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Editorial<br />
Nach jahrelangen Stunden bei Therapeuten,<br />
Meditationskursen und Yogalehrern<br />
ist Frau Katz auf der Suche nach einem<br />
berühmten Guru im Himalaya. Sie fliegt von<br />
New York nach Deli, nimmt dort den Zug, reist<br />
dann weiter mit Rikschas und Yaks und schleppt<br />
sich die letzten Kilometer zu Fuß zum buddhistischen<br />
Kloster in den Bergen. Als sie klopft,<br />
macht ihr ein junger Mönch die Tür auf und teilt<br />
ihr mit, dass der Guru nicht zu sprechen sei, da<br />
er sich seit Wochen zurückgezogen habe und in<br />
einer Höhle meditiere. Frau Katz akzeptiert die<br />
Zurückweisung nicht und insistiert solange, bis<br />
ihr der Mönch unter folgenden Bedingungen<br />
eine Audienz gewährt: Das Treffen muss ganz<br />
kurz sein, sie muss sich vor dem Guru verbeugen,<br />
und sie darf nur zehn Worte zu ihm sprechen.<br />
Erschöpft, aber zufrieden stimmt sie dem zu und<br />
klettert mit letzter Kraft zur Höhle hinauf. Als sie<br />
hoch oben ankommt, verbeugt sie sich, damit sie<br />
durch den Höhleneingang kommt, holt tief Luft<br />
und schreit hinein: „Josele, es ist deine Mutter!<br />
Genug jetzt, komm nach Hause!“<br />
Etwa 30 Prozent der westlichen Buddhisten<br />
in den USA sind jüdischer Abstammung, so die<br />
Schätzungen. Die prägenden Persönlichkeiten<br />
der Aufmerksamkeitsbewegung, deren Wurzeln<br />
in der buddhistischen Lebensphilosophie stecken<br />
und die seit den Siebzigerjahren immer erfolgreicher<br />
versucht, jenen eine Antwort zu geben, die<br />
durch die industriellen Gesellschaften und deren<br />
Anforderungen zermürbt auf der Suche nach<br />
„Heilung, Ruhe und sich selbst sind“, sind in jüdischen<br />
Familien aufgewachsen. Was macht die<br />
asiatische Lebensphilosophie jedoch so attraktiv<br />
für viele Juden, was steckt hinter dem Phänomen<br />
JuBu (Jewish Buddhist), und gibt es tatsächlich<br />
Anknüpfungspunkte? Unter anderem versuchen<br />
wir im aktuellen Sommerheft auch diesen Fragen<br />
nachzugehen. So stellte Rodger Kamenetz<br />
vor bald 30 Jahren anlässlich einer historisch gewordenen<br />
Reise einer Gruppe von Rabbinern<br />
und jüdischen Gelehrten im Gespräch mit dem<br />
14. Dalai Lama folgende Fragen: Wie macht das<br />
Judentum mein inneres Leben besser? Wie kann<br />
ich darin Frieden finden? Und was bietet mir<br />
meine Religion dafür an Hilfe an? ‒ Und er fand<br />
die Antworten, mit denen er seither nicht nur<br />
sich selbst, sondern auch andere glücklicher und<br />
zufriedener macht. Sein Buch The Jew in the Lotus<br />
wurde zum internationalen Bestseller (Seite 8).<br />
Achtsam zu sein heißt, seine Aufmerksamkeit<br />
absichtsvoll auf Erfahrungen des gegenwärtigen<br />
Augenblicks zu richten ‒ und zwar auf eine<br />
bestimmte, eben eine „achtsame“<br />
Art und Weise, erklärt<br />
Jon Kabat-Zinn (Seite 6), Mitbegründer<br />
der Achtsamkeitsbewegung,<br />
die die Praxis der<br />
Achtsamkeit, die ihre Ursprünge<br />
im Buddhismus hat,<br />
von ihrem religiösen Bezug gelöst<br />
und sie damit auch Menschen<br />
anderer Religionen zugänglich<br />
gemacht hat. Neben<br />
ihrer positiven Wirkung auf<br />
das Individuum wird dies wohl<br />
einer der Gründe sein, warum<br />
so viele Suchende die Praxis<br />
der Achtsamkeit in ihr jüdisches<br />
Leben integriert haben.<br />
Eine Verbindung, die in einer Welt voller politischer,<br />
ökologischer und gesellschaftlicher Herausforderungen<br />
vielleicht uns allen einige heilsame<br />
Antworten bieten kann.<br />
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen<br />
wunderbaren, achtsamen Sommer. Genießen Sie<br />
die Zeit, das Leben und das Lesen!<br />
Julia Kaldori<br />
„Du kannst die<br />
Wellen nicht<br />
stoppen, aber<br />
Du kannst lernen<br />
zu surfen.“<br />
Jon Kabat-Zinn<br />
Die Wellen reiten.<br />
Sommertag<br />
am Strand in Bat<br />
Yam, Israel.<br />
© Yossi Zeliger / Flash90<br />
wına-magazin.at<br />
1
S.24<br />
Doron Rabinovici, ausgezeichnet<br />
mit dem Theodor-Herzl-Preis,<br />
über seine Beziehung zu Israel und<br />
zum Judentum und das Erinnern in<br />
Österreich.<br />
INHALT<br />
„Es ist eine Tatsache,<br />
dass die jüdische<br />
Existenz auf<br />
unserem<br />
Erdball<br />
prekär ist.“<br />
Doron Rabinovici<br />
IMPRESSUM:<br />
Medieninhaber (Verlag):<br />
JMV – Jüdische Medien- und Verlags-<br />
GmbH, Seitenstettengasse 4, 1010 Wien<br />
Chefredaktion: Julia Kaldori,<br />
office@jmv-wien.at<br />
Redaktion/Sekretariat:<br />
Inge Heitzinger (T. 01/53104–271)<br />
Anzeigenannahme:<br />
Manuela Glamm (T. 01/53104–272)<br />
Redaktionelle Beratung: Matthias Flödl<br />
Artdirektion: Noa Croitoru-Weissmann<br />
Web & Social Media: Agnieszka Madany<br />
Lektorat: Angela Heide<br />
Druck: Print Alliance HAV Produktions<br />
GmbH.<br />
MENSCHEN & MEINUNGEN<br />
06 Fokus auf den Moment<br />
Die Achtsamkeitsbewegung vereint asiatische<br />
Philosophie und westliche Lebensweise.<br />
Sie ist längst auch in der<br />
jüdischen Welt angekommen.<br />
08 The Jew in the Lotus<br />
1990 besuchte eine Gruppe jüdischer<br />
Gelehrter den 14. Dalai Lama. Ein Gespräch<br />
mit einem Teilnehmer und Autor<br />
Rodger Kamenetz.<br />
12 Kleine Helfer auf dem Weg<br />
Bücher, Videos und Blogs zum Thema<br />
Achtsamkeit.<br />
13 Büro mit Aussicht<br />
Die Wiederentdeckung des Kibbuz als<br />
Oase und Arbeitsplatz für digitale Nomaden.<br />
18 „Auf Augenhöhe“<br />
Martin Weiss, der scheidende Botschafter<br />
Österreichs in Israel sprach<br />
mit WINA über die Verbesserung der<br />
Beziehungen beider Staaten.<br />
20 „Technologie im Zentrum“<br />
Günther Schabhüttl vertritt als Wirtschaftsdelegierter<br />
österreichische Unternehmen<br />
in Tel Aviv – eine Zwischenbilanz.<br />
24 „Werde als Jude gelesen“<br />
Doron Rabinovici, ausgezeichnet mit<br />
dem Theodor-Herzl-Preis, spricht über<br />
seine Identitäten, seine Literatur und<br />
seine Rolle in der Öffentlichkeit.<br />
28 Als U-Boot überlebt<br />
Die Historikerin Brigitte Ungar-Klein<br />
legt mit Schattenexistenz ihre Forschung<br />
zum Überleben als U-Boot in<br />
der NS-Zeit in Buchform vor.<br />
32 Was alles noch Glück war<br />
Eine filmische Spurensuche von<br />
Ronny Böhmer nach dem Vater und<br />
ehemaligen Buchenwald-Häftling<br />
Robert Böhmer.<br />
36 Christliche Stigamtisierung<br />
Die Schoah baut auf dem vom Christentum<br />
geschürten Antisemitismus<br />
auf, meint Talmudphilologe Hyam<br />
Maccoby in seinem Buch Pariavolk.<br />
38 Bewahren, was einmal war<br />
Die Exilbibliothek im Literaturhaus bewahrt<br />
Objekte und Arbeiten von in<br />
der NS-Zeit verfolgten Künstlern und<br />
Künstlerinnen.<br />
40 Von der Niedertracht<br />
In Die Verleumdung beleuchtet Otto<br />
Hans Ressler den Antisemitismus im<br />
verherrlichten „Wien um 1900“ und<br />
spannt den Bogen ins Heute.<br />
„Sobald es einem<br />
wirtschaftlich besser geht,<br />
hat man das Gefühl,<br />
durch Teilen<br />
mehr zu<br />
verlieren.“<br />
Gerda Frey<br />
S.42<br />
S.58<br />
Die Eloquenz unserer Anatomie<br />
Auch in diesem Sommer übernehmen bei imPulsTanz –<br />
Vienna International Dance Festival die Stars des<br />
zeitgenössischen Tanzes die Bühnen der Walzerstadt.<br />
2 wına| Juli_August 2019
42 MenTschen<br />
Gerda Frey erlebte als Kleinkind die<br />
Flucht vor den Nazis. Sie vertrat eine<br />
Frauenorganisation bei der UNO und<br />
ist Kritikerin des Rechtspopulismus.<br />
44 Frauen machen Frieden<br />
Angela Scharf arbeitet mit Women<br />
Wage Peace an der Friedensfront –<br />
das Engagement für eine nachhaltige<br />
Lösung steht hier im Vordergrund.<br />
48 Kochen. Essen. Gutes Leben<br />
Neue Kochbücher mit Familienrezepten<br />
über Geschmacksdiaspora, Fusionen,<br />
kulinarische Assonanzen und Dissonanzen.<br />
KULTUR<br />
53 Start-up in Wien<br />
Historikerin Evelyn Adunka widmet<br />
sich in ihrem neuen Buch den beiden<br />
großen Zionistenkongressen in Wien<br />
vor rund 100 Jahren.<br />
54 In der Buckligen Welt<br />
Das neue Museum für Zeitgeschichte<br />
wird zum Zentrum der Erinnerung für<br />
21 niederösterreichische Gemeinden,<br />
in denen Juden vor 1938 lebten.<br />
56 Planen in der Krise<br />
Das Wiener Architekturzentrum<br />
zeigt noch bis 9. September die<br />
von Angelika Fitz und Elke Krasny<br />
kuratierte Schau Critical Care.<br />
WINA ONLINE:<br />
wina-magazin.at<br />
facebook.com/winamagazin<br />
WINASTANDARDS<br />
01 Editorial<br />
Coverfoto: © Daniel Shaked<br />
16 Nachrichten aus Tel Aviv<br />
Über die Legalisierung von Cannabis<br />
für den medizinischen Gebrauch<br />
22 Israel Blog<br />
Das einsame Leben von Israels<br />
Lone Soldiers<br />
46 Warum Wien<br />
Shneor Zivion ist Patissier und bäckt<br />
in der Leopoldstadt<br />
47 Generation unverhofft<br />
Für Gan-ya Ben-gur Akselrod ist<br />
Wien die Basis für ihre Weltkarriere<br />
50 WINA_kocht<br />
Hühnersuppe: Was ist dran am und<br />
drin im „jüdischen Penicillin“<br />
51 Matok & Maror<br />
Lunchen mit Geschichte im claro;<br />
im Tel Aviver Stadtteil Sarona<br />
58 WINA_Werkstädte<br />
Die Synagoge im finnischen Turku<br />
59 Urban Legends<br />
Paul Divjak über Frauen, die den<br />
Felix Krull geben<br />
60 WINA_Lebensart<br />
ImPulsTanz: Vier Künstler erzählen<br />
von ihrer jüdischen Identität<br />
62 SommerKalender<br />
WINA-Kulturtipps für Juli & August<br />
64 Das letzte Mal<br />
Audrey und Nuriel Molcho vom<br />
Hutlabel Nomade Moderne<br />
„Die Frauen<br />
sagten:<br />
‚Genug ist<br />
genug. Wir wollen<br />
unsere Söhne<br />
nicht mehr in<br />
den Krieg schicken.‘“<br />
Angela Scharf<br />
S.44<br />
Seit zwei Jahren engagiert<br />
sich die Ex-Wienerin Angela<br />
Scharf für die größte<br />
Basisbewegung Israels,<br />
Women Wage Peace,<br />
getragen von rund 45.000<br />
Frauen.<br />
wına-magazin.at<br />
3
HIGHLIGHTS | 01<br />
Ihre Dienste nicht<br />
mehr benötigt<br />
Gedenkstein vor der Volksoper erinnert<br />
an verfolgte, vertriebene und<br />
ermordete Ensemblemitglieder.<br />
„Gedenken und Erinnern hat immer<br />
nur dann einen Wert, wenn<br />
aus den geschichtlichen Erfahrungen<br />
auch die richtigen Lehren für<br />
die Gegenwart gezogen werden.<br />
Um das zu erreichen, sind historische<br />
Vergleiche nicht nur erlaubt,<br />
sondern unverzichtbar“, betonte<br />
Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister.<br />
Die Volksoper Wien hat den 120.<br />
Geburtstag des Hauses und das<br />
Gedenkjahr 2018 zum Anlass genommen,<br />
um jenen zu gedenken,<br />
die das Haus einst zum Glänzen<br />
gebracht und ab 1938 aufgrund<br />
ihrer nicht arischen Abstammung<br />
verfolgt und/oder ermordet wurden.<br />
Einerseits erschien das Buch<br />
von Marie-Theres Arnbom Ihre<br />
Dienste werden nicht mehr benötigt.<br />
Andererseits wurde<br />
ein Gedenkstein, der<br />
an die einstigen Ensemblemitglieder<br />
erinnert, vor dem<br />
Haupteingang der<br />
Volksoper aufgestellt.<br />
„Der Stein<br />
vor unserem Haus<br />
soll Ausdruck unseres<br />
Anliegens sein, niemals<br />
zu vergessen und derartige<br />
Entwicklungen niemals wieder<br />
zuzulassen“, sagte Volksopern-Geschäftsführer<br />
Christoph Landstätter<br />
bei der Zeremonie, der viele<br />
Künstler des Hauses und prominente<br />
Persönlichkeiten der Stadt<br />
beiwohnten.<br />
81<br />
Prozent<br />
der neulich von der FRA befragten<br />
jüdischen Europäer zwischen<br />
16 und 34 Jahren sagen, dass<br />
Antisemitismus ein Problem in ihren<br />
Ländern ist. 83 Prozent von ihnen<br />
glauben, dass er in den letzten fünf<br />
Jahren zugenommen hat.*<br />
jpr.org.uk<br />
ZITAT DES MONATS<br />
„Das Regime im<br />
Iran hat sich klar<br />
dafür entschieden,<br />
Terrorismus<br />
nicht nur zu finanzierenunddieAusrüstung<br />
dafürbereitzustellen,<br />
sondern Terrorismus,<br />
Gewalt und Unruhen im<br />
gesamten Nahen Osten<br />
sowie weltweit auch<br />
auf Kosten seiner<br />
eigenen Bevölkerung<br />
zu schüren.“<br />
US-Außenministerium<br />
Zukunft braucht<br />
Erinnerung. Der<br />
Gedenkstein vor der<br />
Volksoper in Wien<br />
erinnert an verfolgte<br />
und ermordete Mitglieder<br />
des Hauses.<br />
Über 70 Jahre unzertrennlich:<br />
Maria und<br />
Artrur Brauner, 2010<br />
in Berlin.<br />
100 Jahre<br />
unerschrocken<br />
Artur Brauner überlebte die<br />
Schoah im Versteck und ließ sich<br />
danach im Land der Täter nieder,<br />
wo er die Filmindustrie entscheidend<br />
mitprägte.<br />
So ausdauernd und lange wie kein<br />
anderer prägte Artur Brauner das<br />
