denen Juden vor 1938 lebten.<br />

Reportage: Marta S. Halpert<br />

den Kultusgemeinden Wiener Neustadt<br />

und Neunkirchen gehörten.<br />

Die Geschichte des heutigen Museums<br />

für Zeitgeschichte im Hacker Haus<br />

beginnt im Jahr 2016 mit dem Start des<br />

Forschungsprojekts Die jüdische BevölkerungderRegionBuckligeWelt<br />

–Wechselland.<br />

Mit Unterstützung des Landes Niederösterreich<br />

und der EU (Leader+) wird in diesem<br />

Jahr ein Projekt initiiert, bei dem die<br />

Geschichte der jüdischen Bevölkerung in<br />

26 Gemeinden der Region von 1848 bis zu<br />

deren Verfolgung, Vertreibung und Ermordung<br />

in den Jahren ab 1938 erforscht wird.<br />

Unter der Leitung von Johann Hagenhofer,<br />

Gert Dressel und Werner Sulzgruber<br />

arbeitet ein 18-köpfiges Forschungsteam<br />

an diesem erst- und einmaligem Projekt.<br />

Das 2019 erschienene Buch Eine versunkene<br />

Welt. Jüdisches Leben in der Buckligen<br />

Welt - Wechselland, das auch Interviews mit<br />

noch lebenden Zeitzeugen enthält, ist eines<br />

der Ergebnisse.<br />

Durch diese Forschungsarbeit angeregt,<br />

wurde 2017 auf Initiative von ÖVP-<br />

Nationalrat und Bürgermeister Johann<br />

Rädler das ehemalige Wohnhaus der Familie<br />

Max Hackers von der Marktgemeinde<br />

Bad Erlach angekauft, um darin<br />

ein Zeitgeschichtemuseum einzurichten.<br />

„Ich wurde kurzfristig mit beiden Ausstellungen<br />

betraut, weil ein anderer Kurator<br />

ausgefallen war. Ich hatte nur 13<br />

Monate, das ist ziemlich knapp. Aber da<br />

die Vorarbeiten durch das Forschungsprojekt<br />

geleistet waren und mit der fantastischen<br />

Mitwirkung der zuständigen<br />

Rechercheure und der Nachkommen der<br />

vertriebenen Familien war es zu bewerkstelligen“,<br />

berichtet Martha Keil, Leiterin<br />

des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs<br />

(INJOEST) in St. Pölten.<br />

54 wına| Juli_August 2019


MIT OHNE JUDEN<br />

Südlich von Wiener Neustadt. In den<br />

21 Ortschaften existierte ein religiös-traditionelles,<br />

kulturell aufgeschlossenes<br />

und sozial engagiertes Landjudentum.<br />

MIT OHNE JUDEN<br />

BUCKLIGE WELT UND WECHSELLAND<br />

Sonderausstellung im Hacker Haus<br />

Hauptstraße 10, 2822 Bad Erlach<br />

Do.−So., 10−17 Uhr, bis 19. März 2021<br />

hacker-haus.at<br />

© Reinhard Engel<br />

„Wir fanden in den Archiven nur Dokumente<br />

und diverse Fotokopien. Daher<br />

war es wichtig, die Nachfahren in aller<br />

Welt auszuforschen und mit ihnen zu<br />

sprechen“, berichtet Keil. „Denn nur im<br />

Gespräch konnte ich nach Erinnerungsstücken<br />

und Fotos fragen. Deshalb können<br />

wir Kerzenleuchter aus Holz aus Bogota,<br />

Bolivien, zeigen oder Raritäten wie<br />

ein Thorafragment des frühen 19. Jahrhunderts<br />

sowie eine Lederhose aus dem<br />

Besitz der Industriellenfamilie Mautner.“<br />

Modernste Medien wie Touchscreens, Audioinstallationen,<br />

„Sprechende Bücher“ sowie<br />

eine große interaktive Karte runden die<br />

Präsentation ab.<br />

Hörstationen. Am Ende der Ausstellung<br />

lädt ein Gedenkraum der besonderen<br />

Art zur Besinnung ein: Hier werden<br />

die Namen und Schicksale aller in der<br />

Schoah ermordeten jüdischen Einwohner<br />

der Region Bucklige Welt – Wechselland<br />

im geflüsterten Ton vorgetragen, während<br />

man ihre auf Vorhängen gedruckten<br />

Bilder betrachten kann. Laut Forschungsstand<br />

vom April 2019 wurden 71 jüdisch<br />

Verfolgte in der Schoah ermordet. Das<br />

Schicksal von zwölf Personen ist unbekannt.<br />

„Zu meiner Freude habe ich fast im<br />

letzten Augenblick den Enkel des letzten<br />

Besitzers Fritz Hacker gefunden: Cobie<br />

Brosh lebt in Haifa, und er hat sich<br />

spontan entschlossen, mit Schwester, Kindern,<br />

Enkeln zur Eröffnung am 7. April zu<br />

kommen“, begeistert sich die Kuratorin.<br />

„Die Ausstellung konnte ich nicht mehr<br />

ändern, aber wenigstens auf einer großen<br />

Tafel im Eingangsbereich seine Familie<br />

würdigen.“ Weitere 30 Nachfahren<br />

kamen aus aller Welt. „Wir können<br />

noch immer nicht begreifen, wie Männer,<br />

die in der Freiwilligen Feuerwehr gedient<br />

haben, wie Frauen, die Nachbarskindern<br />

kleine Naschereien zusteckten, plötzlich<br />

zu Opfern der Schoah wurden“, erklärte<br />

NationalratspräsidentWolfgang Sobotka<br />

bei der Eröffnung.<br />

Weitschichtig mit Max Hacker verwandt<br />

war der Weinhändler Simon Hacker,<br />

der schräg gegenüber dem Zeitgeschichtemuseum<br />

wohnte. In der<br />

Dauerausstellung wird der Besucher am<br />

Beispiel der Familie Simon Hacker auf<br />

eine Zeitreise in das jüdische Erlach der<br />

Zwischenkriegszeit genommen. Anhand<br />

zahlreicher Hörstationen mit spannenden<br />

Zeitzeugenberichten, Fotos und Dokumenten<br />

erhält man Einblicke in das<br />

Leben einer gut integrierten und bekannten<br />

Erlacher Familie sowie deren wichtige<br />

Rolle – Simon Hacker war auch<br />

Vorstand der Raiffeisenbank – im Geschäftsleben<br />

der Gemeinde. Prominent<br />

waren die Textilfabrikanten Abeles, Wolf,<br />

Mautner, Preis und Chaimowicz in Erlach<br />

und Trattenbach. Sie förderten die<br />

Region als Arbeitgeber und sorgten in<br />

ihren Betrieben auch für soziale Einrichtungen,<br />

von Arbeiterwohnungen über<br />

eine Volksschule bis zum Sportverein.<br />

„Der gesamte Besitz<br />

des Herrn Fritz<br />

Reiterer ist durch<br />

die Kriegswirren des<br />

Jahres 1945 in unseremDorfinFlammen<br />

aufgegangen. Die<br />

Osterschüsseljedoch<br />

blieb erhalten.“<br />

LeopoldBaumgartner,<br />

Bürgermeisterv.Erlach<br />

Simon Hackers tiefe Religiosität manifestierte<br />

sich nicht nur durch den Bau eines<br />

Bethauses, sondern auch anhand einer<br />

Pessach-Haggada oder der Projektion<br />

der traditionellen Sederschüssel, deren Geschichte<br />

einem Wunder gleicht: Vermutlich<br />

im Geburtsjahr seiner Tochter Karoline<br />

1871 ließ Hacker beim Wiener<br />

Silberschmied Vincenz Czokally eine silberne<br />

Sederschüssel anfertigen. Als die Familie<br />

im März 1938 fliehen musste, gab sie<br />

das Gefäß bei dem Kaufmann Fritz Reiterer<br />

in Verwahrung. 1947 berichtete der<br />

Erlacher Bürgermeister Leopold Baumgartner<br />

einem Nachfahren der Familie Hacker<br />

schriftlich: „Der gesamte Besitz des<br />

Herrn Fritz Reiterer ist durch die Kriegswirren<br />

des Jahres 1945 in unserem Dorf in<br />

Flammen aufgegangen. Die Osterschüssel<br />

jedoch blieb erhalten.“ Die Sederschüssel<br />

landete schließlich bei Ernst Adler, einem<br />

Cousin in London. Seither ziert sie jedes<br />

Jahr den Pessach-Tisch von dessen Tochter<br />

Liselotte Kastner-Adler und den Familien<br />

ihrer drei Söhne. <br />

wına-magazin.at<br />

55


SORGE FÜR UNSERE WELT<br />

„Planenhatimmeretwas<br />

mit Zukunft zu tun“<br />

Das Wiener Architekturzentrum<br />

zeigt noch bis 9. September<br />

die von Angelika Fitz<br />

und Elke Krasny kuratierte<br />

Schau Critical Care.<br />

Wie zeitgenössische „Architektur<br />

für einen Planeten in<br />

der Krise“ aussehen kann, beleuchtet<br />

die sensibel gestaltete<br />

Ausstellung anhand von<br />

rund 20 internationalen<br />

Projekten, die überraschen,<br />

berühren und zum<br />

Nachdenken anregen.<br />

Von Angela Heide<br />

An miteinander über den<br />

ganzen Raum verbundenen<br />

roten Fäden hängen<br />

die fragilen, beweglichen<br />

Recycling-Kartontafeln der<br />

Ausstellung Critical Care.<br />

Critical Care<br />

ARCHITEKTUR FÜR EINEN PLANETEN IN DER KRISE<br />

Ausstellung bis 9. Sept. 2019, tgl. 10 bis 19 Uhr<br />

Architekturzentrum Wien (Az W),<br />

Museumsplatz 1 1070 Wien<br />

azw.at<br />

Inzwischen spüren wir es alle – die extremen<br />

Schneemassen im Winter, die<br />

massiven Unwetter, die unerträgliche<br />

Hitze im Sommer: Das Klima in Europa<br />

verändert sich, wobei es sich hier nicht nur<br />

um eine ‚Veränderung‘ handelt, sondern<br />

eben um eine echte ‚Krise‘ “, erzählt Angelika<br />

Fitz, seit 2017 Direktorin des Wiener<br />

Architekturzentrums (Az W).<br />

Betritt man die noch im Sommer laufende<br />

aktuelle Schau Critical Care, befindet<br />

man sich rasch in einem zugleich lose<br />

und doch stringent gewobenen kuratorischen<br />

System an ineinandergreifenden,<br />

korrespondierenden Themenfeldern. An<br />

roten Schnüren sind sie alle miteinander<br />

verbunden: die 21 in den letzten drei Jahren<br />

intensiver internationaler Forschungsarbeit<br />

von Fitz und Elke Krasny zusammengetragenen<br />

architektonischen und<br />

urbanistischen Projekte, die von Asien<br />

nach Europa, von Afrika nach Amerika<br />

führen und so beeindruckend vielgestaltig<br />

wie konsequent in ihrem Ansatz sind, der<br />

für alle einen gemeinsamen Nenner hat:<br />

unserem Planeten in der Krise mit Projekten,<br />

die Sorge tragen, ob in urbanen oder<br />

ländlichen Regionen, Perspektiven für<br />

eine lebbare Zukunft zu schenken.<br />

Den Titel haben die beiden Kuratorinnen<br />

aus der Medizin entnommen. „Critical<br />

Care heißt so viel wie Notaufnahme, Intensivstation.<br />

Und es ist in unseren Augen<br />

auch dramatisch, wenn wir so weitermachen<br />

wie bisher. Dann überlebt vielleicht<br />

der Planet, aber ohne uns und viele andere<br />

Lebewesen“, macht Fitz die Dringlichkeit<br />

des Ansatzes deutlich. Doch, verrät<br />

die Architekturexpertin, steckt im Titel<br />

auch die Lösung. „Denn dieses care, also<br />

das Sorgetragen, das seinerseits aus den<br />

Politik- und Sozialwissenschaften kommt<br />

und langsam auch in den Kulturwissenschaften<br />

Einzug gehalten hat, beinhaltet<br />

ja zugleich auch die Lösung für diesen Zustand<br />

der Krise.“<br />

Den Begriff, der bislang für die Beziehung<br />

zwischen Menschen Verwendung<br />

fand, auch für Fragen zeitgenössischer<br />

Architektur und Urbanistik anzuwenden,<br />

ist ein weiteres innovatives Moment der<br />

Ausstellung und des begleitenden Forschungsprojektes.<br />

„Wir haben uns gefragt,<br />

ob es Architekturen, ob es ganze Stadtteile<br />

gibt, die Sorge tragen. Nicht nur für Menschen,<br />

sondern auch für Tiere, für die Natur<br />

– also in einem wirklich gesamtheitlichen<br />

Sinn.“<br />

Mit der Ver- und Anwendung des Begriffes<br />

„care“ auf die Auseinandersetzung<br />

mit internationalen Projekten aus Architektur<br />

und Stadtplanung haben Fitz und<br />

Krasny in den letzten Jahren tatsächlich<br />

Pionierarbeit geleistet. Lose strukturiert<br />

wurden die 21 Projekte von den beiden<br />

Kuratorinnen anhand fünf Gruppierungen:<br />

Da ist die Frage des Sorgetragens<br />

für Wasser, Grund und Boden, für oft<br />

über Jahrtausende tradierte, vielfach verschwundene<br />

Kenntnisse und Fertigkeiten,<br />

für Produktion, aber auch für „Reparatur“<br />

und den öffentlichen Raum.<br />

Gemeinsames Aushandeln von Interessen.<br />

Renommierte internationale Architekturbüros<br />

sind ebenso vertreten wie<br />

Einzelarchitekt*innen und für ein konkretes<br />

Projekt zusammengefundene Arbeitsgemeinschaften,<br />

international bereits<br />

bekannte, mit Preisen ausgezeichnete Projekte<br />

ebenso wie unbekannte. „Diese Mischung<br />

war uns sehr wichtig“, verrät Fitz<br />

bei einem Ausstellungsrundgang. Und<br />

dass es bei allen ausgewählten Projekten<br />

wichtig war, Sorgetragen in einem ganzheitlichen<br />

Sinne zu verstehen. „Was wir<br />

uns fragen, und hier sind wir nicht die<br />

einzigen: Dieses Anthropozän, also dieses<br />

‚menschengemachte‘ Zeitalter, in dem<br />

wir leben: Wer ist dieser Mensch, wer sind<br />

diese Menschen? Ist alles, was Menschen<br />

tun, schlecht? Wir denken, nein – so einfach<br />

kann man es sich nicht machen. Es<br />

geht schon um eine bestimmte Art des<br />

Tuns, eine bestimmte Art des Wirtschaftens.<br />

Und das heißt, ich muss auch aussprechen,<br />

dass diese ökologische Krise eine<br />

Krise des Kapitalismus ist.“ Architektur<br />

und Stadtplanung, erläutert Fitz weiter,<br />

sind „als wesentliche Teile dieses Kapitalismus<br />

daher auch selbstverständlich Teile<br />

dieser Krise. Sie können aber eben auch<br />

56 wına| Juli_August 2019


NACHHALIGKEIT PARTIZIPATION<br />

© Az W/Lisa Rastl; Heritage Foundation of Pakistan; Martina Bo Rubino<br />

Teile der Lösung sein.“ Wie<br />

das möglich sein könnte<br />

– und auch ist –, machen<br />

die versammelten Projekte<br />

deutlich: als ökologische<br />

„Reparatur“ der informellen<br />

Siedlungen mitten im<br />

Financial District am Matin-Pena-Kanal<br />

in Puerto<br />

Ricco, als erdbebensichere<br />

neue Formen von Dorfentwicklungen im<br />

chinesischen Sichuan, als flutbeständige<br />

Häuser in Lehm- und Bambusbauweise,<br />

wie etwa in Pakistan, oder als vielfältige<br />

öffentliche Räume, ob im Londoner Vorort<br />

Croydon, in São Paulo, Barcelona oder<br />

im belgischen Melle.<br />

„Alle diese Projekte arbeiten in neuen<br />

Allianzen“, erläutert Fitz eines der wesentlichen<br />

Prinzipien, das vor allem zwei der<br />

zentralen Aspekte garantiert: Erfolg und<br />

Nachhaltigkeit. „Sie versuchen nicht nur<br />

neue ökologische, sondern eben auch neue<br />

ökonomische Modelle zu pflegen. Sie arbeiten<br />

mit NGOs, Bauherrn und gemeinwohlorientierten<br />

Stiftungen, sie arbeiten<br />

mit anderen Disziplinen zusammen.“ Ein<br />

„Esgehtauch<br />

darum,einen<br />

Ort neu zu<br />