deutsche und europäische Filmgeschehen<br />
der Nachkriegszeit.<br />
Stets unerschrocken und eigensinnig,<br />
lotete er die Grenzen zwischen<br />
Kunst und Kommerz aus.<br />
Er war besessen von seiner Arbeit<br />
und galt als „sehr sparsam“ im Privatleben.<br />
Großzügig war er jedoch,<br />
wenn Geld für eine Sache nötig<br />
war, die ihm am Herzen lag, dann<br />
habe er gerne und großzügig gegeben:<br />
für seine Familie in Israel<br />
ebenso wie für die Gedenkstätte<br />
Yad Vashem, erzählte Rabbiner<br />
Yitshak Ehrenberg bei der Beisetzung<br />
auf dem jüdischen Friedhof<br />
in Charlottenburg.<br />
Brauner, der 1918 in Łódź geboren<br />
wurde, überlebte den Holocaust,<br />
indem er sich in den Wäldern<br />
versteckte; ein Großteil<br />
seiner Familie wurde von den Nazis<br />
umgebracht. Seine Frau Maria,<br />
mit der er 70 Jahre verheiratet<br />
war, überlebte den Krieg mit gefälschten<br />
Papieren.<br />
1946 gründete er CCC Film und<br />
wurde zu einem der wichtigsten<br />
Produzenten des Landes. Neben<br />
vielen anderen Projekten erinnerte<br />
er in zahlreichen Filmen an das<br />
Schicksal von Holocaust-Opfern.<br />
Dazu gehörten Produktionen wie<br />
Morituri (1948), Hitlerjunge Salomon<br />
(1990) und Wunderkinder<br />
(2011).<br />
* Bericht des Institute for Jewish Policy Research im Auftrag der EU-Grundrechteagentur FRA<br />
4 wına| Juli_August 2019
FOTO DES MONATS<br />
ProtestegegenPolizeigewalt<br />
Solomon Tekah, ein 18-jähriger Israeli<br />
äthiopischerAbstammung,wurdevon<br />
einem Polizisten außer Dienst in einem<br />
Park in Kiryat Haim erschossen.<br />
Zehntausende Israelis protestierten<br />
landesweit gegen die Gewalttat.<br />
Tomer Neuberg/Flash90<br />
wına-magazin.at<br />
5
ABSICHTSVOLLE AUFMERKSAMKEIT<br />
Auf den Moment<br />
konzentrieren<br />
W<br />
as stellen Sie sich unter einer<br />
Essmediation vor? Was wäre<br />
Ihre Erwartung? Jon Kabat-<br />
Zinn würde Sie bitten, sich eine Rosine zu<br />
besorgen. Und dann dieser Anleitung zu<br />
folgen: „Die Herausforderung bei dieser<br />
geführten Meditation – und ihre Schönheit<br />
– liegt einfach darin, mit jedem Moment<br />
zu sein, so wie er ist: wenn Sie die<br />
Rosine sehen, sie in Ihrer Hand halten,<br />
sie mit Ihren Fingern spüren. Wenn Sie<br />
das Kauen der Rosine erwarten und wie<br />
es im Körper und im Mund spürbar sein<br />
wird. Wenn Sie die Rosine in den Mund<br />
nehmen und sie ‚empfangen‘, wenn Sie<br />
sie langsam und absichtsvoll kauen. Wenn<br />
Sie die Rosine in jedem Moment schmecken<br />
und spüren, wie sie sich mit der Zeit<br />
verändert. Wenn Sie die Rosine herunterschlucken,<br />
wenn der Impuls zu schlucken<br />
auftaucht und Sie darauf reagieren.<br />
Wenn Sie all die Gedanken und Emotionen<br />
wahrnehmen, die sich im Verlauf dessen<br />
in diesem Prozess zeigen. Und wenn<br />
Sie die lange Nachwirkung des Schluckens<br />
spüren. Und währenddessen sind<br />
Sie immer eingeladen, das Erkennen zu<br />
sein, das zu verkörpern, was die Erfahrung<br />
erkennt, wenn sich diese entfaltet – und<br />
in diesem Gewahrsein zu ruhen, Moment<br />
für Moment für Moment.“<br />
Jon Kabat-Zinn ist eine der Leitfiguren<br />
der Achtsamkeitsbewegung. Er definiert<br />
Achtsamkeit als Form der Aufmerksamkeit,<br />
die absichtsvoll ist, sich auf den<br />
gegenwärtigen Moment bezieht statt auf<br />
die Vergangenheit oder die Zukunft und<br />
nicht wertend ist. Dieser Ansatz kommt<br />
ursprünglich aus dem Buddhismus. Inzwischen<br />
ist er jedoch auch in der westlichen<br />
Welt angekommen: Losgelöst von<br />
religiöser Spiritualität hilft Achtsamkeit<br />
Menschen, im Hier und Jetzt besser zurechtzukommen.<br />
Das haben sich inzwischen<br />
auch große Konzerne oder Unternehmen<br />
wie Goldmann Sachs, General<br />
Mills oder die Target Corporation zu<br />
Die Achtsamkeitsbewegung holt buddhistische Meditation<br />
in die säkulare Welt. Beteiligt waren und sind bei dieser<br />
Transformation erstaunlich viele Juden und Jüdinnen.<br />
Von Alexia Weiss<br />
„Wenn wir konstant<br />
woanders leben als<br />
in der Gegenwart,<br />
können wir emotional<br />
nicht überleben.“<br />
Rabbiner Benjamin<br />
Epstein<br />
Benjamin Epstein:<br />
Living in the Presence:<br />
A Jewish Mindfulness<br />
Guide for Everyday Life.<br />
Urim Publications, 192 S.<br />
Jon Kabat-Zinn ist eine<br />
der Leitfiguren der jüdischen<br />
Achtsamkeitsbewegung.<br />
Nutze gemacht. Sie bieten ihren Mitarbeitern<br />
Achtsamkeitstrainings an.<br />
Auffallend viele Vertreter und Vertreterinnen<br />
der westlichen Achtsamkeitsbewegung<br />
sind jüdischer Herkunft: Kabat-<br />
Zinn gehört zu ihnen ebenso wie Sharon<br />
Salzberg, Daniel Goleman, Jacqueline<br />
Mandell oder Jack Kornfield. Viele von<br />
ihnen hatten sich in den 1970er in Indien<br />
auf die Suche nach Spiritualität gemacht<br />
und waren etwa bei dem Meditationslehrer<br />
Satya Narayan Goenka fündig geworden.<br />
Er stammte ursprünglich aus<br />
Burma und hatte sich dort mit buddhistischen<br />
Meditationspraktiken<br />
auseinandergesetzt, um seine Kopfschmerzen<br />
in den Griff zu bekommen.<br />
Er lernte in der Folge selbst<br />
6 wına| Juli_August 2019
WAHRNEHMUNG DER GEDANKEN<br />
© Manfred Witt/picturedesk.com<br />
Jahre lang und beschloss, nach Indien<br />
zu gehen, um sein Wissen weiterzugeben.<br />
Dort fehlte ihm aber die religiöse<br />
Autorität – Anhänger des Hinduismus<br />
fühlten sich nicht angesprochen. Sinnsuchende<br />
aus westlichen Ländern fanden<br />
seine Meditationstechnik<br />
dagegen attraktiv, unter ihnen<br />
auch einige Juden aus den USA.<br />
Jene, die sich vom Buddhismus<br />
angesprochen fühlten,<br />
waren meist säkular lebende<br />
Juden, sagt der Religionswissenschaftler<br />
Jeff Wilson, der<br />
2014 das Buch Mindful America<br />
herausbrachte. Er weist<br />
zudem auf eine Parallele zwischen<br />
Buddhismus und Psychoanalyse<br />
hin: Beide orten die<br />
Quelle von Leiden in der Seele.<br />
Hier setzten Kabat-Zinn, Goleman,<br />
Salzberg und Co. teilweise<br />
unabhängig voneinander<br />
an. Kabat-Zinn gründete 1979<br />
eine Stress Reduction Clinic in<br />
Massachusetts, wo er begann,<br />
sein Programm der achtsamkeitsbasierten<br />
Stressreduktion<br />
(MBSR – Mindfulness-Based<br />
Stress Reduction) zu vermitteln. Die darin<br />
enthaltenen Übungen setzen sich aus<br />
Hatha Yoga, Vipassana und Zen zusammen.<br />
1995 etablierte er, ebenfalls in Massachusetts,<br />
ein Zentrum für Achtsamkeit<br />
in Medizin, Gesundheitswesen und<br />
Gesellschaft.<br />
Sieht man sich die Publikationen Kabat-Zinns<br />
an (einige von ihnen liegen<br />
auch in deutscher Übersetzung vor),<br />
fällt der Aspekt des Selbstheilens auf.<br />
Gesund durch Meditation. Das große Buch<br />
der Selbstheilung mit MBSR nennt sich<br />
zum Beispiel eines seiner Standardwerke.<br />
Sein deutscher Verlag Knaur unterstreicht,<br />
ihm sei es als Erstem gelungen,<br />
die Achtsamkeitspraxis systematisch in<br />
die medizinische Praxis zu integrieren.<br />
In einer Einführung in die MBSR-<br />
Praxis umreißt Kabat-Zinn den Unterschied<br />
zwischen seiner Methode und<br />
anderen Meditationspraktiken. „In der<br />
Übung von Achtsamkeit macht man anfangs<br />
Gebrauch von einer eingerichteten<br />
Aufmerksamkeit, um Ruhe und Beständigkeit<br />
zu kultivieren, doch anschließend<br />
geht man darüber hinaus, indem man die<br />
Objekte der Beobachtung erweitert sowie<br />
ein Element des Erforschens einbringt.<br />
Wenn Gedanken oder Gefühle<br />
entstehen, ignoriert man sie nicht, noch<br />
unterdrückt man sie, noch analysiert oder<br />
beurteilt man ihren Inhalt. Stattdessen betrachtet<br />
man sie, absichtlich und so gut<br />
man kann, ohne sie zu bewerten, wie sie<br />
von Moment zu Moment als Ereignisse<br />
im Feld des Gewahrsams entstehen. Ironischerweise<br />
führt diese umfassende Wahrnehmung<br />
der Gedanken, die im Geist entstehen<br />
und vergehen, dazu, dass man sich<br />
weniger in ihnen verstrickt. Der Beobachter<br />
erhält einen tieferen Einblick in seine<br />
Reaktionsweisen auf das Alltägliche und<br />
auf Schwierigkeiten. Indem die Gedanken<br />
und Gefühle aus einem gewissen Abstand<br />
heraus betrachtet werden, kann klarer erkannt<br />
werden, was tatsächlich im Geist<br />
abläuft. Es wird gesehen, wie ein Gedanke<br />
nach dem anderen entsteht und vergeht.<br />
Man kann den Inhalt der Gedanken benennen,<br />
die Gefühle, die mit ihnen verbunden<br />
sind, und dann auch die Reaktionen<br />
auf diese Gefühle.“<br />
Kabat-Zinn arbeitet auch bei dem 1990<br />
vom Dalai Lama ins Leben gerufenen<br />
Mind and Life Institute in Virginia mit.<br />
Ziel der Organisation ist es, einen Dialog<br />
zwischen moderner Wissenschaft und<br />
Buddhismus zu fördern, um die Möglichkeiten<br />
und Einsichten, die sich aus einem<br />
solchen Dialog ergeben können, zu erforschen.<br />
Einer, der ebenfalls an den Konferenzen<br />
dieser Einrichtung beteiligt ist,<br />
ist Daniel Goleman. Auch er setzt auf die<br />
heilende Kraft der Gefühle und ist sich<br />
sicher, dass destruktive Emotionen überwunden<br />
werden können. Sharon Salzberg,<br />
Jack Kornfield und Joseph Goldstein wiederum<br />
gründeten in den 1970er-Jahren in<br />
Massachusetts die Insight Meditation Society.<br />
Sie widmet sich dem Studium des<br />
Buddhismus und vermittelt in Klausuren<br />
Meditationstechniken.<br />
Interessant ist, dass das Thema Achtsamkeit<br />
inzwischen auch aus jüdischer religiöser<br />
Perspektive beleuchtet und eingesetzt<br />
wird. Dieses Frühjahr veröffentlichte<br />
Rabbiner Benjamin Epstein das Buch Living<br />
in the Presence: A Jewish Mindfulness<br />
Guide to Everyday Life. Er betont, dass die<br />
psychologische Forschung gezeigt habe,<br />
dass es ebenso wichtig ist, in der Gegenwart<br />
zu leben, wie zu atmen, zu essen und<br />
zu schlafen. Es mache Menschen krank,<br />
wenn sie die Vergangenheit bedauern<br />
oder die Zukunft fürchten. „Wenn wir<br />
konstant woanders leben als in der Gegenwart,<br />
können wir emotional nicht<br />
überleben“, meint Epstein.<br />
Was allen Achtsamkeitsvertretern gemeinsam<br />
ist: Sie legen den Fokus auf das<br />
Hier und Jetzt. Sie lehren, wie man im<br />
Moment lebt und sich auf diesen konzentriert.<br />
Sie leiten an, wie durch das Besinnen<br />
auf vermeintlich Kleines mehr Klarheit<br />
im Blick auf das Ganze entsteht. Dass<br />
große Firmen inzwischen auf Achtsamkeitstrainings<br />
setzen, zeigt, dass durch<br />
Achtsamkeit am Ende auch effizienteres<br />
Arbeiten möglich gemacht wird. Es ist allerdings<br />
zu bezweifeln, dass dies im Sinn<br />
von Kabat-Zinn, Goleman oder Salzberg<br />
ist. Sie setzen auf Achtsamkeit, um zu einer<br />
inneren Ausgeglichenheit und in der<br />
Folge auch zu einer besseren Gesundheit<br />
zu kommen. Ihnen geht es um das Individuum<br />
und dessen besseren Umgang<br />
mit allem, womit es konfrontiert ist – und<br />
nicht um das Optimieren etwa von Arbeitsabläufen<br />
oder eine Anleitung, wie<br />
die einzelne Person künftig alles anders<br />
macht.<br />
Hier sei nochmals Kabat-Zinn zitiert:<br />
„Viele Leute denken, dass das Ziel der<br />
Meditation darin bestünde, die Wellen zu<br />
verhindern, so dass die Oberfläche flach,<br />
friedlich und ruhig wird. Doch dies ist<br />
eine irreführende Vorstellung. Viel besser<br />
wird der wahre Geist der Achtsamkeitspraxis<br />
von folgendem Bild illustriert, das<br />
mir einst jemand beschrieb: Es zeigt einen<br />
etwa 70-jährigen Yogi, Swami Satchidananda,<br />
wie er, mit weißem Rauschebart<br />
und wehenden Roben, auf einem Surfbrett<br />
stehend in Hawaii auf einer Welle<br />
reitet. Die Überschrift lautete: ‚Du kannst<br />
die Wellen nicht stoppen, aber du kannst<br />
lernen, sie zu reiten.‘ “ <br />
wına-magazin.at<br />
7
INTERVIEW MIT RODGER KAMENETZ<br />
Ein Pool<br />
aus Nektar<br />
Große Weisen<br />
Der 14. Dalai Lama im<br />
Gespräch mit Rabbi Zalman<br />
Schachter-Shalomi.<br />
© Rodger Kamenetz<br />
8 wına| Juli_August 2019
INTERRELIGIÖSER DIALOG<br />
1994 erschien Rodger Kamenetz’ Bestseller The Jew<br />
in the Lotus erstmals. Er ist die Dokumentation eines<br />
historischen Treffens zwischen dem Dalai Lama und<br />
jüdischen Führern in Indien. Er ist aber auch die Geschichte<br />
eines Mannes, der seine jüdische Identität und Spiritualität neu<br />
entdeckt hat. Zum 25-Jahre-Buchjubiläum erzählt der Autor,<br />
warum er weit reisen musste, um zu finden, was er<br />
längst zuhause hatte.<br />