sehen,neuzu<br />

erfahren.“<br />

Angelika Fitz<br />

Das von Emergency<br />

Architecture<br />

mit initiierte<br />

Projekt realisierte<br />

100 Klassenräume<br />

für Kinder im<br />

Flüchtlingslager<br />

Za’atari Village in<br />

Jordanien.<br />

In Pakistan wurde<br />

das Projekt Sindh<br />

Flood Rehabilitation<br />

ins Leben<br />

gerufen, bei dem<br />

in traditioneller<br />

Lehm- und Bambusbauweise<br />

flutbeständige<br />

Häuser<br />

für die Menschen<br />

der Region gebaut<br />

werden.<br />

Missverständnis gilt es dabei<br />

auch gleich aus dem Weg zu<br />

räumen, erläutert Fitz weiter:<br />

„Die Projekte verbinden<br />

Bottom-up-Prozesse<br />

mit Top-down-Strategien“,<br />

denn „mit ein bisschen Basteln<br />

werden wir den Planeten<br />

nicht retten. Es geht hier<br />

schon um großmaßstäbliche,<br />

prototypische Ideen.“ Das heißt nicht,<br />

dass alle präsentierten Projekte regionenübergreifend<br />

sind, wie etwa jenes im chinesischen<br />

Bezirk Songyang, in dem Architektin<br />

Xu Tiantian zahlreiche über die<br />

ganze Region verteilte nachhaltige Produktionsstätten<br />

für lokale Produkte wie<br />

etwa Tofu entworfen hat, die so, neben<br />

der Stärkung traditioneller Produktionsweisen,<br />

den internationalen wie auch den<br />

Binnentourismus wiederbeleben. Auch so<br />

kleine und schwer zu kopierende Projekte<br />

wie jenes von Anapuma Kundoo, bei dem<br />

in alter Lehmbautechnik Gebäude für obdachlose<br />

Kinder entstehen, oder jenes von<br />

Anna Heringer, die gemeinsam mit der<br />

Modemacherin Veronika Lena in einem<br />

Dorf in Bangladesch eine aus alten Saris<br />

entwickelte Modelinien entworfen hat,<br />

sind vertreten.<br />

Nicht alle Projekte, die die beiden Kuratorinnen<br />

recherchiert und zu einem<br />

großen Teil auch vor Ort besucht haben,<br />

waren sich zuvor selbst ihrer „Care“-<br />

Perspektive oder gar ihrer nicht zuletzt<br />

durch die Schau deutlich gemachten globalen<br />

Pionierarbeit bewusst. „Doch wenn<br />

wir ihnen dann von unserem Konzept erzählt<br />

haben, konnten sich alle damit identifizieren.“<br />

Auch ein Beitrag aus Wien ist Teil<br />

der Ausstellung, seinerseits von Krasny<br />

und Fitz gemeinsam initiiert und kuratiert:<br />

Bei dem 2017 begonnenen Projekt<br />

Care + Repair wurden sechs internationale<br />

Architekt*innen-Teams eingeladen, jeweils<br />

im Tandem mit lokalen Expert*innen<br />

aus Wien an der „Reparatur“ der „Freien<br />

Mitte“ zu arbeiten – jener „urbanen Wildnis“,<br />

die im Zuge der Bebauung des ehemaligen<br />

Wiener Nordbahnhof-Geländes<br />

in der Wiener Leopoldstadt, einem der<br />

größten Wiener Stadtentwicklungsprojekte<br />

der letzten und kommenden Jahre,<br />

entstand, oder besser: verblieben war. Das<br />

Leitbild der Masterplaner von Studio-<br />

VlayStreeruwitz war hier, wie bei nahezu<br />

allen Beispielen, „vom Vorhandenen auszugehen,<br />

statt Tabula rasa zu machen“,<br />

vorhandene „Qualitäten“ zu suchen, zu<br />

finden, zu erforschen und, im idealen Falle,<br />

auch nachhaltig zu nutzen.<br />

Mit dem in Zusammenarbeit mit der<br />

TU Wien realisierten Forschungsprojekt<br />

Mischung: Nordbahnhof konnte hier<br />

in Wien ein Projekt entstehen, dass bereits<br />

auf weltweite Aufmerksamkeit stieß.<br />

Dieses „involved curating“, also das involvierende,<br />

teilhabende Kuratieren vor Ort<br />

schafft nicht nur ein mediales „place making“,<br />

sondern auch ein nachhaltiges Bewusstsein<br />

für die Qualitäten oft übersehener<br />

gewachsener „Wildnisse“ in stark<br />

wachsenden Städten. Mittels Teilhabe,<br />

Partizipation und eben auch: Fürsorge,<br />

gepaart mit Achtsamkeit und nachhaltiger<br />

„Pflege“, ist die Rettung der Welt, „1<br />

Minute vor 12“, so die Hoffnung, die man<br />

am Ende des Ausstellungsbesuches mitnimmt,<br />

vielleicht doch nicht ganz unrealistisch.<br />

„Partizipation bedeutet ein gemeinsames<br />

Versuchen, Tun und Umsetzen“,<br />

schließt Fitz ihre Ausführungen zum<br />

Wiener Projekt. „Es geht auch darum, einen<br />

Ort neu zu sehen, neu zu erfahren.<br />

Nicht nur: reden, reden, reden.“ <br />

wına-magazin.at<br />

57


WINA WERK-STÄDTE<br />

Turku<br />

Juden leben seit Jahrhunderten<br />

in ganz Europa.<br />

Sogar im entlegenen Turku<br />

haben sie sich angesiedelt<br />

und eine Synagoge errichtet.<br />

Von Esther Graf<br />

Der Kuppelbau<br />

ähnelt von außen<br />

der Synagoge in<br />

Helsinki.<br />

Synagogenbauten sind überall auf der Welt<br />

steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens.<br />

Seit der Antike sind sie überliefert und<br />

geben uns Einblick in unterschiedliche<br />

Raumkonzepte und dekorative Entwicklungen.<br />

Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />

die Frage aufkam, in welchem Stil jüdische<br />

Gotteshäuser erbaut werden sollen, finden wir am<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts Synagogen in verschiedenen<br />

Stilen, oftmals im klassizistischen oder<br />

orientalischen, selten im Jugendstil. Im Falle der<br />

Synagoge in Turku, die 1912 eingeweiht wurde,<br />

handelt es sich um einen jüdischen Sakralbau im so<br />

genannten Rundbogenstil. Bei dem zweistöckigen<br />

verputzten Backsteingebäude handelt es sich um einen<br />

rechteckigen Hallenbau, der von einer Kuppel<br />

bekrönt wird. Im Erdgeschoss sind die Wochentagssynagoge<br />

sowie die Räume für die Verwaltung und<br />

den Religionsunterricht untergebracht. Die Hauptsynagoge<br />

mit einer an drei Seiten umlaufenden Empore<br />

befindet sich in der Bel Etage. Der Aron haKodesch<br />

(Thoraschrein) steht in einer Nische, die von<br />

außen als halbrunder Erker zu erkennen ist. Trotz<br />

unterschiedlicher Architekten erinnert die Fassadengliederung<br />

an die der 1906 erbauten Synagoge<br />

in Helsinki, ist jedoch weitaus schmuckloser. Einst<br />

gab es in Finnland drei jüdische Bethäuser – die jüdische<br />

Minderheit war immer sehr klein –, von denen<br />

heute nur mehr zwei existieren. Die Synagoge<br />

in Turku ist eines von ihnen. <br />

TURKU<br />

Turku mit seinen rund 188.000 Einwohnern war unter schwedischer Herrschaft die<br />

wichtigste Stadt des Landes. Juden war die Ansiedlung bis in das 19. Jahrhundert untersagt.<br />

Lediglich jüdische Soldaten der russischen Armee, die im Großherzogtum Finnland<br />

gedient hatten, durften nach Dienstende dort wohnhaft bleiben. Erst mit der Unabhängigkeit<br />

des Landes 1917 erlangten Juden die vollen Bürgerrechte. Zur Zeit der deutschfinnischen<br />

„Waffenbrüderschaft“ kämpften ca. 300 finnische Juden an der Seite der<br />

Waffen-SS. Heute leben etwa 1.500 Juden in Finnland, davon um die 200 in Turku.<br />

© Harri Blomberg, 2007, Commons Wikimedia<br />

58 wına| Juli_August 2019


URBAN LEGENDS<br />

Die Zeit der<br />

Hochstaplerinnen<br />

In Zeiten ebenso ominpräsenter wie undurchschaubarer Medienrealitäten<br />

und verschwimmender, wechselnder Identitätskonstruktionen geben<br />

zunehmend auch Frauen den Felix Krull.<br />

Sophie Roznblatt bringt Flüchtlingen Sex<br />

bei“, titelte der Bayerische Rundfunk im<br />

Mai 2017 reißerisch: Die Zeit hatte im<br />

Frühling 2017 einen Beitrag einer vermeintlich<br />

im Sozialbereich engagierten Autorin<br />

veröffentlicht. Das Problem mit dem Penis (so<br />

der Titel des erfundenen Berichts) entpuppte sich<br />

in Folge als ein etwas größeres Problem mit der<br />

Wahrheit. Hinter dem Pseudonym Sophie Roznblatt<br />

entdeckten die MedienmacherInnen jüngst<br />

eine promovierte Historikerin und Bloggerin, die es mit Fakt<br />

und Fiktion nicht so genau nahm. Auch der Geschichte einer<br />

von ihr gegründeten Slum-Klinik in Indien war in Folge<br />

nicht mehr zu trauen.<br />

Paul Divjak<br />

„Wir sind durch und durch veröffentlicht.<br />

Wir machen uns interessant und<br />

immer interessanter.“ Botho Strauß<br />

Einer Anwältin, einer Genealogin und einem Archivar waren<br />

Ungereimtheiten in der vorgeblichen Biografie aufgefallen,<br />

gemeinsam mit Der Spiegel hat man dann die Decouvrierung<br />

ins Rollen gebracht.<br />

Frau Hingst, eine preisgekrönte Bloggerin, hatte sich als<br />

eine Art weibliches Fabelwesen gleichsam als Wilkomirski-<br />

Relotius-Hybrid über Jahre als Nachfahrin von Holocaust-<br />

Opfern inszeniert, Stammbaum der ermordeten und überlebenden<br />

Ahnen sowie gefälschte Dokumente inklusive. Und<br />

selbst für Yad Vashem gilt es nun, die Datenbank wieder von<br />

22 von ihr eingetragenen falschen jüdischen Verwandten zu<br />

befreien.<br />

Die Hingst-Gespinste der Jüdischkeit basierten ausschließlich<br />

auf der Legitimierung ihrer Identität durch die Schoah.<br />

Das gelebte Judentum war kein Thema für die Frau, die die<br />

Tom-Kummer-Nummer (der Schweizer Journalisten war<br />

mit seinen erfundenen Geschichten über Hollywoodstars in<br />

den 1990er-Jahren der Prototyp des „Borderline-Journalismus“,<br />

wie er ihn nannte) und das Pathos liebte und Stereotypen<br />

bediente.<br />

Im März ist noch ein Bildband von der derzeit aus der Öffentlichkeit<br />

verschwundenen Autorin erschienen: Kunstgeschichte<br />

als Brotbelag. Um Fälschungen geht es auch hier: Die<br />

naive Verwurstung von bekannten Gemälden als vollbelegtes<br />

Abendbrot.<br />

„Das jüdische Leben wurde zur Folklore durch ein genau<br />

fixierbares, punktuelles und sehr junges Ereignis: den Völkermord“,<br />

schreibt Alain Finkielkraut in Der eingebildete Jude<br />

(Le juif imaginaire, 1980). Darin versuchte der Philosoph, die<br />

Erinnerung und das Gedächtnis zu beschwören. „Als Sohn<br />

von Überlebenden empfand ich mich als Erbe ihrer Leiden.<br />

Heute weiß ich, daß mit den letzten Überlebenden des Völkermordes<br />

eine Daseinsqualität verschwinden wird, die ich<br />

nicht erben werde.“ Darum wolle er „den Exhibitionismus<br />

durch die Erinnerung“ und den „Spontaneismus durch das<br />

Studium“ ersetzen, „um jenes Judentum kennenzulernen, das<br />

ich nicht in mir habe und dessen Abwesenheit ich nicht länger<br />

vergessen will mit Hilfe von Einbildungen und Prahlereien“.<br />

Für junge Juden, die nur mehr Relikte des Judentums kennen<br />

würden, die mehr in der Fiktion zu Hause sind, als „Bewohner<br />

des Irrealen“, schlug Finkielkraut die Bezeichnung<br />

„eingebildeter Jude“ vor.<br />

Dass eines Tages eine junge deutsche Historikerin aus dem<br />

ehemaligen Osten der Bundesrepublik Oliver Polaks Ulk-<br />

Song Komm, lasst uns alle Juden sein beim Wort nehmen und<br />

mit einer konstruierten imaginären Identität und falschen Erinnerungen<br />

operieren würde, um in der Mainstreamgesellschaft<br />

ihre vermeintliche Jüdischkeit als demonstrative Haltung<br />

und Marketingtool zu benützen, um Prosatexte, die sie<br />

freilich als Wahrheitsberichte ausgab, zu „authentifizieren“<br />

und sich Kritikern gegenüber in der Minderheitsnische der<br />

Behauptung unantastbar zu machen – und dergestalt nicht<br />

zuletzt Antisemitismen Vorschub leisten würde, hätte sich<br />

Finkielkraut wohl auch nicht träumen lassen.<br />

In Zeiten omnipräsenter Medienrealitäten und verschwimmender,<br />

wechselnder Identitätskonstruktionen geben zunehmend<br />

auch Frauen den Felix Krull. Wir erleben die (digitale)<br />

Emanzipation des Hochstapelns. Und die mediale Empörung<br />

ist ziemlich groß.<br />

Eine andere zu sein, gab zuletzt auch die Deutsche Anna<br />

Sorokin vor, die sich in New Yorks High Society und in den<br />

sozialen Medien als Millionenerbin „Anna Delvey“ inszenierte<br />