Von Daniela Schuster<br />
Rodger Kamenetz:<br />
The Jew in the Lotus.<br />
A Poet’s Rediscovery<br />
of Jewish Identity in<br />
Buddhist India.<br />
HarperOne,<br />
336 S., € 13,98<br />
I<br />
m Oktober 1990 brach eine Gruppe<br />
von acht Rabbis nach Dharamsala im<br />
Nordwesten Indiens auf, um den Dalai<br />
Lama zu treffen. Seine Heiligkeit hatte<br />
die jüdische Delegation eingeladen und<br />
eine Bitte geäußert: „Verratet mir euer Geheimnis<br />
– das Geheimnis des spirituellen Überlebens<br />
im Exil.“ Er, der 1959 nach blutig niedergeschlagenen<br />
Straßendemonstrationen für die<br />
Freiheit und Unabhängigkeit Tibets aus seiner<br />
chinesisch besetzten Heimat hatte fliehen müssen<br />
und seitdem im indischen Bundesstaat Himachal<br />
Pradesh am Fuße des Himalaja lebte,<br />
erhoffte sich Hilfe und Antworten. Von den<br />
jüdischen Führern, vor allem aber von einem<br />
Volk, das selbst über Jahrtausende der Verfolgung<br />
ausgesetzt war und es dennoch geschafft<br />
hatte, seine religiösen Bräuche und esoterischen<br />
Traditionen zu bewahren.<br />
Über eine Woche hinweg entwickelte sich<br />
ein nie zuvor dagewesener interreligiöser Dialog.<br />
Es war ein Austausch über Unterschiede,<br />
aber vor allem eine Entdeckung von Gemeinsamkeiten,<br />
nicht zuletzt Mystik und Meditation<br />
betreffend. Und am Ende war es nicht nur<br />
der Dalai Lama, der von seinen Gästen lernte,<br />
sondern auch umgekehrt: „Das Judentum<br />
durch seine Augen zu betrachten, ließ es in seiner<br />
ganzen Schönheit erstrahlen“, erinnert sich<br />
Rodger Kamenetz.<br />
Der damals 40-jährige amerikanische<br />
Schriftsteller und spätere Professor für Englisch<br />
und religiöse Studien an der Louisiana State<br />
University in Baton Rouge war der Einladung<br />
seines guten Freundes Dr. Marc Lieberman gefolgt,<br />
der die Delegationsreise organisiert hatte.<br />
Er sollte die oft stundenlangen Gespräche dokumentieren.<br />
Auf den ersten Blick hätte Liebermans<br />
Wahl des Chronisten nicht schlechter ausfallen<br />
können. Denn Kamenetz war nicht sehr<br />
spirituell. Zudem hatte er kurz zuvor ein Kind<br />
verloren und wurde nicht nur von Schmerz, sondern<br />
auch von Selbstzweifeln zerfressen, nachdem<br />
er auch noch einen Buchauftrag verloren<br />
hatte. Kurz: Er fühlte sich der Aufgabe alles andere<br />
als gewachsen, wie er 1999 in einer filmischen<br />
Dokumentation über das Treffen erzählte:<br />
„Warum war ich dort? Keine Ahnung.“<br />
In Dharamsala und umgeben von der Not<br />
und Armut der Tibetaner, die ihr Schicksal mit<br />
Gleichmut und Entschlossenheit schulterten,<br />
begann seine Schutzfassade aus Zynismus und<br />
Selbstentwertung jedoch schnell zu bröckeln.<br />
Anfangs nur Zeuge der Gespräche zwischen<br />
den Rabbis und dem Dalai Lama über das spirituelle<br />
Überleben eines Volkes im Exil, entdeckte<br />
Rodger Kamenetz in ihren Lektionen<br />
bald einen Weg aus seinem persönlichen Exil<br />
des Schmerzes.<br />
Es war eine Erfahrung, die Kamenetz und<br />
sein Leben für immer verändern sollte und die<br />
er in seinem 1994 erschienenen Buch The Jew<br />
in the Lotus festhielt. Zum 25-Jahre-Jubiläum<br />
seines internationalen Bestsellers, der nicht<br />
weniger als 37-mal neu aufgelegt wurde und<br />
heute Pflichtlektüre im Religionsunterricht an<br />
vielen US-Colleges ist, bat WINA den Autor<br />
zum Interview.<br />
wına-magazin.at<br />
9
SPIRITUELLER PFAD<br />
WINA: Mr Kamenetz, Ihr Buch trägt den Untertitel<br />
„A Poet’s Rediscovery of Jewish Identity in Buddhist<br />
India“. Sie schreiben darin, die Begegnung mit<br />
dem Dalai Lama habe Sie verändert – auch als Jude.<br />
Gab es einen Schlüsselmoment?<br />
Rodger Kamenetz: Ich glaube, der Moment, in dem<br />
der Schlüssel umgedreht wurde, war jener, als der Dalai<br />
Lama fragte, wie unser inneres Leben als Juden<br />
aussehe. Eine charakteristisch-buddhistische Frage,<br />
gestellt aus persönlicher Neugier. Ich wusste darauf<br />
keine Antwort. Denn ich hatte mein Jüdischsein bis<br />
dahin nicht als Pfad der inneren Transformation erlebt,<br />
sondern primär als ethnische Identität empfunden.<br />
Die damit verbundenen Traditionen und Riten<br />
lebte ich entsprechend: oberflächlich, äußerlich, ohne<br />
Kawana. Kein Wunder, dass ich mich leer fühlte, verloren,<br />
haltlos. Noch dazu hatte ich einige Zeit zuvor<br />
ein Kind verloren, und meine Karriere als Schriftsteller<br />
stockte auch. Doch der Weg zu mir selbst und zur<br />
Heilung war damals etwas, das ich nicht im Glauben,<br />
sondern eher beim Psychiater gesucht hätte. Die<br />
Frage Seiner Heiligkeit hatte aber etwas in mir angestoßen.<br />
Ich fing an, Fragen zu stellen, die mir vorher<br />
nie in den Sinn gekommen waren: Wie machte das<br />
Judentum mein inneres Leben besser? Wie konnte<br />
ich darin Frieden finden? Und was bot mir meine<br />
Religion dafür an Hilfe an?<br />
Rodger Kamenetz<br />
„Ich hatte<br />
meinJüdischseinbisdahin<br />
nicht als Pfad<br />
der inneren<br />
Transformation<br />
erlebt, sondern<br />
primär<br />
als ethnische<br />
Identitätempfunden.“<br />
Welche Antworten haben Sie in Indien auf diese Fragen<br />
gefunden?<br />
❙ Im Haupttempel von Dharamsala gibt es einen<br />
Buddha, der vor einem Pool sitzt. Darin ist kein Wasser,<br />
sondern Nektar, klar und süß. Dieses Bild ist<br />
für mich zum Symbol unserer Reise geworden. Der<br />
Dialog mit dem Dalai Lama und den Buddhisten<br />
ließ mich – und natürlich auch alle anderen Mitglieder<br />
der Delegation – das Judentum durch ihre<br />
Widerspiegelung klarer und süßer sehen als je zuvor<br />
– ohne seinen historischen Ballast und die lange<br />
Geschichte des Antisemitismus, dafür voll spiritueller<br />
Weisheit. Seine Heiligkeit ließ mit seiner Wissbegierde<br />
die jüdische Tradition lebendig werden. Im<br />
Grunde haben wir nicht ihm das Geheimnis unseres<br />
spirituellen Überlebens im Exil verraten, er hat<br />
es uns aufgezeigt. Ich begann zu realisieren, wie sehr<br />
ich den Wert und die tiefgehende Kraft meiner eigenen<br />
Traditionen unterschätzt hatte – angefangen<br />
bei den Bräuchen über die Gebete bis hin zur jüdischen<br />
Meditation, zum Chanting und zur Kabbala-<br />
Mystik, von deren Existenz ich bis dahin kaum etwas<br />
gewusst hatte. Der buddhistische Blickwinkel<br />
auf das Judentum und die Gespräche haben mir aufgezeigt,<br />
dass meine Religion genau jenen spirituellen<br />
Pfad zu innerer Transformation bereithielt, den<br />
ich so lange vermisst und gesucht hatte.<br />
Sie sind nicht der Einzige, der weit reisen musste,<br />
um zu entdecken, was er zu Hause finden kann. Warum<br />
führt die Suche nach spiritueller Bereicherung<br />
noch immer viele junge Juden nach Fernost statt in<br />
die heimische Synagoge?<br />
❙ Tatsächlich lassen sich viele Elemente fernöstlicher<br />
Spiritualität auch im Judentum finden. Sie haben<br />
dort eine jahrtausendelange Tradition. Aus biblischen<br />
und selbst vorbiblischen Quellen ist zum Beispiel<br />
überliefert, dass die Meditation eine zentrale<br />
Bedeutung bei der prophetischen Erfahrung hatte.<br />
© Rodger Kamenetz<br />
10 wına| Juli_August 2019
INNERE TRANSFORMATION<br />
Und es gibt auch Belege dafür, dass in der Zeit, in der<br />
die Bibel geschrieben wurde, Meditation von einem<br />
großen Teil des israelischen Volkes praktiziert wurde.<br />
Doch ich erinnere mich noch genau, wie erstaunt<br />
und erhellt ich selbst war, als ich damals durch den<br />
Dialog der Rabbis Zalman Schachter-Shalomi und<br />
Jonathan Omer-Man mit dem Dalai Lama lernte,<br />
welch mächtige Werkzeuge zur inneren Transformation<br />
das Judentum eigentlich bietet. Ich denke,<br />
so wie mir, geht es vielen Juden: Obwohl die Sehnsucht<br />
und der Bedarf danach groß sind, ist das Wissen<br />
um die spirituellen und esoterischen Techniken<br />
des Judentums verloren gegangen. Kein Wunder also,<br />
dass sich viele Juden anderen fernöstlichen Praktiken<br />
wie Tantra oder Yoga oder auch dem Buddhismus<br />
zuwenden, bei dem etwa Meditationslehren jedem<br />
offen stehen.<br />
Welche Gründe sehen Sie für das (Ver-)Schwinden<br />
der spirituellen und esoterischen Techniken des Judentums?<br />
❙ In einer schnellen, modernen, säkularisierten Welt<br />
haben es Mindfulness, Achtsamkeit und Spiritualität<br />
insgesamt nicht leicht – obwohl sie als Gegengewicht<br />
umso wichtiger wären. Aber es liegt nicht nur<br />
daran: Auch die jüdische Aufklärung, die den Intellekt<br />
ansprechen wollte und Rationalismus auf Kosten<br />
anderer jüdischer Werte propagierte, hat sicher<br />
zum Verschwinden der jüdischen Mystik und speziell<br />
der Meditation beigetragen. Vor ungefähr 150 Jahren<br />
verschwanden einfach alle Bezüge darauf aus der<br />
jüdischen Mainstreamliteratur. Hinzu kommt auch<br />
noch, dass etwa Meditationstechniken oft geheim<br />
gehalten und nur von einer kleinen Elite praktiziert<br />
wurden. Nur wenigen war gestattet, in die Geheimnisse<br />
eingeweiht zu werden. Frauen war es zum Beispiel<br />
nicht erlaubt. Der Dalai Lama ermutigte uns<br />
übrigens zur Öffnung: „Wenn man zu viele Geheimnisse<br />
um etwas macht, dann wird die Tradition verschwinden“,<br />
sagte er.<br />
Wie und wo hat diese Öffnung inzwischen stattgefunden?<br />
RODGER KAMENETZ,<br />
geboren 1950 in Baltimore,<br />
hat Abschlüsse in Yale, Johns<br />
HopkinsundStanford.Ander<br />
LouisianaStateUniversitywar<br />
er Professor für Englisch und<br />
fürReligionswissenschaftund<br />
gründetedasMFA-Programm<br />
für kreatives Schreiben und<br />
das Nebenfach Judaistik. Er<br />
lebt heute in New Orleans.<br />
Kamenetz war Mitglied jener<br />
Gruppe jüdischer Gelehrter<br />
und Rabbiner, die<br />
1990 den 14. Dalai Lama<br />
in Dharamsala besuchten.<br />
Über seine Erlebnisse und Erfahrungendortberichteteder<br />
AutormehrererGedichtbände<br />
und Prosawerke in The Jew in<br />
theLotus,daszuminternationalen<br />
Bestseller wurde.<br />
rodgerkamenetz.com<br />
„Ich lasse<br />
meine ‚jüdische<br />
Seele‘ jeden<br />
Tag wachsen.<br />
Dank meiner<br />
Erfahrungen<br />
inIndienkann<br />
ich das heute<br />
überall tun.“<br />
❙ Inzwischen holt unter anderem die Jewish-Renewal-Bewegung<br />
diese uralten Traditionen wie etwa<br />
jüdische Meditation zurück in die Moderne und<br />
ins Leben und macht sie so für jeden zugänglich.<br />
Und das Internet und die Globalisierung erleichtern<br />
es natürlich, etwas über die esoterischen Geheimnisse<br />
des Judentums zu erfahren. Ich begrüße<br />
diesen Weg zur Spiritualität ohne Umwege über<br />
buddhistische Meditation oder hinduistisches<br />
Yoga. Wenn wir es schaffen, den Menschen die<br />
Schönheit, die Freude und die Tiefe des Judentums<br />
zu vermitteln, wenn wir ihnen etwas bieten,<br />
wo sie anknüpfen können und wollen, dann werden<br />
sie sich auch nicht etwas anderem zuwenden.<br />
Wie gehen Sie den spirituellen Pfad, den Sie vor<br />
fast 30 Jahre beschritten haben, heute und im<br />
Alltag weiter?<br />
❙ Meine Suche nach innerer Transformation wird<br />
nie abgeschlossen sein. Ich lasse meine „jüdische<br />
Seele“ jeden Tag wachsen. Dank meiner Erfahrungen<br />
in Indien kann ich das heute überall tun<br />
– in der Synagoge, in der Natur, zuhause ... Es<br />
ist dabei gar nicht so sehr die Ausübung meines<br />
Glaubens, die sich seit damals verändert hat.<br />
Ich zelebriere zum Beispiel den Sabbat-Abend<br />
mit meiner Familie noch genauso wie vor meiner<br />
Reise. Aber heute ist da mehr als nur die äußere<br />
Form, das reine Befolgen einer Reihe von traditionellen<br />
Handlungen. Wenn ich jetzt die Kerzen anzünde<br />
und der Segen über Brot und Wein gesprochen<br />
wird, geschieht das achtsam, mit Kawana.<br />
Indem ich mich etwa auf meinen Atem konzentriere,<br />
versuche, mich selbst körperlich, seelisch<br />
und geistig mit dem Geist des Sabbats zu verbinden.<br />
Es ist schön, dass ich unsere Gebete und Zeremonien<br />
inzwischen als Weg erleben kann und<br />
darf, um dieses friedvolle, zufriedene Gefühl des<br />
Feiertages noch zu vertiefen. Und ich kann jedem<br />
nur nahelegen, sich aufzumachen, den spirituellen<br />
Reichtum zu entdecken, der sich in unserer<br />
mystischen Tradition und der Thora verbirgt.<br />
Welch ein Gewinn!<br />
wına-magazin.at<br />
11
MINDFUL JEWISH<br />
WINA TIPPS<br />
Kleine Helfer auf dem Weg zu mehr<br />
Mindfulness<br />
BÜCHER<br />
Das Buch der Wunder<br />
Jüdische Spiritualität für<br />
junge Menschen<br />
Lawrence Kushner, Rabbi und Professor<br />