und jüngst zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt<br />

wurde. Vor Gericht meinte sie lapidar: „Ich würde Sie und<br />

alle anderen anlügen, wenn ich sagen würde, dass mir irgendetwas<br />

leidtun würde. Ich bedaure nur, wie ich bestimmte Sachen<br />

angegangen bin.“<br />

Ein Statement ganz im Sinne von Samuel Becketts zum<br />

Onlinegemeinplatz verkommenen Zitat aus Worstward Ho<br />

(1983): „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail<br />

again. Fail better.“<br />

Die starbesetzte Verfilmung der Geschichte ist jedenfalls<br />

bereits geplant. <br />

Zeichnung: Karin Fasching<br />

wına-magazin.at<br />

59


LEBENS ART<br />

Die Eloquenz<br />

unserer Anatomie<br />

Das Unbeschreibliche tanzen<br />

Die New Yorkerin Juliana F. May – ihre Großmutter<br />

stammte aus Wien und musste als Jüdin<br />

flüchten – ist so etwas wie eine Trauma-<br />

Expertin innerhalb der Performanceszene am<br />

Hudson River. Schon seit einem Jahrzehnt<br />

lässt sie dieses Motiv nicht los, und auch in<br />

ihrem aktuellen Stück Folk Incest geht es um<br />

scheinbar nicht darstellbare Themen wie den<br />

Holocaust, das sexuelle Trauma und die Fetischisierung<br />

junger Mädchen.<br />

Frau May, was kann Tanz besser ausdrücken<br />

als Worte?<br />

Tanz ist nicht sehr gut darin, lineare Erzählungen<br />

zu vermitteln. Aber seine Abstraktion kann<br />

den Zustand des Traumas nutzen, an den man<br />

sich oft abseits der genauen Reihenfolge und<br />

ohne Sprache erinnert.<br />

Sie verwenden auch Text in Ihrem Stück. Wozu<br />

braucht es das gesprochene und gesungene<br />

Wort?<br />

In Folk Incest benutze ich Text, um mich tiefer<br />

in die Person hinein zu bewegen oder sie<br />

zu verstecken. Wiederholungen und ständige<br />

Unruhe schaffen dabei ein Umfeld, in dem<br />

Wut und Humor koexistieren können. Die Lieder<br />

und Gesänge sollen Katharsis inmitten<br />

schwieriger Inhalte erzeugen.<br />

Wie schafft man es, etwas Unbeschreibliches<br />

in Tanz umzusetzen?<br />

Da Traumata im Körper gespeichert sind, vertraue<br />

ich auf die Kraft der Abstraktion und der<br />

Bewegung, um Ideen auszudrücken, die zu<br />

schmerzhaft sind, um sie zu<br />

verarbeiten.<br />

Wann haben Sie den letzten<br />

Wiener Walzer getanzt?<br />

1990 im Wohnzimmer meiner<br />

Großmutter mütterlicherseits,<br />

Rose Fallmann Gaster, in Connecticut.<br />

Rose und ihre Familie<br />

flohen 1939 aus dem nationalsozialistischen<br />

Wien nach<br />

Brooklyn. Sie ging nie zurück.<br />

60 wına| Juli_August 2019<br />

Auch in diesem Sommer<br />

übernehmen bei<br />

ImPulsTanz – Vienna<br />

International Dance<br />

Festival die Stars des<br />

zeitgenössischen Tanzes<br />

die Bühnen der<br />

Walzerstadt. WINA hat<br />

vier Künstlerinnen und<br />

Künstler aus den unterschiedlichsten<br />

Bereichen<br />

zum Interview gebeten,<br />

die alle jedoch eines eint:<br />

ihre jüdische Identität –<br />

oder die Suche danach.<br />

Sicherer Ort. Zvi<br />

Gotheiner arbeitet mit<br />

Tanzlehrenden.<br />

Wut und Humor. Juliana<br />

F. May lässt das Trauma-<br />

Thema nicht los.<br />

Ein Ort für Fragen<br />

In seinem Heimatland Israel begann Zvi<br />

Gotheiner bereits in jungen Jahren mit der<br />

Bühnenkunst, sowohl als Tänzer wie auch<br />

als Musiker. Er tanzte unter anderem mit der<br />

Joyce Trisler Dance Company und der Batsheva<br />

Dance Company. 1987 gründete er<br />

sein eigenes Ensemble, mit dem er bis heute<br />

erfolgreich in Nordamerika, Europa und Israel<br />

tourt. Zudem unterrichtet er als Lehrer Meisterklassen<br />

bei zahlreichen Spitzenkompanien<br />

und als Gastlehrer an renommierten Schulen<br />

sowie bei Festivals weltweit.<br />

Herr Gotheiner, gibt es etwas typisch Israelisches<br />

in der Art Ihres Tanzes oder in der Art,<br />

wie Sie lehren?<br />

Mittlerweile lebe ich ja bereits seit einigen Jahrzehnten<br />

in New York, aber ich bin sicher, dass<br />

meine Arbeit etwas „Israelisches“ enthält, das<br />

unbewusst aus meiner DNA hervorgeht …<br />

Was möchten Sie<br />

den Teilnehmern Ihres<br />

Workshops Meditating<br />

on teaching<br />

Ballet vermitteln?<br />

Ich möchte weniger<br />

„vermitteln“ und<br />

auch nicht versuchen,<br />

alte pädagogische<br />

Kriege beizulegen,<br />

oder sagen,<br />

dass mein Unterricht<br />

der einzige Weg ist.<br />

Ich möchte LehrerInnen<br />

und angehenden<br />

LehrerInnen einen sicheren Ort für Frage<br />

schaffen. Einen Ort, um den Fokus nach innen<br />

zu kehren und neue Prioritäten für den Tanzunterricht<br />

zu setzen, ihn aufzufrischen und zu<br />

personalisieren.<br />

Tanz bedeutet für Sie ganz persönlich:<br />

Alles!<br />

Wann haben Sie den letzten Wiener Walzer<br />

getanzt?<br />

Hoffentlich noch nicht!