für jüdische Spiritualität und Mystik,<br />
hat ausgehend von Thora, Midrasch und<br />
Talmud tiefsinnige Geschichten für Kinder<br />
und Jugendliche zwischen 9 und 13<br />
Jahren geschrieben. Doch auch für Erwachsene<br />
ist dieses Buch ein Gewinn.<br />
Es regt an, die Welt der jüdischen Spiritualität<br />
und Mystik zu erkunden und dabei<br />
zu entdecken, wie man jeden Tag<br />
spirituell bewusst bleiben kann.<br />
Jüdische Verlagsanstalt Berlin,<br />
€ 12,90 über amazon.de<br />
YOUTUBE-VIDEOS<br />
Inzwischen findet man auf YouTube eine<br />
Vielzahl von Beiträgen über jüdische<br />
Spiritualität, Mindfulness und Kabbala.<br />
Das Angebot reicht von inspirierenden<br />
Talks und Vorträgen bis zu praktischen<br />
Anleitungen für Atemübungen oder geführte<br />
Meditationen.<br />
Empfehlenswert ist etwa der Channel<br />
Guided Jewish Meditations. Jede der<br />
Meditationen ist rund 30 Minuten lang.<br />
Auch der Channel ELI Talks ist einen<br />
Klick wert, darunter etwa das Video<br />
A Journey Toward Jewish Mindfulness<br />
oder Falling in Love with Prayer.<br />
Den Himmel auf die<br />
Erde bringen<br />
Die Weisheit des Rabbi Schneerson<br />
aus New York – 365 Meditationen für<br />
jeden Tag<br />
Herausgeber Tzvi Freeman versammelt<br />
365 Meditationen, die auf die Lehren des<br />
chassidischen Meisters Rebbe Menachem<br />
Mendel Schneerson zurückgehen. Das<br />
Buch enthält einen kurzen, aber inhaltsvollen<br />
Gedanken zu jedem Tag des Jahres,<br />
die zum Nachdenken anregen und Zuversicht<br />
vermitteln. Sie kreisen um einen wesentlichen<br />
Gedanken: die Verschmelzung<br />
erhabenster spiritueller Höhen mit der<br />
weltlichsten materiellen Formenwelt.<br />
Books & Bagels, € 20,90<br />
über literaturhandlung.com<br />
DIGITALE MEDIEN<br />
APP Insight Timer<br />
Der Insight Timer ist eine kostenlose Meditationsapp<br />
für Ios und Android. Einmal eingeloggt,<br />
findet man eine schier unendliche<br />
Auswahl an Meditationsanleitungen von<br />
namhaften, aber auch weniger bekannten<br />
Meditations- und Achtsamkeitslehrern sowie<br />
Vorträge von Neurowissenschaftlern,<br />
Psychologen, Rabbis. Empfehlenswert für<br />
Anfänger und Fortgeschrittene sind zum<br />
Beispiel folgende geführte Meditationen:<br />
Meditation zum jüdischen Jahresrückblick<br />
sowie Returning Home: Teshuvah und Jewish<br />
Meditation: Light From Darkness von<br />
Rabbi Jill Zimmerman. Über die App kann<br />
man zudem Interessengruppen für einen<br />
regen Austausch über spirituelle Themen<br />
beitreten, etwa der Gruppe „Kabalah Meditation“<br />
oder dem Netzwerk „The Jewish<br />
Mindfulness Network“.<br />
Kostenlos im App-Store<br />
Das Buch vom Sinn<br />
Meditationen, die mich mein<br />
Rebbe lehrte<br />
Dieses kleine Buch enthält kurze Meditationen,<br />
die Jahrtausende alte jüdische<br />
Weisheiten über die Sinnfrage in sich bergen<br />
und einen Weg in eine bessere Zukunft<br />
weisen. Sie gehen auf die Worte und<br />
Gedanken von Rabbi Menachem Mendel<br />
Schneerson (1902–1994) zurück, der<br />
von Juden weltweit immer noch als „der<br />
Rebbe“ betrachtet wird. Zusammengestellt<br />
hat sie Tzvi Freeman, Autor zahlreicher Bücher<br />
und Artikel über jüdische Mystik und<br />
Philosophie.<br />
Books & Bagels, € 19,95<br />
über literaturhandlung.com<br />
BLOG<br />
Es gibt auch einige jüdische Blogger,<br />
die sich intensiv mit dem<br />
Thema Mindfulness auseinandersetzen.<br />
Rabbi Yael Levy schreibt<br />
etwa aufawayin.org unter der Rubrik<br />
„Teachings“ beinahe täglich zum<br />
Nachdenken und Mitmachen anregende<br />
Texte und Anleitungen und<br />
bietet in der Rubrik „Meditations“<br />
mittels Audiodateien geführte Meditationen<br />
an. Lohnend ist auch der<br />
Besuch auf mindfuljudaism.com/<br />
blog von Adam Fogel, einem Psychologen<br />
und Familientherapeuten<br />
in Kalifornien.<br />
12 wına| Juli_August 2019
DIGITALE NOMADEN<br />
© Almog Gurevich<br />
Sie arbeiten überall und nirgends,<br />
auf Parkbänken, von zu<br />
Hause und in diversen Hotelzimmern<br />
im Ausland. Und in<br />
Tel Avivs Kaffeehäusern sind<br />
sie zu beinahe jeder Tageszeit mit ihren<br />
Laptops anzutreffen. Ebenso wie ihre internationalen<br />
Kollegen sind Israels digitale<br />
Nomaden auf keinen festen Arbeitsplatz<br />
angewiesen, sie brauchen nur ihren<br />
Computer, ein Handy und eventuell noch<br />
einen Internetzugang, um ihren Job zu<br />
machen.<br />
Laut Wikipedia ist ein digitaler Nomade<br />
ein Unternehmer oder auch Arbeitnehmer,<br />
der fast ausschließlich digitale<br />
Technologien anwendet, um seine<br />
Arbeit zu verrichten, und zugleich ein<br />
eher ortsunabhängiges beziehungsweise<br />
multilokales Leben führt. So jemand wird<br />
auch als Internet-Nomade, Büro-Nomade<br />
oder urbaner Nomade bezeichnet.<br />
Es geht also um ein städtisches Phänomen,<br />
doch Omer Har-Shai, selbst so ein<br />
digitaler urbaner Nomade, hat beschlossen,<br />
seinesgleichen eine Erfahrung am<br />
Büro mit<br />
AUSSICHT<br />
Ein junger israelischer<br />
Unternehmer erfindet die<br />
Kibbuz-Erfahrung neu –<br />
diesmal in Kombination<br />
mit modernen Arbeitsplätzen<br />
für „Digital Nomades“.<br />
Von Daniela Segenreich<br />
wına-magazin.at<br />
13
HANDWERKLICHER AUSGLEICH<br />
Land zu ermöglichen und sozusagen aus<br />
den Stadtmäusen für jeweils einen Monat<br />
lang Landmäuse zu machen: „Ich war<br />
selbst monatelang im Ausland unterwegs<br />
und habe von dort meine Kunden betreut.<br />
In Tel Aviv habe ich dann von meinem<br />
Stammcafé oder von zu Hause gearbeitet“,<br />
erzählt der 30-jährige Unternehmer,<br />
der zuvor in Filmverleih, Marketing und<br />
Hightech tätig war. „Aber auf die Dauer<br />
war es doch irgendwie einsam und auch<br />
manchmal langweilig, und auch das viele<br />
Sitzen war unangenehm. Und man will ja<br />
auch Teil von etwas sein.“ In Südkorea war<br />
er erstmals auf die internationale Community<br />
der Urban Nomades gestoßen und<br />
hatte erlebt, dass das Arbeiten in der Gemeinschaft<br />
neue Kontakte und fruchtbare<br />
Interaktionen bringt, denn nach und nach<br />
schießen weltweit Initiativen wie Remote<br />
Year oder WiFi Tribe aus dem Boden, die<br />
diesem neuen Arbeitstrend gerecht werden<br />
wollen. Also suchte Har-Shai nach<br />
seiner Rückkehr nach einem Modell, das<br />
anderen Unternehmern, Bloggern, Designern,<br />
Hightechleuten und allen, die nicht<br />
an einen festen Arbeitsplatz gebunden<br />
sind, genau das in Israel bietet: eine neue<br />
Umgebung und die Vorteile, in einer Ge-<br />
Café im Kibbuz (hier<br />
Bluma im Kfar Blum) oder<br />
im Garten mit Naturblick:<br />
mögliche Arbeitsstätten für<br />
Gather-Teilnehmer.<br />
meinschaft arbeiten zu können. Wichtig<br />
war ihm dabei auch, dass es zum Ausgleich<br />
für die digitale Arbeit und das viele Sitzen<br />
auch handwerkliche oder körperliche Betätigungsfelder<br />
geben sollte.<br />
Vormittags Programmierer, nachmittags<br />
Schäfer oder Tischler. Der<br />
Kibbuz bot sich da als ideale Infrastruktur<br />
an. Jede dieser etwa 270 ländlichen Gemeinschaftssiedlungen<br />
in Israel hat immer<br />
noch ihren legendären gemeinsamen<br />
Speisesaal, Landwirtschaft, einen Swimmingpool<br />
und andere Sportanlagen, ein<br />
kleines Café oder Pub, einen Mini Market<br />
sowie Wäscherei, Post und andere für<br />
das tägliche Leben nötige Einrichtungen.<br />
Die kleinen Wohneinheiten haben meist<br />
eine Kochmöglichkeit, Dusche und WC.<br />
Es ist also für alles gesorgt, und man muss<br />
sich kaum um tägliche Hausarbeiten und<br />
Erledigungen kümmern. Har-Shai wollte<br />
das Phänomen der Volontäre wiederbeleben,<br />
die in den 60er- und 70er-Jahren<br />
zu Tausenden aus aller Welt in die Kibbuzim<br />
kamen, um in der Landwirtschaft<br />
mitzuarbeiteten und diese spezielle Lebensweise<br />
kennenzulernen. Sie bekamen<br />
dafür Kost und Quartier und einen Einblick<br />
in den Kibbuz und in den jungen<br />
Staat. Das bedeutete, mit den Hühnern<br />
aufzustehen, um noch vor der großen<br />
Hitze die Arbeit auf den Feldern, auf den<br />
Orangenplantagen oder in den Lagerhäusern<br />
zu verrichten. Aber das war es wert,<br />
wenn man das Leben in diesen einzigartigen<br />
Gemeinschaften erfahren wollte. Damals<br />
kamen laut Har-Shai jährlich etwa<br />
3.000 Volontäre in die Kibbuzim, heute<br />
sind es nur noch an die 500. Mit seinem<br />
Projekt Gather, der Name stammt von der<br />
englischen Übersetzung der Wortwurzel<br />
von „Kibbuz“, will Omer Har-Shai diese<br />
Erfahrung wiederbeleben und die Gegebenheiten<br />
der Kibbuzim nutzen, diesmal<br />
mit einem etwas anderen Konzept: „Jeder<br />
Kibbuz hat etwas Besonderes, ein pastorales<br />
Setting im Grünen oder in der Negev-Wüste.<br />
Und bei Gather kann jeder<br />
seine Stunden frei einteilen und sich aussuchen,<br />
ob, wo und wie viel er sonst noch<br />
im Kibbuz mitarbeiten will.“ So kann man<br />
zum Beispiel morgens am Laptop recher-<br />
© Almog Gurevich<br />
14 wına| Juli_August 2019
STOPP IN DER KIBBUZOASE<br />
Omer Har-Shai, Mitgründer<br />
von Gather, ist selbst<br />
digitaler Nomade.<br />
Kfar Blum. In dem<br />
wunderschönen<br />
Kibbuz im Norden, an<br />
den Ufern des Jordan,<br />
startet im Dezember<br />
der erste Durchgang<br />
für eine neue Generation<br />
von digitalen<br />
Nomaden.<br />
chieren und dabei ins Grüne schauen und<br />
nachmittags Ziegen hüten oder sich in der<br />
Tischlerei nützlich machen. Oder man<br />
kann zeitig in der Früh Orangen ernten<br />
und dann bei Sonnenuntergang im Freien<br />
programmieren und dabei Gazellen oder<br />
Schafe vorbeiziehen sehen. Jeder Teilnehmer<br />
bestimmt selbst, in welchem Ausmaß<br />
er sich in den Kibbuzbetrieb einbringen<br />
will, dafür kostet der Aufenthalt an die<br />
2.000 Dollar im Monat, inklusive Kost,<br />
Quartier, Office Space und Infrastruktur.<br />
Diese Ausgabe sollte, wie Har-Shai<br />
denkt, kein Hindernis sein: „Es gehen ja<br />
kaum Arbeitstage verloren, und die ‚Volontäre‘<br />
können ihre Wohnungen inzwischen<br />
untervermieten und damit die Kosten<br />
wieder hereinbekommen.“<br />
Bedingung für die Teilnahme an diesem<br />
Programm ist ein Aufenthalt von einem<br />
Monat, denn der Initiator will keine<br />
Touristen: „Es soll kein Urlaub sein, sondern<br />
es geht darum, die Arbeit im Job<br />
mit der Kibbuzerfahrung zu verbinden<br />
und dabei auch neue Kontakte zu schließen.“<br />
Jeder potenzielle Teilnehmer muss<br />
einen Fragebogen ausfüllen und ein kurzes<br />
Aufnahmegespräch führen, damit ge-<br />
„Bei Gather kann<br />
jederseineStunden<br />
freieinteilenundsich<br />
aussuchen, ob, wo<br />
und wie viel er sonst<br />
noch im Kibbuz<br />
mitarbeiten will.“<br />
Omer Har-Shai<br />
währleistet ist, dass er in das Konzept und<br />
in die Gruppe passt.<br />
Im Dezember geht der erste Durchgang<br />
mit 25 Teilnehmern in Kfar Blum<br />
los, einem wunderschönen Kibbuz im<br />
Norden, an den Ufern des Jordan. Im Januar<br />
startet dann eine Gruppe in Tuval<br />
in Galiläa, laut Har-Shai ein junger, ruhiger<br />
und pastoraler Ort, an dem auch viele<br />
Künstler wohnen. Im Februar soll es dann<br />
in die Arava im Süden des Landes gehen.<br />
Der junge Unternehmer ist mit vierzig<br />
weiteren Kibbuzim in Verhandlungen:<br />
„Jeder Kibbuz ist eine Welt für sich, und<br />
alle sind sehr interessiert und positiv, denn<br />
viele vermissen die Volontäre, die ein spezielles<br />
internationales Flair in die Kibbuzatmosphäre<br />
gebracht haben. Aber es ist<br />
nicht immer einfach, denn nicht alle haben<br />
die passenden Zimmer und Facilities.“<br />
Neben dem Logis und dem gemeinsamen<br />
Büroraum will Har-Shai auch sportliche<br />
Aktivitäten, Ausflüge und Treffen mit den<br />
Kibbuznikim, den Einwohnern des jeweiligen<br />
Kibbuz, anbieten. Und sollte jemandem<br />
das Landleben doch zu viel werden,<br />
gibt es ja immer noch die Möglichkeit,<br />
kurz zum Shopping oder zur nächsten<br />
Party nach Tel Aviv zu pendeln ... <br />
wına-magazin.at<br />
15
NACHRICHTEN AUS TEL AVIV<br />
Bitte keine<br />
Marihuana-Witze!<br />
In Israel entsteht gerade ein staatlich gefördetes<br />
Eco-System für die Regulierung und Standarisierung<br />
von Cannabioniden.<br />
Von Gisela Dachs<br />
E<br />
in neuer Laden in der Dizengoffstraße<br />
heißt „Cannabis Museum<br />
Shop“. Dass es so etwas bereits woanders<br />
– nämlich in Holland – gibt,<br />
darauf wird mit kleinen hebräischen<br />
Buchstaben hingewiesen. Die Regale sind voller<br />
Öle, Salben und schlanker Glasgefäße. „Alles, was<br />