Der Körper als Farbpalette<br />

Steven Cohen wurde 1962 in Johannesburg<br />

geboren und lebt im französischen Lille. Als visueller<br />

und performativer Künstler inszeniert er<br />

Interventionen im öffentlichen Raum und in Galerien<br />

und Theatern. Dabei beschäftigt er sich<br />

in seinem Schaffen immer mit der Komplexität<br />

seines eigenen Daseins – nämlich, ein jüdischer,<br />

schwuler, weißer Mann zu sein.<br />

Herr Cohen, warum haben Sie sich Performance<br />

und Tanz als Ihre künstlerische Ausdrucksweise<br />

ausgesucht?<br />

Ich bin ein Künstler. Und ich benutze verschiedene<br />

Medien, um meine Arbeiten zu machen.<br />

Performancekunst ist visuelle Kunst, und Tanz<br />

ist dabei eines meiner Werkzeuge. Dazu kommen<br />

auch materielle Objekte, die ich als Szenografie<br />

oder als Kostüm verwende, ebenso wie<br />

der Klang und jedes andere verfügbare Element,<br />

das von zeitlich bis räumlich reicht. Tanz<br />

hat wie Gesang einen besonderen Stellenwert<br />

im menschlichen Ausdruck, er ist die älteste<br />

Form der Anbetung – eine körperliche Manifestation,<br />

die aus der Seele spricht.<br />

Nacktheit spielt in Ihrer Arbeit eine große Rolle.<br />

Warum?<br />

Tatsächlich bin ich in meiner Arbeit niemals<br />

körperlich völlig nackt, nur emotional! Ich benutze<br />

Elemente strategischer Nacktheit, weil<br />

ich glaube, dass das, was ich ausziehe, genauso<br />

wichtig ist wie das, was ich trage. Ich<br />

bin auch nie unnötig nackt. Ich benutze<br />

das Fleisch, wie ein Maler die<br />

Farbe verwendet. Es ist ein Element<br />

einer Palette von Möglichkeiten. Da es<br />

in meiner Performancekunst um den<br />

Ausdruck meiner menschlichen Form<br />

geht, benutze ich so viel von meinem<br />

Körper, wie ich brauche, und das so<br />

klar, wie ich kann. Ich spreche mit meiner<br />

physischen Form; und Teile des<br />

Körpers in Bewegung zu zeigen, zeigt<br />

die Eloquenz unserer Anatomie. Jeder<br />

spricht physisch, das ist ein interkulturelles<br />

und universelles metasprachliches<br />

Vokabular. Ich lebe zurzeit in Frankreich<br />

und bin osteuropäischer Abstammung. Ich bin<br />

ein Aschkenase – im Gegensatz zu einem österreichischen<br />

Nationalsozialisten! Ich betrachte<br />

mich als gesegnet, die Chance zu haben zu geben,<br />

was mir gegeben wurde.<br />

Tanz bedeutet für Sie ganz persönlich:<br />

Eine Chance mein, Ich-Sein zu feiern – persönlich,<br />

künstlerisch, sozial, politisch. Und was das<br />

wiederum für uns bedeutet!<br />

ImPulsTanz<br />

11. Juli–11. August ’19<br />

impulstanz.com<br />

Affenstark. Lisi<br />

Estaras (vorne) sucht<br />

mit ihrer Companie<br />

Monkey Mind nach<br />

Indentitäten.<br />

Blanker Wahnsinn.<br />

Steven Cohen spielt<br />

mit emotionaler und<br />

körperlicher Nacktheit.<br />

Klappern im Kopf<br />

Die argentinische Choreografin Lisi Estaras<br />

begibt sich zusammen mit ihrem künstlerischen<br />

Partner Ido Batash auf die Suche nach<br />

einer jüdischen Identität von heute. Die musikalische<br />

Landschaft für The Jewish Connection<br />

Project bilden u. a. Auszüge aus Kompositionen<br />

von Richard Wagner.<br />

Frau Estaras, was genau ist der „Monkey<br />

Mind“ nach dem Ihre Company benannt ist?<br />

Es bezieht sich auf das endlose Klappern in<br />

unseren Köpfen. So wie wir von einem Gedanken<br />

zum nächsten springen, hüpfen die Affen<br />

chaotisch von Baum zu Baum ...<br />

Identitätssuche ist der Kern<br />

Ihres Stückes. Sind Sie Ihrer<br />

eigenen jüdischen Identität<br />

durch die Arbeit ein Stück<br />

näher gekommen? Oder ist<br />

es eine endlose Suche?<br />

Tatsächlich hinterfragt die<br />

Arbeit die Idee der Identität.<br />

Ist es etwas, das wir<br />

wählen oder das uns auferlegt<br />

wurde? Wir entdecken,<br />

dass Identität „flexibel“ ist<br />

und aus vielen kleinen Teilen besteht.<br />

Sie tanzen zu Wagner, der wegen seines offenen<br />

Antisemitismus umstritten ist. Eine Provokation<br />

oder der Versuch, Kunst und Künstler<br />

zu trennen?<br />

Wenn wir Wagner hören, ohne zu wissen,<br />

dass es Wagner ist, können wir sagen, dass<br />

es schöne Musik ist. Wenn wir wissen, dass<br />

es Wagner ist, fragen wir uns ständig, ob es<br />

in Ordnung ist, seine Musik zu genießen, wir<br />

spüren das Gewicht. Es provoziert Fragen und<br />

Unbehagen, und doch ...<br />

Sind Österreich und Deutschland aufgrund<br />

ihrer Vergangenheit ganz spezielle Spielorte<br />

für Ihr Stück?<br />

Ja. Geschichte ist immer präsent, unbestreitbar.<br />

Diese Arbeit in Wien zu zeigen, ist etwas<br />

ganz Besonderes. Es wird eine starke emotionale<br />

Erfahrung sein.<br />

Tanz bedeutet für Sie ganz persönlich ...<br />

... einen Weg, die Verwirrung und Freude auszudrücken,<br />

die wir alle teilen. Unsere Zerbrechlichkeit<br />

und Stärke als Menschen. Es<br />

ist der einzige Moment, in dem ich wirklich<br />

und frei sein kann.<br />

© Chris Waikiki; Ian Douglas; Thomas Dhanens; Pierre Planchenault<br />

wına-magazin.at<br />

61


SOMMER KALENDER<br />

STREET ART<br />

Wien Museum,<br />

Karlsplatz 5, 1040 Wien<br />

wienmuseum.at<br />

5. JULI BIS 1. SEPT. 2019<br />

WIEN.WILD.MUSEUM.<br />

Das Wien Museum am Karlsplatz<br />

hat für die folgenden<br />

Jahre seine Tore geschlossen,<br />

um einen trendig-coolen Betonaufbau<br />

zu bekommen. Und so<br />

bietet der eben erst leer gewordene<br />

Nachkriegsbau von Oswald<br />

Haerdtl in den folgenden<br />

Wochen unter dem Titel Takeover<br />

mit rund 2.000 Quadratmetern<br />

Platz genug für jugendliche<br />

Freiraum-Übernahmen. Bis 1.<br />

September dürfen nun – während<br />

draußen für den Neubau<br />

die alten Bäume gefällt werden<br />

– Street Art und Skateboarding<br />

hier Einzug nehmen. Was<br />

einst als „Sub“- und „Rand“-<br />

Kultur kritisch beäugt und vieldiskutiert<br />

wurde, ist heute also<br />

mitten im Herzen der Stadt angekommen.<br />

Und das ist gut so.<br />

Dass für den Aufbau mit geplantem<br />

regen Kaffeehausbetrieb,<br />

der wohl bis zur Karlskirche reichen<br />

wird, hingegen Grünraum<br />

verloren geht, dafür weniger.<br />

Beides wäre schön! In diesem<br />

Sinne: GREEN AND COOL: Ja zu<br />

Veränderungen, die für alle lebenswert<br />

sind!<br />

THEATER<br />

20 Uhr<br />

Burg Perchtoldsdorf,<br />

Paul-Katzberger-Platz 1,<br />

2380 Perchtoldsdorf<br />

sommerspiele-perchtoldsdorf.at<br />

AB 27. JUNI 2019<br />

SIE LACHEN AUS<br />

VERZWEIFLUNG<br />

Anton Tschechows Onkel Wanja, 1896<br />

am Moskauer Künstlertheater uraufgeführt<br />

und heute von keiner Bühne der<br />

Welt mehr wegzudenken, diese „Tragikomödie“,<br />

wie sie der Autor selbst<br />

nannte, die mehr Tragödie als Komödie<br />

ist, das Traurigste ihrer Figuren mit den<br />

lachenden Tränen des gesellschaftlichen<br />

und persönlichen Abgrunds erzählt,<br />

ist eine Ausnahmeerscheinung<br />

bei einem sommerlichen Festivalreigen<br />

wie dem Niederösterreichischen<br />

Theatersommer, der vor allem der Unterhaltung<br />

dienen will. Doch Regisseur<br />

Michael Sturminger sieht gerade darin<br />

eine der großen Qualitäten seiner Wahl<br />

für die von ihm geleiteten Sommerspiele<br />

im herrlichen Ambiente der Burg<br />

Perchtoldsdorf, ist Tschechows fein gebautes,<br />

filigranes Stück nicht zuletzt<br />

auch deswegen eine Herausforderung,<br />

da es gerade dessen in deutschsprachigen<br />

Inszenierungen oft verleugnete,<br />

fast absurde Komödiantik wiederzuentdecken<br />

und mit adäquater inszenatorischer<br />

Feinfühligkeit herauszuarbeiten<br />

gilt.<br />

theaterfest-noe.at<br />

KONZERT<br />

20.30 Uhr<br />

Porgy & Bess,<br />

Riemergasse 11, 1010 Wien<br />

porgy.at<br />

7. AUGUST 2019<br />

MULTIINSTRUMENTALIST<br />

AUS ISRAEL<br />

Adam Ben Ezra, 1982 in Tel<br />

Aviv-Jaffa geboren, bespielt<br />

heute weltweit die besten Bühnen<br />

– und gilt zudem als „You-<br />

Tube-Sensation“. Mit seinem Instrument,<br />

dem Kontrabass, hat<br />

sich der Mittdreißiger in den<br />

vergangenen Jahren einen einzigartigen<br />

Platz er- und in die<br />

vordersten Reihen seiner Kunst<br />

gespielt. Ezra, der „daneben“<br />

bereits seit seiner Kindheit Violine,<br />

Klavier, Klarinette, Oud,<br />

Flöte und Cajon spielt und sich<br />

mit 16 Jahren in den reichen<br />

Klang „seines“ Instruments verliebt<br />

hat, zählt zu den inspiriertesten,<br />

kreativsten und konsequentesten<br />

Vertretern seines<br />

Faches. Nun präsentiert er in<br />

Wien u. a. sein Debütalbum Can<br />

not Stop Running – und sich<br />

selbst damit als sensiblen Komponisten<br />

ohne musikalische<br />

Grenzen.<br />

adambenezra.com<br />

© Oliver Toman; Lalo Jodlbauer; Anne Golaz; Ian Douglas (Folk Incest); Mátyás Erdély<br />