ihr in Amsterdam gesucht habt, gibt es jetzt auch<br />
hier in Tel Aviv“, steht auf der Facebook-Seite des<br />
internationalen Betreibers City Seed Bank. Es<br />
ist kein Geheimnis, dass viele Israelis gerne kiffen.<br />
Das Zeug dazu lässt sich unproblematisch<br />
an allen möglichen Kiosken erwerben. Neu aber<br />
ist diese quasi offizielle Niederlassung. Sie passt<br />
zum Zeitgeist, auch wenn der Konsum von Hanfblüten<br />
zum Vergnügen weiterhin verboten ist.<br />
Für die Legalisierung von Cannabis machen<br />
sich schon lange verschiedene Gruppierungen<br />
stark. Die Grüne-Blatt-Partei gibt es seit 1999,<br />
mit einer festen Stammwählerschaft, auch wenn<br />
sie es bisher nicht in die Knesset geschafft hat.<br />
Bei der jüngsten Wahl war sie nicht angetreten.<br />
In Israel wurde bereits 2016 eine<br />
Gesetzesreform verabschiedet, die<br />
Cannabis für den medizinischen<br />
Gebrauch legalisiert.<br />
Dafür machte in Tel Aviv ausgerechnet Moshe<br />
Feiglin mit seiner stramm rechten Identitätspartei<br />
von sich reden, weil er sich das Thema mit auf<br />
die Fahnen geschrieben hatte.<br />
Genau darum aber geht es all den neuen professionellen<br />
Züchtern im Land aber nicht. Sie<br />
wollen Cannabis allein zu medizinischen Zwecken<br />
herstellen und exportieren. Marihuana-<br />
Witze sind in dieser aufsteigenden Branche<br />
tabu. Ihre Produkte heißen auch nicht „Weißer<br />
Traum“, sondern haben neutrale, seriöse Bezeichnungen.<br />
Noch wird gestritten, ob der Hype gerechtfertigt<br />
ist, aber wer Rang und Namen hat,<br />
interessiert sich längst dafür.<br />
Zu den prominentesten Figuren gehört der<br />
ehemalige Premierminister Ehud Barak, heute<br />
Vorsitzender von Canndoc/Intercure. In seiner<br />
Eröffnungsrede auf der 4. CannaTech-Konferenz<br />
Anfang April lobte er Israel als das „Land von<br />
Milch, Honig und Cannabis“. Barak schätzte<br />
den Markt weltweit auf 17 Milliarden Dollar,<br />
mit riesigem Entwicklungspotenzial. In nicht<br />
allzu langer Zukunft, prophezeite er, werde einer<br />
von drei Menschen auf dem Planeten irgendeine<br />
Art von Cannabinoiden einnehmen.<br />
In Israel wurde bereits 2016 eine Gesetzesreform<br />
verabschiedet, die Cannabis für den medizinischen<br />
Gebrauch legalisiert. Nun ist es gerade<br />
in Kraft getreten. Ärzte sollen fortan auf unbürokratische<br />
Weise Rezepte ausstellen dürfen, für<br />
bedürftige Patienten ist das ein Segen. 35.000<br />
Israelis verfügen über eine staatliche Cannabis-<br />
Erlaubnis, doch die Wege zum Medikament<br />
waren oft hürdenreich. Noch fehlt es an ausreichenden<br />
wissenschaftlichen Studien, sagen die<br />
Experten, aber der Stoff hat sich bei der Behandlung<br />
von Krebs, posttraumatischen Belastungsstörungen,<br />
Autismus, Alzheimer und Epilepsie<br />
bewährt.<br />
Gesundheitsminister Rabbiner Litzmann<br />
überzeugt. Hier wird nun mit staatlicher Unterstützung<br />
weitergeforscht. Um sicherzustellen,<br />
dass nur hochqualitative Pflanzenextrakte konsumiert<br />
werden, soll die Herstellung stärker kontrolliert<br />
werden. Yuval Landschaft, Direktor der<br />
Israeli Medical Cannabis Agency, nennt es ein<br />
„staatlich geförderten Eco-System für Regulie-<br />
16 wına| Juli_August 2019
© Gisela Dachs<br />
rung und Standardisierung von Cannabioniden“.<br />
Auch er mag keine Marihuana-Witze. Dafür erzählt<br />
er lieber, wie er den Gesundheitsminister,<br />
Rabbiner Yaakov Litzmann, von der Notwendigkeit<br />
der Reform überzeugt hat. „Wir haben<br />
ihm versprochen, eine Thora für Cannabis zu<br />
schreiben.“ Das hat ihn überzeugt.<br />
Die Voraussetzungen für die Produktion solcher<br />
Medikamente sind ideal in Israel: Es gibt<br />
ein warmes Klima, eine seit Jahrzehnten hoch<br />
entwickelte Landwirtschaft und die stete Bereitschaft<br />
zur Innovation. In Revadim bei Rehovot<br />
entstand so eine der größten legalen Cannabis-<br />
Farmen der Welt. Hier betreibt BOL Pharma<br />
ein riesiges Gewächshaus. Schwer bewaffnete<br />
Sicherheitsleute bewachen den Eingang. Hinein<br />
darf man nur mit gewaschenen Händen<br />
und einem Schutzanzug. Schleusen entfernen<br />
die Keime von den Schuhen. Dann sieht man<br />
Blumentöpfe soweit das Auge reicht, mit grünen<br />
Pflänzchen in allen Längen und Größen.<br />
Die Forscher erklären und zeigen anschließend,<br />
wie die Cannabis-Blüten nach der Ernte in einer<br />
Lagerhalle getrocknet, verpackt und in einen<br />
stählernen Safe verfrachtet werden.<br />
Natürlich ist Israel nicht der einzige Staat, in<br />
dem Cannabis unter offizieller Aufsicht blüht,<br />
aber die neuen Start-ups spielen eine wichtige<br />
Rolle in allen wichtigen Forschungsfeldern,<br />
sei es die Pharma-, Bio- oder Agrartechnologie.<br />
So wurde gerade ein Robotersystem für die<br />
autonome Pflanzenzucht entwickelt, das ohne<br />
menschliche Berührung auskommt. Hochfliegende<br />
Pläne gibt es genug: Man will in Zukunft<br />
EU-Länder mit Cannabis-Produkten versorgen<br />
und die Ärzte dort fachgerecht schulen. Der alte<br />
Kontinent steckt in dieser Hinsicht zwar noch<br />
in den Kinderschuhen, aber die Nachfrage ist<br />
riesengroß. Israel sei das das einzige Land, das<br />
sich der Kluft bewusst sei zwischen aktuellem<br />
Gebrauch und der richtigen Verschreibung und<br />
Anwendung von Cannabis, sagt Hinanit Koltai,<br />
Professorin am Volcani-Forschungszentrum.<br />
Dass die Cannabis-Industrie gerade so aufblüht,<br />
hat sie Raphael Mechoulam zu verdanken.<br />
Der fast 90-jährige Professor forscht bis<br />
heute in seinem Labor an der Hebräischen<br />
Universität Jerusalem.1964 hatte er als Chemiker<br />
am Weizmann-Institut nach einem Forschungsthema<br />
gesucht, das ihm international<br />
einen Namen verschaffen konnte und das zwei<br />
Kriterien erfüllte: Es durfte nicht viel kosten<br />
und sollte soziale Relevanz haben. Mechoulam<br />
entschied sich für die wissenschaftliche Untersuchung<br />
der Cannabis-Pflanze. Er extrahierte<br />
daraus das Tetrahydrocannabinol, den psychoaktiven<br />
Wirkstoff der Hanfpflanze. Seither erschienen<br />
hunderte von Publikationen unter seinem<br />
Namen und Dutzende von Patenten. Ihm<br />
und seinen Nachfolgern in Forschung und Industrie<br />
geht es um die Herstellung verlässlicher<br />
Medikamente. Dazu braucht es Expertise.<br />
Denn die Hanfpflanze beherbergt gut 400<br />
Stoffe, deren Verhältnis mehr oder weniger von<br />
der Laune der Natur bestimmt wird.<br />
Sollte an dem Hype etwas dran sein, könnte<br />
dies das Leben vieler Patienten verändern, auch<br />
weit über Israel hinaus. In den Cannabis-Museumsshops<br />
werden sie dann allerdings nicht<br />
geschickt werden. Weder in Amsterdam noch<br />
in Tel Aviv. <br />
Yuval Landschaft,<br />
Direktor der Israeli<br />
Medical Cannabis<br />
Agency.<br />
Man will in Zukunft EU-Länder mit<br />
Cannabis-Produkten versorgen und die<br />
Ärzte dort fachgerecht schulen.<br />
wına-magazin.at<br />
17
INTERVIEW MIT MARTIN WEISS<br />
„Israel spricht heute mit<br />
Österreich auf Augenhöhe“<br />
Martin Weiss, Österreichs Botschafter in Israel,<br />
freut sich über fundamentale Verbesserungen in den<br />
Beziehungen der beiden Staaten.<br />
Ein Abschiedsinterview mit Marta S. Halpert<br />
WINA: Sie haben im November 2015<br />
Ihren Posten als österreichischer Botschafter<br />
in Israel angetreten. Welche<br />
Ihrer Erwartungen von damals haben<br />
sich erfüllt, welche nicht?<br />
Martin Weiss: Ich bin mit sehr positiven<br />
Einstellungen nach Israel gekommen.<br />
Es gibt viele Parallelitäten zwischen den beiden<br />
Staaten: Sie sind von ähnlicher Größe und in vielerlei<br />
Hinsicht mit einander verknüpft – auch durch<br />
die problematische Geschichte. Ich habe mir viel erhofft,<br />
und das meiste hat sich realisiert: In den fast<br />
vier Jahren war die gesamte Bundesregierung hier,<br />
inklusive eines Staatsbesuchs des Bundespräsidenten,<br />
was einer Krönung im Verhältnis von zwei Staaten<br />
gleichkommt.<br />
Im Bereich der Wirtschaft und des Tourismus sind<br />
beide Staaten in den letzten Jahren stark auf einander<br />
zugegangen. Das war in dieser Form nicht zu erwarten.<br />
Das habe ich mir gewünscht – und das ist<br />
auch alles eingetreten.<br />
Worauf führen Sie das zurück?<br />
❙ Österreich und Israel hatten über die Jahre auch<br />
ein schwieriges Verhältnis, vor allem, weil Österreich<br />
nach Erreichung seiner Unabhängigkeit sehr<br />
schnell bereit war, seine Geschichte und seine Rolle<br />
im Zweiten Weltkrieg zu vergessen. Es hat einige<br />
Zeit gebraucht, um ehrlich darüber zu reden: Erst in<br />
den 1980er-Jahren gab es eine Zäsur, bedingt durch<br />
die Waldheim-Affäre. Auch Bruno Kreisky, der als<br />
erster Europäer die PLO anerkannte und sehr kritisch<br />
mit Israel ins Gericht gegangen ist, hat das Verhältnis<br />
nicht erleichtert. Wegen Jörg Haider und der<br />
Resümee. Nach<br />
knapp vier Jahren in<br />
Israel geht es für Botschafter<br />
Weiss nun<br />
nach Washington.<br />
MARTIN WEISS,<br />
geboren 1962 in Salzburg,<br />
hat in Graz, Wien und den<br />
USA (University of Virginia)<br />
Jus studiert. Seit 2015<br />
Botschafter in Tel Aviv; ab<br />
Herbst 2019 österreichischer<br />
Botschafter in Washington.<br />
Zweimal leitete er die Presseabteilung<br />
des Außenministeriums<br />
(2001–2004<br />
und 2012–2015). Weiss<br />
war zuletzt österreichischer<br />
Botschafter in Zypern<br />
(2009–2012), davor österreichischer<br />
Generalkonsul in<br />
Los Angeles (2004–2009).<br />
ersten schwarz-blauen Regierung gab<br />
es weniger Aufs als Abs. Diese Zeit<br />
ist jetzt vorbei, Österreich hat gelernt,<br />
ehrlich über seine Geschichte zu sprechen,<br />
und zwar mit offenem Visier.<br />
Wir brauchen da nichts beschönigen,<br />
wir wissen, was passiert ist. Da hat sich<br />
Österreich sicher weiterbewegt.<br />
Trotz der zweiten schwarz-blauen Regierung?<br />
❙ Ja, das hängt auch an der Person Sebastian Kurz, der<br />
ein besonderes Interesse an diesen bilateralen Beziehungen<br />
gehabt hat, und das hat sich dann auf tausend<br />
Ebenen widergespiegelt – und zwar für beide Seiten.<br />
Israel spricht heute mit Österreich auf Augenhöhe,<br />
und man hat begonnen, das gegenseitig vorhandene<br />
Potenzial zu heben. Ich habe das bei den Besuchen<br />
der Regierungsmitglieder beobachtet: Viele dieser<br />
Politiker waren noch nie in Israel, aber sicher schon<br />
auf Bali oder in Japan. Jetzt besinnt man sich auf das<br />
ganz Normale: Wir haben historische Verbindungen,<br />
hier leben viele Menschen, die Deutsch sprechen<br />
oder in den letzten Jahren als begeisterte Touristen<br />
in Österreich waren. Auch zahlreiche Unternehmen<br />
sagen heute: Israel hat ein großes Innovationspotenzial,<br />
dafür haben wir die industrielle Basis, also machen<br />
wir etwas daraus.<br />
Bemüht sich Israel um die Unterstützung Österreichs,<br />
wenn es um Anliegen oder auch Konflikte<br />
mit der EU geht?<br />
❙ Israel hat oft das Gefühl, dass es von Europa nicht<br />
verstanden wird oder mit ungleichem Maß gemessen<br />
wird. Das ist im Kern richtig, insbesondere wenn<br />
© Reinhard Engel<br />
18 wına| Juli_August 2019
AUFEINANDER ZUGEGANGEN<br />
Botschafter Martin Weiss. „Zahlreiche<br />
Unternehmen sagen heute: Israel hat<br />
ein großes Innovationspotenzial, dafür<br />
haben wir die industrielle Basis, also<br />
machen wir etwas daraus.“<br />
internationale Organisationen Resolutionen verabschieden,<br />
wie z. B. „die Juden haben keine Verbindung<br />
zu Jerusalem“, so ist das irre. Israel hofft auf<br />
gewisse Kurskorrekturen, und zu denen waren Bundeskanzler<br />
Kurz und auch Österreich bereit: sich Themen<br />
nochmal anzuschauen und zu überlegen, ob das<br />
wirklich noch stimmig ist. Österreich ist willens, seine<br />
Meinung zu adjustieren, wenn etwas unfair gegenüber<br />
Israel ist.<br />
„Wir haben<br />
klar gesagt:<br />
Der Antisemitismus<br />
ist nicht ein<br />
Thema,dasdie<br />
Judenbetrifft,<br />
sondern ein<br />
Thema, das Europa<br />
betrifft.“<br />
Ist Österreich bei einer EU-Entscheidung schon einmal<br />
ausgeschert?<br />
❙ Nicht ausgeschert, aber wir haben versucht, zu einer<br />
Kurskorrektur beizutragen. Österreich hat z. B.<br />
das Thema „Antisemitismus“ auf die Tagesordnung<br />
des Europäischen Rates gebracht – und dazu auch einen<br />
Beschluss herbeigeführt. Wir haben klar gesagt:<br />
Der Antisemitismus ist nicht ein Thema, das die Juden<br />
betrifft, sondern ein Thema, das Europa betrifft.<br />
Das können wir in einer Gesellschaft nicht dulden,<br />
in der wir leben wollen, deshalb geht es uns alle an.<br />
Oder unser Abstimmungsverhalten beim UN-Menschenrechtsrat<br />
in Genf, da haben wir gegen die Resolution<br />
gestimmt, die Israel verurteilen sollte. Es ging<br />
um Gaza: Natürlich ist das ein ganz schwieriges Problem,<br />
und selbstverständlich müssen die Menschen<br />
dort Hoffnung bekommen, aber wenn es immer nur<br />
darum geht, dass Israel der alleinige Täter ist, dann<br />
ist das falsch gewichtet.<br />
Da muss man einen Schritt zurückgehen und sagen:<br />
Alles im Leben hat zwei Seiten, wenn wir immer<br />
nur bei einer Seite abladen, dann kommen wir<br />
in eine Schieflage. Israel hat eben nicht die Schweiz<br />
oder Liechtenstein als Nachbarn, sondern Syrien und<br />
den Libanon. Daher auch nicht den Luxus eines zentraleuropäischen<br />
Landes, wo es keinerlei Bedrohung<br />
gibt. In Österreich kann ich mir die Frage stellen,<br />
„wozu brauche ich ein Bundesheer?“ Diese Frage<br />
kann sich Israel nie stellen. Aber wenn Israel die EU<br />
kritisiert, dann erinnern wir daran, dass Europa Israel<br />
auch sehr viel bringt: Der reibungslose Flugverkehr<br />
ist dem Open Sky Agreement mit der EU zu danken.<br />
Dass israelische Forscher an EU-Forschungsprogrammen<br />
teilnehmen (Stichwort Horizon) und dort<br />
auch hohe Förderungen ansprechen können, das ist<br />
schon eine ganz klare Win-win-Situation.<br />
Im Herbst gehen Sie als Botschafter nach Washington.<br />
Ein großer Sprung vom kleinen Israel?<br />
❙ Ich kenne Washington, denn vor 28 Jahren trat ich<br />
dort meinen ersten Posten an. Israel ist viel zugänglicher,<br />
hier kenne ich jeden Minister – und bekomme<br />
schnell einen Termin. In Washington ist das nicht<br />
leicht, dort muss man einen kreativen Ansatz suchen,<br />
wie man als Botschafter eines kleinen Landes Gehör<br />
finden kann.<br />
wına-magazin.at<br />
19
WINA: Herr Schabhüttl, Sie sind jetzt seit sechs<br />
Jahren Wirtschaftsdelegierter in Israel. Was sind<br />
die größten Veränderungen in diesen Jahren? Als<br />
Sie gekommen sind, hat es diese und jene Probleme<br />
oder Herausforderungen gegeben. Was ist<br />
sechs Jahre später etwas anders, völlig anders<br />
oder gleich geblieben?<br />
❙ Günther Schabhüttl: Es hat sich völlig verändert,<br />
und zwar in allen Belangen zum Positiven, egal ob<br />
man es jetzt an harten Zahlen festmacht oder an<br />
persönlichen, subjektiven Eindrücken. Alles hat sich<br />
massiv verbessert, und ich meine jetzt nicht wegen<br />
mir. Es ist ein Momentum entstanden, vor allem<br />
im Technologiebereich, das uns ermöglicht hat, Tel<br />
Aviv in Österreich ganz anders zu präsentieren, es<br />
hat uns auch ermöglicht, für diesen Markt ein Alleinstellungsmerkmal<br />
herauszuarbeiten. Das hat uns<br />
ganz neue Möglichkeiten gegeben, österreichische<br />
Firmen anzusprechen.<br />
Beginnen wir vielleicht bei den Zahlen und sprechen<br />
dann über einzelne Branchen.<br />
❙ Bei den Exporten liegen wir derzeit bei 400 Mio.<br />
Euro, das bedeutet innerhalb der letzten sechs Jahre<br />
eine Verdoppelung. Dazu gehört das Brot- und Butter-Geschäft,<br />
die alten Stärkefelder, etwa Beiträge<br />
zur israelischen Infrastruktur. Renommierte Firmen<br />
sind jetzt noch sichtbarer aktiv, wie Strabag<br />
oder DOKA.<br />
Was bedeutet das im regionalen Vergleich?<br />
❙ Israel ist ein kleines Land, aber der erste Platz in der<br />
Region ist sich nur um ein Haar nicht ausgegangen.<br />
Wer liegt davor?<br />
❙ Die Vereinigten Arabischen Emirate. Aber Saudi-<br />
Arabien rangiert dahinter.<br />
„TECHNOLOGIE STEHT IM ZENTRUM“<br />
INTERVIEW MIT GÜNTHER SCHABHÜTTL<br />
Günther Schabhüttl vertritt als<br />
Wirtschaftsdelegierter seit sechs<br />
Jahren österreichische Unternehmen in<br />
Tel Aviv. Er zieht im Interview eine<br />
durchwegs positive Zwischenbilanz.<br />
Text und Foto: Reinhard Engel<br />
Das ist jetzt einmal der Export von Waren. Wie sieht<br />
es bei Dienstleistungen aus, etwa im Tourismus?<br />
❙ Vor zehn Jahren hat es 257.000 Nächtigungen von<br />
Israelis in Österreich gegeben. Im letzten Jahr waren<br />
es 685.000. Das ist mehr als eine Verdoppelung,<br />
bis auf zwei Jahre waren die Wachstumsraten<br />
immer zweistellig. Ganz aktuell im ersten Quartal<br />
2019 hat es bei den Ankünften eine Steigerung um<br />
35 Prozent gegeben, bei den Nächtigungen um 27<br />
Prozent. Diese hohen Zuwachsraten sind besonders<br />
eindrucksvoll, weil sie schon von einem hohen<br />
Niveau ausgehen.<br />
Und das sind nicht nur Skifahrer, das sind vor allem<br />
auch Sommerfrischler?<br />
❙ Das bedeutet 2/3 Sommer, 1/3 Winter, vorwiegend<br />
Aktiv- oder Familienurlaube. Und besonders<br />
günstig ist dabei, dass die österreichischen und israelischen<br />
Feiertage meist nicht gleichzeitig sind, die<br />
Israelis kommen daher oft zur Vor- oder Nachsaison.<br />
Aber die Israelis konzentrieren sich dabei immer<br />
noch auf einige wenige Orte und Regionen. Das<br />
zeigt, dass es noch ein enormes zusätzliches Potenzial<br />
gibt. Eine Million Nächtigungen kann in drei,<br />
vier Jahren durchaus möglich sein.<br />
Und wie sieht es umgekehrt aus, bei österreichischen<br />
Touristen in Richtung Israel?<br />
❙ Auch diese Zahlen steigen permanent. Die Direktverbindung<br />
Wien–Eilat ist wieder aufgenommen<br />
worden. Zwischen Wien und Tel Aviv gibt es<br />
wöchentlich 40 Flüge. Sun d’Or fliegt zweimal wöchentlich<br />
Salzburg an. Israel und besonders Tel Aviv<br />
wurde in den letzten Jahren als Destination von den<br />
Österreichern gänzlich anders wahrgenommen. Israel<br />
ist Technologie, Tel Aviv ist Lebensfreude, Kulinarik,<br />
es geht eben längst weit über den klassischen<br />
Pilgertourismus hinaus.<br />
Wenden wir uns einzelnen Branchen zu. Österreich<br />
ist gut im Export von Maschinen und Ingenieurdienstleistungen.<br />
In Israel war etwa die Bahn<br />
ein guter Kunde, immer auch ein Hoffnungskunde.<br />
Lange Zeit wurden Projekte verschleppt, jetzt wird<br />
wieder gebaut. Wie sieht es da derzeit für österreichische<br />
Unternehmen aus?<br />
20 wına| Juli_August 2019
START-UPS & TRADITIONELLE INDUSTRIE<br />
❙ Österreich ist absolut dabei. Es gibt etwa eine Kooperation<br />
zwischen den ÖBB und der Israelischen<br />
Bahn im Bereich Tunnelsicherheit. Gehen wir aber<br />
zu einem Projekt, das hier jeden beschäftigt, weil es<br />
während der Bauarbeiten massive Beeinträchtigungen<br />
beim Verkehr gibt, das U-Bahn-Projekt in Tel<br />
Aviv. Da ist etwa eine österreichische Planungsfirma<br />
beteiligt, die Schienen kommen von der Voestalpine,<br />
es gibt weitere unterschiedlichste Zulieferer.<br />
Und das trotz des chinesischen Generalunternehmers?<br />
❙ Ja, aber es kommt nicht alles aus China, er nimmt<br />
auch österreichische Produkte herein. Es gibt aber<br />
auch ganz andere Exporterfolge. Ich denke da etwa<br />
an eine österreichische Firma, die in israelischen<br />
Krankenhäusern die Kommunikation<br />
zwischen Patienten und Stationen<br />
einrichtet. Da würde man meinen,<br />
so etwas ist schwer in einheimischer<br />
Hand, und dennoch kommt ein österreichisches<br />
Unternehmen und stattet<br />
praktisch alle Krankenhäuser mit dieser<br />
Technologie aus. Ähnlich sieht es bei<br />
den Flughäfen aus, wo die Kommunikationseinrichtungen<br />
mit Software von einem<br />
österreichischen Unternehmen arbeiten.<br />
Sie haben die Strabag erwähnt mit dem<br />
langen Wassertunnel. Gibt es darüber<br />
hinaus in der Baubranche noch aktuelle<br />
Großprojekte?<br />
❙ Ja, es geht um eine so genannte mechanisch-biologische<br />
Abfallbehandlungsanlage.<br />
Diese entsteht im Süden<br />
Tel Avivs als Gemeinschaftsprojekt der<br />
Strabag mit lokalen Partnern. Und es<br />
gibt österreichische Firmen, die beim<br />
Einbau von Filtern in Industrieanlagen oder Kraftwerken<br />
gefragt sind, weil auch in Israel die Grenzwerte<br />
verschärft werden, wegen der teils schlechten<br />
Luft, etwa in Haifa.<br />
Das waren bisher durchwegs Beispiele aus der Industrie.<br />
Finden sich auch Exporterfolge kleinerer österreichischer<br />
Unternehmen?<br />
❙ Ja, die gibt es. Ich denke etwa an ein Unternehmen<br />
aus Niederösterreich mit vielleicht sieben, acht<br />
Millionen Umsatz. Das erzeugt Paneele für die Innenausstattung<br />
für bessere Raumakustik in Großraumbüros,<br />
in Co-Working-Spaces. Ihr wichtigster<br />
Auslandsmarkt ist Israel, und sie statten hier einen<br />
großen Kunden nach dem anderen aus, da reden wir<br />
WER VERTRITT ÖSTER-<br />
REICH IN ISRAEL?<br />
GüntherSchabhüttlwurdein<br />
Güssing im Südburgenland<br />
geboren. Er studierte an der<br />
FH in Eisenstadt mit einem<br />
Auslandssemester in Russland.<br />
Seit 2004 arbeitet er in<br />
derAußenwirtschaftAustria<br />
mitStationenunteranderem<br />
in der Slowakei und in Lettland.DavorwarerProjektmanager<br />
bei Porsche Austria.<br />
„Es ist ein Momentum<br />
entstanden,<br />
vor allem<br />
im Technologiebereich,dasuns<br />
ermöglichthat,<br />
TelAvivinÖsterreich<br />
ganz anders<br />
zupräsentieren.“<br />
von sehr bekannten Unternehmen wie Google, booking.com<br />
oder Amazon.<br />
Aber ist das jetzt ein besonders positiver Ausreißer?<br />
Ist der Markt insgesamt so aufnahmefähig und leicht<br />
zu bearbeiten?<br />
❙ Es gibt immer wieder so erfolgreiche Überraschungen.<br />
Aber der Markt ist insgesamt sehr kompetitiv und<br />
durchaus anspruchsvoll. Die Kunden sind extrem gut<br />
informiert, kennen die Alternativen. Es ist sicher kein<br />
Markt für jeden, aber für immer mehr. Wir sehen das<br />
in unseren eigenen Zahlen, wir betreuen heute sicher<br />
um 30 Prozent mehr österreichische Unternehmen<br />
als noch vor einigen Jahren. Wir sehen eher wenige<br />
Firmenniederlassungen, der Markt wird nach wie vor<br />
durch lokale Vertreter bearbeitet.<br />
Wo würden Sie noch Potenzial sehen?<br />
❙ Im Industriebereich ganz stark, bei der<br />
Modernisierung israelischer Produktionsunternehmen.<br />
Man darf nicht vergessen,<br />
neben den beeindruckenden Erfolgen der<br />
Start-up- und IT-Branche gibt es eine traditionelle<br />
Industrie. Und die läuft teilweise<br />
mit einer ganz anderen Geschwindigkeit,<br />
hat oft erheblichen Nachholbedarf.<br />
Die bekommen jetzt selbst Wettbewerbsdruck?<br />
❙ Wettbewerbsdruck von der Konkurrenz,<br />
und auch neue Auflagen von der öffentlichen<br />
Hand, die die Standards verschärft.<br />
Es hat in den letzten Jahren zahlreiche<br />
Berichte darüber gegeben, dass sich internationale<br />
Konzerne in Israel eingekauft<br />
haben, hier kleine Technologieunternehmen<br />
übernommen haben, die für<br />
sie Spezialaufgaben betreuen. Ich denke<br />
etwa an die Automobilindustrie: In Israel wird an Cyber<br />
Security im Fahrzeug oder am autonomen Fahren<br />
gearbeitet. Gibt es dazu ähnliche Beispiele aus<br />
Österreich?<br />
❙ Die gibt es. Technologie steht in der überwiegenden<br />
Zahl der Anfragen im Zentrum, 80 Prozent unserer<br />
Beratungstägigkeit ist technologierelevant. Viele Unternehmen<br />
kommen hierher und schauen, was für sie<br />
neue Technologien sein könnten, suchen einschlägige<br />
Kontakte. Diese Aktivitäten können unterschiedlich<br />
intensiv sein. Das Maximum, das wir an einem österreichischen<br />
Beispiel sehen, ist der Grazer Industrieanlagenbauer<br />
Andritz. Dieser hat innerhalb von einem<br />
Jahr hier ein Unternehmen im Cyber-Bereich<br />
mit 50 Entwicklern hochgezogen.<br />
wına-magazin.at<br />
21
ISRAEL BLOG<br />
Das einsame Leben von<br />
Israels Lone Soldiers<br />
Ungefähr vier Prozent der Soldaten im aktiven Dienst der<br />
IDF sind Lone Soldiers. Im vergangenen Jahr machten sie<br />
30 Prozent aller Selbstmorde unter den Soldaten aus.<br />
E<br />
s ist Wochenende in der Militärbasis im<br />
Norden Israels, und die Soldaten fahren<br />
nach Hause zu ihren Familien. Rafael hat<br />
nicht wirklich ein Zuhause hier. Er ist alleine<br />
von Boston nach Israel gekommen,<br />
um seinen Kindheitstraum zu erfüllen –<br />
dem jüdischen Staat zu dienen und der israelischen Armee<br />
beizutreten. Rafael ist ein Lone Soldier oder Chayal<br />
Boded, ein Soldat ohne Familie im Land. Bereits als<br />
Teenager kannte er alle Einheiten der IDF und konnte es<br />
Von Iris Lanchiano<br />
kaum erwarten, in das Flugzeug<br />
zu steigen, um Baseballkappe,<br />
Jeans und Turnschuhe<br />
gegen die Uniform zu tauschen. Doch nach dem<br />
ersten Jahr seines Militärdienstes, nachdem die Aufregung<br />
und das Abenteuer zur Routine geworden sind,<br />