62 wına | Juli_August 2019


VON ANGELA HEIDE<br />

FOTOGRAFIE<br />

Kunst Haus Wien<br />

Untere Weißgerberstraße 13, 1030 Wien<br />

kunsthauswien.com<br />

FESTIVAL<br />

verschiedene Orte und<br />

Beginnzeiten in ganz Wien<br />

impulstanz.com<br />

BIS 25. AUGUST 2019<br />

LAND.BILD.LEBEN.<br />

Leben am Land: Die einen träumen<br />

davon, die anderen erzählen<br />

von seinen Härten. Die einen fliehen<br />

davor in die Stadt, die anderen<br />

suchen danach und verlassen<br />

dafür auch schon mal die Konsumversprechen<br />

des urbanen Lebens.<br />

Vorstellung und Wirklichkeit sind<br />

auch hier oft weit voneinander entfernt,<br />

und doch ist das Leben auf<br />

dem Land, sind Dorf, Natur und<br />

Abkehr von der Hektik der städtischen<br />

Dauerschleife Themen, die<br />

in den letzten Jahren vermehrt<br />

auch in allen Genres der Kunst ihren<br />

Raum finden. Mit der aktuellen<br />

Ausstellung Über Leben am Land<br />

versucht das KUNST HAUS WIEN<br />

einen facettenreichen und reflektierten<br />

Blick auf den vielschichtigen<br />

Komplex „Land-Leben“ und<br />

versammelt Arbeiten von 20 österreichischen<br />

und internationalen<br />

Künstler*innen, deren fotografische<br />

Positionen und Videoarbeiten<br />

sich auf dokumentarische, inszenierende,<br />

persönliche und künstlerische<br />

Weise den unterschiedlichen<br />

Realitäten der „Provinz“<br />

annähern.<br />

Mit Arbeiten von Toni Amengual, Iris Andraschek,<br />

Miia Autio, Anatoliy Babiychuk, Peter<br />

Braunholz, Heinz Cibulka, Philipp Ebeling,<br />

Petros Efstathiadis, Bernhard Fuchs,<br />

Patrick Galbats, Anne Golaz, Nilbar Güres,<br />

Lois Hechenblaikner, Laura Henno, Joel<br />

Karppanen, Paul Kranzler, Paul Albert Leitner,<br />

Igor Samolet, Eva Szombat, Tara Wray<br />

11.JULIBIS11.AUGUST2019<br />

#36: WIEN TANZT WIEDER<br />

Auch die diesjährige Ausgabe des internationalen<br />

Tanzfestivals ImPulsTanz<br />

lässt, abgesehen vom überbordenden<br />

Kursangebot, mit 36 österreichischen<br />

Erstaufführungen, 12 Projekten in der<br />

Nachwuchsschiene [8:tension], 6 Uraufführungen,<br />

4 „Klassikern“ und 2 Neuinszenierungen<br />

an 21 Spielstätten ganz<br />

Wien in einen sommerlichen Tanzrausch<br />

versinken. Ein besonderes Augenmerk<br />

liegt 2019 auf Projekten, die sich mit generationsübergreifenden<br />

Traumata, Holocaust,<br />

körper-/sprachlicher Identitätssuche<br />

und jüdischer Tradition befassen.<br />

So ist die New Yorker Choreografin Juliana<br />

F. May, Enkelin einer vor der NS-<br />

Verfolgung geflohenen Wiener Jüdin, mit<br />

der österreichischen Erstaufführung von<br />

Folk Incest (20.7., 22.30 Uhr; 22.7., 21<br />

Uhr, VOLX Margareten) ebenso zu Gast<br />

wie die argentinische Choreografin Lisi<br />

Estaras, die mit ihrer Monkey Mind Company<br />

ihr Jewish Connection Project präsentiert<br />

(28.7., 21 Uhr, Volkstheater). Der<br />

in Frankreich lebende südafrikanische<br />

Performancekünstler Steven Cohen, der<br />

sich in seinen multidisziplinären Arbeiten<br />

immer wieder polarisierend mit seiner<br />

Identität als „jüdischer, schwuler,<br />

weißer Mann“ befasst, lädt zur mehrtägigen<br />

„Feldforschung“ Body Scenography<br />

(5.–9.8., 10–16 Uhr, TQW), und<br />

der aus Israel stammende Tänzer, Musiker<br />

und Choreograf Zvi Gotheiner befasst<br />

sich in seinem Workshop Ballet for<br />

Contemporary Dancers mit Fragen eines<br />

zeitgenössischen Tanz-„Unterrichts“<br />

und lädt dazu ein, „alte pädagogische<br />

Kriege beizulegen“.<br />

Mehr dazu auf Seite 60<br />

THEATER<br />

19.30 Uhr<br />

Perner Insel, Hallein<br />

salzburgerfestspiele.at<br />

17. BIS 27. AUGUST 2019<br />

UNSTERBLICHER<br />

HUTSCHENSCHLEUDERER<br />

„Da ist etwas Unsterbliches. Wahr<br />

bleibt, daß dieser Macher hier den<br />

Allergrößten verwandt ist. Daß ein<br />

Trickhändler Wunderbares geschaffen<br />

hat“, schrieb der sonst (und auch<br />

hier) eigenwillig scharfzüngige große<br />

Theaterkritiker Alfred Kerr 1914 anlässlich<br />

einer Aufführung von Ferenc<br />

Molnárs Liliom. Das Stück war<br />

1909 anlässlich seiner Budapester<br />

Uraufführung durchgefallen und<br />

hatte dessen Autor in eine veritable<br />

Krise gestürzt. Erst die österreichische<br />

Erstaufführung in einer Übertragung<br />

Alfred Polgars brachte der<br />

traurig-schönen Vorstadtlegende<br />

1913 jenen Erfolg, der Liliom, den<br />

unbelehrbaren Prater-Ausrufer, bis<br />

heute nahezu ungebrochen begleitet.<br />

Molnár, der selbst aufgrund seiner<br />

jüdischen Herkunft von 1940 an<br />

bis zu seinem Tod in New York lebte,<br />

erlebte Hollywood-Verfilmung und<br />

Musical-Adaption seiner ursprünglich<br />

als Schlummermärchen erschienenen<br />

Geschichte. Kornél Mundruczó,<br />

einer der wichtigsten ungarischen<br />

Regisseure unserer Zeit, führt Regie<br />

bei dieser Koproduktion der Salzburger<br />

Festspiele mit dem Thalia Theater<br />

Hamburg. Hochkarätig besetzt,<br />

bleibt auch dieser Liliom hoffnungslos<br />

in einer Welt, die der Sprachlosigkeit<br />

jener, die „draußen stehen“, nur<br />

wenige Chancen schenkt.<br />

Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />

Schreiben Sie uns einfach unter:<br />

wina.kulturkalender@gmail.com<br />

wına-magazin.at<br />

63


DAS LETZTE MAL<br />

Das letzte Mal ...<br />

gut behütet gefühlt haben wir<br />

uns …<br />

... zu unserer Hochzeit in<br />

Marokko, umzingelt von den<br />

100 Menschen, die wir am<br />

meisten auf dieser Welt lieben.<br />

Das letzte Mal, dass wir eine<br />

ganz besondere Kopfbedeckung<br />

trugen, war …<br />

... vor ein paar Jahren am Festival<br />

Burning Man, ein spirituelles<br />

Kunstfest in der Mitte der Wüste<br />

Nevadas, für das wir ganz besondere<br />

Hüte kreiert hatten.<br />

Das letzte Mal, dass wir keinen<br />

Hut dabei hatten, aber dringend<br />

einen gebraucht hätten, war …<br />

... zur Paris Fashion Week, bei<br />

der wir leider unsere Hüte zu<br />

Hause vergessen hatten.<br />

Es hat trotzdem geklappt, gute<br />

Kontakte zu machen.<br />

Das letzte Mal, dass wir an einem<br />

Ort gedacht haben, „hier könnten<br />

wir selbst als moderne Nomaden<br />

sesshaft werden“, war …<br />

... eigentlich immer mehr am<br />

Land, egal wo. Solange es grüne<br />

Natur und frische Luft gibt, fühlen<br />

wir uns dort wohl.<br />

Das letzte Mal auf etwas „den<br />

Hut draufg’haut“ haben wir ...<br />

Wir hauen nur mit Absicht auf den<br />

echten Nomade-Moderne-Hut, als<br />

künstlerischer Ausdruck. Sich so<br />

über etwas zu ärgern, dass man<br />

wirklich den Hut schmeißt, ist<br />

eine Zeitverschwendung. Da muss<br />

schon einiges schiefgehen, aber<br />

auch dann glauben wir eher daran,<br />

ihn wieder aufzuheben ... :-)<br />

DER ZEITVERSCHWENDER<br />

ARGER<br />

Es gibt für alles ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />

Audrey und Nuriel Molcho vom Hutlabel Nomade Moderne berichten in<br />

diesem Monat von brennenden Männern, dem Sesshaftwerden<br />

und 100 liebenswerten Menschen.<br />

Weil sie die perfekte Kopfbedeckung nicht fanden, erlernten Nuriel Molcho<br />

und seine heutige Ehefrau Audrey einfach selbst den Job des Modisten – und<br />

gründeten das Label Nomade Moderne. Mittlerweile haben sie nicht nur<br />

einen kleinen Shop auf dem Naschmarkt, sondern liefern ihre individuellen<br />

Maßhüte mit Materialien aus der halben Welt in die halbe Welt.<br />

Eines sind ihre Kreationen, die stets ein gewolltes Makel wie eine<br />

ausgefranste Krempe oder kleine Brandmale haben,<br />

allerdings immer noch nicht: perfekt. Und das ist auch gut so.<br />

nomade-moderne.com<br />

© Valerie Voithofer<br />

64 wına| Juli_August 2019

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