kommen ihm die ersten Zweifel. An der Wand in seinem<br />
kleinen Zimmer in einem Kibbuz in der Nähe von<br />
Aschkelon hängen die amerikanische und israelische<br />
Fahne nebeneinander. Ein Tattoo des Wappens Jerusalems<br />
ziert seinen Rücken: „Am Israel Chai.“ – Das<br />
Volk Israel soll leben. Er putzt seine Stiefel und macht<br />
sein Essen in der Mikrowelle warm. Er hatte Glück,<br />
dass niemand seiner Kameraden ihn wieder darum gebeten<br />
hat, die Wochenendschicht zu übernehmen. Obwohl<br />
es Organisationen gäbe, die in genau solchen Fällen<br />
„Adoptivfamilien“ vermittelt, um den Lone Soldiers<br />
ein Zuhause in Israel zu bieten, ist es einfach nicht dasselbe.<br />
Nach dem Herumreichen zwischen den Familien<br />
hatte Rafael das Gefühl, er sei eine Last.<br />
Er verbringt den Abend lieber alleine und<br />
streamt das Spiel seiner Lieblingsfootballmannschaft<br />
aus dem Internet.<br />
Depressionen und emotionale Belastungen,<br />
sowohl während des Militärdienstes<br />
wie auch unmittelbar nach der Entlassung,<br />
und die Schwierigkeit, sich auf<br />
Hebräisch richtig auszudrücken, machen<br />
vielen Lone Soldiers zu schaffen.<br />
Eine Reihe an Selbstmorden unter IDF-<br />
Soldaten aus dem Ausland hat rote Fahnen<br />
gehisst und die Probleme hervorgehoben,<br />
mit denen junge Menschen in Stresssituationen<br />
ohne ihre Familien konfrontiert sind.<br />
Die 19-jährige Michaela Levit aus Miami, von ihren<br />
Freunden „Mica“ genannt, nahm sich im Mai das Leben<br />
und wurde auf ihrer Militärbasis gefunden. Es war<br />
der dritte Selbstmordfall unter Lone Soldiers in diesem<br />
Jahr. Die Organisation Why They Fell will mehr Bewusstsein<br />
für die Situation der Lone Soldiers schaffen.<br />
„Es ist wahr, es gibt Vergünstigungen für Lone Soldiers.<br />
Aber das hilft nicht gegen das Gefühl der Einsamkeit.<br />
Dieser Eimer füllt sich von Tag zu Tag mehr und<br />
mehr, bis es viele nicht mehr ertragen. Sie wollen diese<br />
Depressionen und emotionale Belastungen, sowohl<br />
während des Militärdienstes wie auch unmittelbar<br />
nach der Entlassung, und die Schwierigkeit,<br />
sich auf Hebräisch richtig auszudrücken,<br />
machen vielen Lone Soldiers zu schaffen.<br />
Einsamkeit einfach nicht mehr. Einige denken, sie seien<br />
Versager, weil sie aufgeben möchten, oder dass sie einfach<br />
zu schwach sind. Oft wird ihnen gesagt, jeder erlebt<br />
diese Krise, da muss man durch – aber das klappt<br />
nicht immer“, erzählt Noam, einer der Sozialarbeiter,<br />
die sich um die Lone Soldiers kümmern.<br />
Für Rafael, der sich als Kind gerne als Soldat verkleidet<br />
hat und mit den Kochlöffeln seiner<br />
Mutter auf Spielfiguren schoss, ist<br />
Aufgeben keine Option. Seinen Militärdienst<br />
macht er fertig, auch wenn er danach<br />
wieder zurückgeht, „dann kann ich<br />
mit ruhigem Gewissen sagen, ich habe<br />
dem jüdischen Staat gedient.“ Währenddessen<br />
packt Noam Micas letzte persönliche<br />
Gegenstände zusammen, die sie in<br />
Israel hatte, um diese an ihre Familie zurückzuschicken.<br />
<br />
Israel ist stolz auf seine Lone<br />
Soldiers, doch es fehlt an<br />
Beratung und Betreuung.<br />
© flash90<br />
22 wına| Juli_August 2019
HIGHLIGHTS | 02<br />
Die Cellistin<br />
von Auschwitz<br />
Zum 94. Geburtstag der Musikerin<br />
Anita Lasker-Wallfisch am 17. Juli<br />
Natürlich rührte sich im Jänner 2018<br />
in einer ganz bestimmten Ecke des<br />
feierlich versammelten Plenums des<br />
Deutschen Bundestags zu Berlin keine<br />
Hand, als Anita Lasker-Wallfisch die humanitäre<br />
Öffnung der deutschen Grenzen<br />
im Jahr 2015 für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge<br />
als „unglaublich mutige,<br />
generöse Geste“ ausdrücklich lobte. Stille<br />
schlug ihr von jenen Sitzen entgegen,<br />
die der Fraktion der Partei Alternative für<br />
Deutschland zugewiesen sind.<br />
Es war die Gedenkstunde für die Opfer<br />
des Nationalsozialismus. Anlässlich<br />
der 85. Wiederkehr der so genannten<br />
„Machtergreifung“ Hitlers und seiner<br />
Mordschergen war Anita Lasker-Wallfisch<br />
geladen, die einst mit sechzehn Jahren<br />
in das KZ Auschwitz kam, dann Ende<br />
1944 nach Bergen-Belsen. Und überlebte.<br />
Denn sie wurde „gebraucht“, die<br />
begabte Cellistin wurde Mitglied des Frauenorchesters<br />
des Vernichtungslagers. Im<br />
April 1945 befreit, wie auch ihre Schwester<br />
Renate, emigrierte sie ein Jahr später<br />
nach Großbritannien, wo sie Karriere<br />
als Musikerin machte und unter anderem<br />
das English Chamber Orchestra gründete,<br />
ein heute renommiertes Kammerorchester.<br />
Fast ihre gesamte Familie musiziert<br />
heute professionell und auf höchstem Niveau.<br />
Ihre Schwester Renate entschied<br />
sich hingegen für das Wort. Sie war Jahrzehnte<br />
lang mit Klaus Harpprecht verheiratet,<br />
der seit den 1960er-Jahren eine<br />
Generation lang zu den wichtigsten<br />
westdeutschen Publizisten gehörte,<br />
als Redenschreiber Willy Brandts, als<br />
Mitarbeiter wichtiger Zeitungen, Buchautor<br />
und Zeitschriftenherausgeber.<br />
Anita Lasker-Wallfisch, die einst<br />
schwor, niemals nach Deutschland zurückzukehren,<br />
brach ihren Eid 1994.<br />
1996 erschienen ihre Memoiren. 2019<br />
erhielt sie den Deutschen Nationalpreis,<br />
wie vor ihr auch Fritz Stern und Václav<br />
Havel. Nach ihrer Rede 2018 pries sie<br />
der Berichterstatter der Tageszeitung Die<br />
Welt als „eine Kämpferin, der es wider<br />
alle Wahrscheinlichkeit gelang, über den<br />
sicheren Tod zu triumphieren“. A. K.<br />
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sozialen Medien ist Talia Sutra eine<br />
moderne Yogi, die Tausende von<br />
Menschen durch ihre Yoga-Übungen<br />
inspiriert. Yoga ist für sie mehr<br />
als nur eine körperliche Übung, es ist<br />
eine Beziehung, in der sie von dem<br />
Tag an war, als sie mit Yoga anfing.<br />
Ihre Leidenschaft für Yoga verbreitete<br />
sie dieses Jahr beim Yoga-Festival<br />
am Wörthersee.<br />
instagram.com/talia_sutra<br />
Anita Lasker-<br />
Wallfisch überlebte<br />
die Schoah in Auschwitz.<br />
Am 17. Juli wird<br />
sie 94 Jahre alt.<br />
Neuigkeiten von Lena<br />
Dunham. Bei Industry<br />
geht es um den Kampf<br />
nach oben in der<br />
Finanzwelt.<br />
WINA PLOTKES<br />
Lena Dunhams<br />
neue HBO-Serie<br />
Nach dem Erfolg der Hit-Serie Girls –<br />
und der weniger erfolgreichen Serie<br />
Camping – paart sich Lena Dunham<br />
zum dritten Mal mit HBO. Der Fernsehprogrammanbieter<br />
hat Industry in Auftrag<br />
gegeben, eine achtteilige Serie, die<br />
einer Gruppe junger Uni-Absolventen<br />
folgt, die versuchen, heißbegehrte Arbeitsplätze<br />
bei einer Top-Investmentbank<br />
in London zu ergattern, um an die Spitze<br />
der Finanzwelt zu gelangen.<br />
Lena Dunham wird Regie und Produktion<br />
der Dramaserie übernehmen und<br />
beschreibt Industry auf ihrem Twitter-<br />
Profil als eine Mischung aus Wolf of Wall<br />
Street und Melrose Place.<br />
Gedreht wird im Sommer in Wales, wo<br />
sich auch die Produktionsfirma der Serie,<br />
Bad Wolf, befindet. Ein Veröffentlichungstermin<br />
wurde jedoch noch nicht<br />
bekanntgegeben.<br />
Ausverkauftes<br />
Konzert von Reggaeton-Superstar<br />
Ramon Luis Ayala Rodriguez, besser bekannt<br />
unter seinem Künstlernamen<br />
Daddy Yankee, trat in den letzten fünf<br />
Jahren dreimal in Israel auf. Nach Hits<br />
wie Despacito und Con Calma stand der<br />
42-Jährige Ende Juni im ausverkauften<br />
Live Park von Rischon LeZion.<br />
Yankee bedankte sich beim Publikum<br />
und betonte, dass er sich in Israel immer<br />
zu Hause fühlt. Israels große lateinamerikanische<br />
Community bejubelte seine<br />
Anwesenheit und wehte mit Fahnen aus<br />
Kolumbien, Ecuador, Venezuela, Chile,<br />
Brasilien, Uruguay und Kuba. Yankee<br />
kam nicht nur für das Konzert, sondern<br />
besuchte die Klagemauer und feierte mit<br />
Freunden in den Bars von Tel Aviv. I.L.<br />
© Joel C Ryan/picturedesk.com; Mirjam Reither/picturedesk.com; instagram<br />
wına-magazin.at<br />
23
INTERVIEW MIT DORON RABINOVICI<br />
„Natürlich werde<br />
ich immer<br />
als Jude gelesen“<br />
Doron Rabinovici, kürzlich mit<br />
dem Theodor-Herzl-Preis der IKG<br />
ausgezeichnet, spricht über seine diversen<br />
Identitäten, seine Literatur und seine Rolle<br />
in der Öffentlichkeit, seine Beziehung zu<br />
Israel und zum Judentum, sein Leben als<br />
Sohn und das Erinnern in Österreich.<br />
WINA: Wenn von Doron Rabinovici gesprochen<br />
wird, ist oft auch von seinen verschiedenen Identitäten<br />
– israelisch-österreichisch, jüdisch-säkular,<br />
Historiker und Schriftsteller, links und unabhängig<br />
und noch mehr – die Rede. Wie fühlst du dich mit<br />
diesen Zuschreibungen?<br />
Doron Rabinovici: Ich bin Jude in Wien, ein<br />
deutschsprachiger Autor in Österreich, und meine<br />
israelische Identität ist trotzdem sehr stark. Ich<br />
glaube, was gewesen ist, macht das Wesen aus, aber<br />
es gibt immer etwas, das noch vor uns liegt. Die<br />
voll ausformulierte Identität wird erst auf meinem<br />
Grabstein zu finden sein. Bis dahin habe ich noch<br />
ein Wörtchen mitzuschreiben.<br />
„Mitzuschreiben“, das heißt wohl, du siehst dich primär<br />
als Schreibender und nicht als Wortmelder.<br />
Inwieweit beeinflussen jedoch politische und gesellschaftliche<br />
Situationen die Gewichtungen? In<br />
schlimmen Zeiten könnte ein jüdischer Schriftsteller<br />
seine Aufgabe ja vielleicht eher im öffentlichen<br />
Aktivismus als im stillen Romanschreiben sehen.<br />
❙ Ja, es gibt Zeiten, da ist man als Jude stärker gefordert.<br />
Zu dem Thema hat Hannah Arendt den<br />
kürzesten klaren Satz gesagt: „Wenn man als Jude<br />
angegriffen wird, hat es keinen Sinn, sich als etwas<br />
anderes zu verteidigen.“ Wenn es hingegen um allgemein<br />
menschliche Themen geht, hat es keinen<br />
Interview: Anita Pollak<br />
Foto: Daniel Shaked<br />
„Ich glaube,<br />
dass mir<br />
zunehmend<br />
das mir Wichtigewichtiger<br />
wird und mir<br />
dasDringliche<br />
immer mehr<br />
aufdieNerven<br />
geht.“<br />
Sinn, immer mit jüdischen Texten zu antworten.<br />
Wenn wir z. B. darüber reden, dass uns eine Klimakatastrophe<br />
droht, so muss ich das nicht unbedingt<br />
mit Moses behandeln. Aber natürlich werde ich immer,<br />
egal was ich sage oder schreibe, als Jude gelesen.<br />
Stört dich diese Punzierung als jüdischer Autor<br />
manchmal?<br />
❙ Ja, es stört mich, wenn ich in eine Schublade gelegt<br />
werde, und es stört mich, wenn es verleugnet wird.<br />
Ich wehre mich gegen die falsche Punzierung durch<br />
mein Schreiben, und ich glaube, dass sich meine Romane<br />
auch dagegen abschirmen. Bei uns als Juden<br />
spielt es eine andere Rolle, dessen sind wir uns bewusst,<br />
aber auch ein Tiroler Autor wird immer wieder<br />
mit Tiroler Fragen konfrontiert werden. Letztlich<br />
kann ich aber nicht immer nur als Jude sprechen,<br />
das wäre nicht richtig.<br />
Es gibt neben der nicht-jüdischen Rezeption wohl<br />
auch die Vereinnahmung von jüdischer Seite, in<br />
dem Sinne, was man als Jude schreiben darf oder<br />
nicht. Wie stehst du dazu?<br />
❙ Ich setze mich darüber hinweg. Letztlich war ich<br />
aber immer wieder erstaunt, wie wenig Widerstand<br />
ich erlebt habe. Oft wurde mir auch gesagt,<br />
wie mutig ich sei, ich finde, verglichen mit dem,<br />
was andere Leute auf unserer Welt riskieren, ist das<br />
24 wına| Juli_August 2019
AUF MÄNGEL HINWEISEN<br />
wına-magazin.at<br />
25
I WIE RABINOVICI<br />
nichts. Natürlich gibt es auch die Überlegung, was<br />
missverständlich sein könnte, aber letztlich ist es<br />
die Aufgabe des Schriftstellers, sich etwas einfallen<br />
zu lassen. Die Inspiration liegt immer auch in<br />
der Nähe der Impertinenz, das muss so sein. Der<br />
gute Einfall kommt von innen und von außen, als<br />
käme er von einem anderen Universum, und insofern<br />
kann ich mich nicht darum scheren, ob das gebührlich<br />
ist oder nicht.<br />
Wenn man zu einem öffentlichen Anlass einen<br />
aufrechten, über jeden Zweifel erhabenen Redner<br />
sucht, wendet man sich an Doron Rabinovici.<br />
Stimmt dieser Eindruck?<br />
❙ Als Jude bin ich immer schon das, was als „das andere<br />
Österreich“ zitiert wird, aber in Österreich sind<br />
die Autoren, da gibt es eine ganze Reihe wie z. B.<br />
auch Michael Köhlmeier, überhaupt eine Stimme,<br />
die auf einen Mangel hinweist. Der Mangel ist, dass<br />
die anderen Eliten, Politiker oder auch Wissenschaftler,<br />
nicht genügend klar sagen, was international<br />
Mindestmaß der Zivilisation ist. Das ist z. B. in<br />
Deutschland anders. Dort gibt es keinen Markt dafür,<br />
jetzt ist er allerdings wieder im Wachsen, weil es<br />
neue rechte Entwicklungen gibt. In Israel ist die Sache<br />
ganz klar, dort haben Autoren eine Aufgabe, die<br />
im jüdischen Kontext auch an die biblischen Propheten<br />
denken lässt, es sind klare Stimmen.<br />
Aber alle israelischen Autoren, mit denen ich Gespräche<br />
geführt habe – von Amos Oz bis Nir Baram<br />
– haben gesagt, unsere politische Meinung äußern<br />
wir als Kolumnisten in israelischen Medien, aber<br />
unsere Literatur halten wir frei davon.<br />
Ja, aber das glaube ich nicht ganz. Denn ganz so<br />
wertneutral kann einer einen Roman nicht schreiben,<br />
damit er dann noch was wert ist.<br />
Wo liegt bei dir im Schreiben die Pflicht und wo<br />
die Kür?<br />
❙ Näher bin ich mir beim Schreiben eines Romans.<br />
Das Problem ist aber, dass sich das Dringliche<br />
oft vor das Wichtige schiebt, das halte ich<br />
für ein Grundproblem unserer Zeit. Ich glaube,<br />
dass mir zunehmend das mir Wichtige wichtiger<br />
wird und mir das Dringliche immer mehr auf die<br />
DORON RABINOVICI,<br />
geboren 1961 in Tel Aviv,<br />
übersiedelte mit seiner<br />
Familie 1964 nach Wien,<br />
wo er seither als Historiker,<br />
Schriftsteller und Publizist<br />
lebt. Zu seinem umfangreichen<br />
Werk zählen Romane<br />
wie zuletzt Die Außerirdischen,<br />
Kurzgeschichten<br />
und Essays. Gemeinsam<br />
mit Natan Sznaider schrieb<br />
er Herzl Relo@ded. Kein<br />
Märchen. Sein Band I wie<br />
Rabinovici. Zu Sprachen<br />
finden erschien jüngst bei<br />
Sonderzahl. Rabinovici ist<br />
mit zahlreichen Preisen, u. a.<br />
mit dem Toleranzpreis des<br />
Österreichischen Buchhandels,ausgezeichnetworden.<br />
Nerven geht. Aber es gibt leider äußere Pflichten,<br />
wenn man z. B. einen Artikel zu einem bestimmten<br />
Thema von mir verlangt. Oft ist man aber dann<br />
nicht zufrieden, wenn ich genau das mache, wofür<br />
ich eigentlich bekannt bin. Ich sage dann Dinge,<br />
die zu schrill klingen. Wie soll man z. B. über Antisemitismus<br />
nicht schrill sprechen, wenn die Freiheitlichen<br />
gerade in der Regierung sind – oder auch<br />
wenn die Freiheitlichen gerade nicht in der Regierung<br />
sind. Ich kann aber die Reaktionen nicht immer<br />
voraussagen. Ich habe z. B. im steirischen Landtag<br />
eine ziemlich harte Rede gehalten, aber sie wurde<br />
gegen meine Erwartung gut aufgenommen.<br />
Fühlst du als Mitglied der Gemeinde, der du angehörst,<br />
eine bestimmte Verantwortung?<br />
❙ Die spüre ich schon, aber sie hindert mich nicht,<br />
gewisse Dinge zu äußern. Wir sind eine kleine Gemeinde<br />
und sollten von uns auch nicht zu viel erwarten.<br />
Wir sind aber gleichzeitig eine gewisse Autorität<br />
für dieses Land, weil wir nicht nur für uns sprechen,<br />
sondern schon auch ein Vermächtnis haben. Wir haben<br />
das bisher gar nicht so schlecht gemacht. Mehr<br />
als die offizielle Politik hat zum Beispiel die Gemeinde<br />
verstanden, dass mit den Freiheitlichen kein<br />
Staat zu machen ist und man ihrem Wandel nicht<br />
trauen kann.<br />
Dein jüngster Band I wie Rabinovici zeigt besonders<br />
berührend, wie sehr dein Leben als Sohn, als Angehöriger<br />
der Zweiten Generation, dein Dasein und<br />
deinen Lebensweg bestimmt hat. Das Verständnis<br />
für die Eltern nimmt offenbar zu, je älter man wird.<br />
❙ Ja, man muss aber nicht alles, was sie gemacht haben,<br />
wiederholen. Für meine Eltern waren wir das<br />
Wichtigste. Meine Eltern haben uns mit ihrer Liebe<br />
aber auch zum Teil überfordert. Alles, was wir gesagt<br />
haben, wurde einerseits hochgehalten, andererseits<br />
wurden wir ins Theater, in die Oper, in Ausstellungen<br />
mitgeschleppt, wir sollten Sprachen lernen, aber<br />
nicht Rumänisch oder Polnisch. Und als ich einmal<br />
meiner Mutter sagte, ich würde gern ein Buch auf Jiddisch<br />
schreiben, sagte sie: Wer soll das lesen? Mir ist<br />
es wichtig, dass Kinder auch Kinder sein können. In<br />
einer Situation, in der es wichtig war, weiterzuleben,<br />
den Aufstieg zu schaffen, aufzubauen, ging das aber<br />
26 wına| Juli_August 2019
JÜDISCH-ORTHODOXER ATHEIST<br />
nicht. Als ich einmal die Idee hatte, Jus zu studieren,<br />
sagten sie, das wäre nicht gut, wir wüssten ja nicht,<br />
in welches Land es uns noch verschlagen würde. Sie<br />
waren glücklich, wenn man Arzt werden wollte. Da<br />
schwingt auch die Erfahrung mit, dass man als Arzt<br />
nicht so leicht nach links gewiesen wurde.<br />
Auch das Leben im Provisorium, das Zwischenden-Stühlen-Sitzen,<br />
war in dieser Generation prägend,<br />
wie hast du das verarbeitet?<br />
❙ Mein Vater hat hier gelebt, ist aber in Israel begraben,<br />
mein Bruder lebt in Israel, und ich war eigentlich<br />
der linke Zionist und bin hier geblieben. Was mir<br />
meine Eltern, ohne es zu wollen, mitgegeben haben,<br />
ist aber: Ich bin ein Mensch ohne Heimat. Aber Israel<br />
war und ist uns wichtig.<br />
Ich bin nicht der Meinung, dass wir hier sein sollen,<br />
dass es eine jüdische Gemeinde außerhalb Israels<br />
geben muss, aber ich finde, dass die, die da sind,<br />
geschützt werden sollen.<br />
Es ist eine Tatsache, dass die jüdische Existenz auf<br />
unserem Erdball prekär ist. Sie ist aber in Europa<br />
nicht unsicherer als anderswo. Die Idee, man muss<br />
von hier fliehen, halte ich für übertrieben. Die Diaspora<br />
wird aber umso stärker, weil wir wissen, dass es<br />
Israel gibt.<br />
Israel ist kein Land mehr, das so anders ist. Es gibt<br />
in Israel Minderheiten, eine Globalisierung, migrantische<br />
Arbeiter, und insofern ist es auch nicht<br />
verwunderlich, dass Israelis nach Berlin gehen. Weniger<br />
normal ist, dass Berlin ein Thema ist und London<br />
und Paris weniger, das verweist auf einen anderen<br />
Teil der Geschichte.<br />
Die letzten Zeugen dieser Geschichte, denen du ja<br />
im Burgtheater ein Forum gewidmet hast, verstummen.<br />
Bleibt die Erinnerung an die Vergangenheit<br />
eine lebenslange Aufgabe?<br />
❙ Es gibt kein Leben jenseits der Erinnerung. Die<br />
Frage ist, was wir erinnern und was wir vergessen.<br />
Wir, so sagen die Überlebenden, haben eine Geschichte,<br />
die in diesem Land Jahrzehnte lang vergessen<br />
und verdrängt wurde. Stattdessen wurde die<br />
Erinnerung der Stalin-Kämpfer und Landser gepflegt<br />
und der Mythos vom ersten Opfer. Diese unsere<br />
Erinnerung, die ein Störfaktor war, wieder in das<br />
Doron<br />
Rabinovici:<br />
I wie Rabinovici:<br />
Zu Sprachen<br />
finden.<br />
Sonderzahl<br />
Verlag,<br />
128 S., € 16<br />
Doron<br />
Rabinovici,<br />
Natan<br />
Sznaider:<br />
Herzl Relo@<br />
ded. Kein<br />
Märchen.<br />
Suhrkamp<br />
Verlag, 207 S.,<br />
€ 19,95<br />
„Esgibtdurchaus<br />
Dinge,<br />
die ich halte,<br />
Feste, die ich<br />
feiere, Lieder,<br />
die ich singe,<br />
aber nicht<br />
alsGläubiger,<br />
sondern als<br />
Teil einer Ehe,<br />
einer Familie<br />
und einer<br />
Gemeinde.“<br />
Zentrum zu rücken, war daher wichtig, und diese<br />
Erinnerung bleibt relevant, solange Menschen sagen,<br />
jetzt muss einmal Schluss sein. Es ist schwer,<br />
in Österreich jenseits der jüdischen Geschichte leben<br />
zu wollen, denn man wird hier immer wieder<br />
darauf zurückgeworfen.<br />
Rabbiner Paul Chaim Eisenberg hat einmal gesagt,<br />
Doron ist koscher genug. Wie hältst du es mit der<br />
Religion?<br />
❙ Die Existenz der Religiösen hat für mich als jüdisch-orthodoxen<br />
Atheisten eine besondere Notwendigkeit,<br />
nämlich, mich zurückzuweisen auf<br />
meine Toleranz, zu akzeptieren, dass ein anderer<br />
glaubt, auch wenn man das nicht nachvollziehen<br />
kann. Andererseits fordere ich Toleranz und<br />
Respekt vor der Säkularität. Der Staat muss getrennt<br />
sein von der Religion. Das ist besser für den<br />
Staat, aber auch besser für die Religion. Gleichzeitig<br />
verteidige ich die Religiösen sehr wohl, wenn<br />
es um Anwürfe von außen geht. Ich habe einmal<br />
für das Jüdische Museum einen Text mit dem Titel<br />
Wem koscher Blunzn ist geschrieben. Denn anders<br />
als in anderen Religionen kann man Jude sein,<br />
ohne an Gott zu glauben, aber der grundlegende<br />
Glaube, dass man ein Volk ist, bleibt. Damit ist erklärt,<br />
dass es immer schon ein säkulares Judentum<br />
geben konnte und seit der Aufklärung auch gibt.<br />
Es ist ein wichtiger Teil unserer Kultur. Man kann<br />
sagen, ja, ein Teil der Orthodoxie hat unsere Tradition<br />
weitergetragen, aber wichtig waren immer<br />
auch die Reformer. Sowohl das Festhalten wie auch<br />
das Anpassen haben den Fortbestand des Judentums<br />
ermöglicht.<br />
Und wie sieht dein persönliches Verhältnis zur Tradition<br />
aus?<br />
❙ Es gibt durchaus Dinge, die ich halte, Feste, die ich<br />
feiere, Lieder, die ich singe, aber nicht als Gläubiger,<br />
sondern als Teil einer Ehe, einer Familie und einer<br />
Gemeinde. Es gibt die Zeit, in der man als Kind in<br />
der Synagoge herumrennt, die Zeit, in der man als<br />
Jugendlicher davorsteht, dann gibt’s die Zeit, in der<br />
man hineingeht und vielleicht sogar mitliest, und<br />
die Zeit, in der man mit den Kindern hingeht, und<br />
das hat mit dieser Gemeinschaft zu tun.<br />
wına-magazin.at<br />
27
NARRATIVE LEBENSGESCHICHTEN<br />
Brigitte Ungar-<br />
Klein: „Es ist der<br />
Wunsch, auch wenn<br />
die Vorzeichen sehr<br />
negativ sind, dass wir<br />
doch in eine positive<br />
Zeit gehen.“<br />
28 wına| Juli_August 2019
INTERVIEW MIT BRIGITTE UNGAR-KLEIN<br />
Als U-Boot<br />
ÜBERLEBT<br />
Die Wiener Historikerin Brigitte Ungar-Klein legt nun<br />
mit Schattenexistenz ihre langjährige Forschung zum Überleben<br />
als U-Boot in der NS-Zeit in Buchform vor. Insgesamt haben an<br />
die 1.000 Jüdinnen und Juden im Verborgenen in Wien überlebt,<br />
sagte Ungar-Klein im Interview mit WINA.<br />
WINA: Was war Ihre Motivation, sich mit dem Thema<br />
auseinanderzusetzen?<br />
Brigitte Ungar-Klein: Es waren mehrere Zufälle. Der<br />
erste Zufall war, dass ich von Bekannten gehört habe,<br />
dass sie während des Krieges in einem Keller versteckt<br />
gelebt haben und dass sich ihre Lebenssituation danach<br />
sehr verändert hat, dass aus einem lebenslustigen<br />
Mann ein eher depressiver Mensch geworden ist,<br />
wo man nach 45 gemerkt hat, da war eine Zäsur und<br />
er konnte an das vorherige Leben nicht wirklich anschließen.<br />
Wann haben Sie davon erfahren?<br />
❙ Das war Anfang der 1980er-Jahre. Etwas später, als<br />
ich mit meinem Studium bereits fertig war, aber weiterforschen<br />
wollte, hat mich Erika Weinzierl gefragt,<br />
ob ich mich mit U-Booten beschäftigen will. Ich habe<br />
eigentlich sofort zugesagt, ohne dass ich mir vorstellen<br />
konnte, erstens wie lange ich brauchen werde – wobei<br />
natürlich ein ganzes Berufsleben zwischen dem Anfang<br />
und jetzt dem Buch steht. Aber ich wusste auch<br />
überhaupt nicht, wo ich Informationen herbekommen<br />
könnte. Und es war auch nicht so, dass ich mir<br />
einfach Literatur hernehmen konnte, das hat es zum<br />
damaligen Zeitpunkt nicht gegeben. Was es gegeben<br />
hat, war das Buch von Erika Weinzierl Zu wenig Gerechte<br />
und, als Einstieg in diese Forschung, Briefe, die<br />
sie bekommen hat, nachdem sie einen Aufruf in Zeitungen<br />
gemacht hat, wer hat Juden geholfen? So bin<br />
ich zu den ersten Namen gekommen.<br />
Sie haben in der Folge mehrere Jahrzehnte an diesem<br />
Thema gearbeitet. Wie sah zu Beginn die Quellenlage<br />
aus, und haben sich über die Jahrzehnte<br />
auch neue Quellen aufgetan?<br />
❙ Quellen hat es nur sehr beschränkt gegeben. Eben<br />
diese Briefe. Dann die bekannte Familie, die ich dazu<br />
Interview: Alexia Weiss<br />
Fotos: Daniel Shaked<br />
„Einige wenige<br />
haben das<br />
dann überlebt,<br />
abereinGroßteil<br />
dieser<br />
Aufgegriffenen<br />
ist genauso<br />
deportiert und<br />
ermordet<br />
worden.“<br />
befragt habe. Von einer Freundin der Familie habe<br />
ich erfahren, dass die Mutter bei der Schwester überlebt<br />
hat, diese hat in einer „privilegierten Mischehe“<br />
in der Naglergasse gewohnt. Dann habe ich selbst in<br />
der jüdischen Gemeindezeitung ein Inserat geschalten,<br />
und da haben sich einige Personen gemeldet, teilweise<br />
auch Personen, die selbst nicht betroffen waren,<br />
aber über U-Boot-Geschichten Bescheid wussten. Da<br />
hat sich zum Beispiel auch die Zion-Schwester Hedwig<br />
gemeldet, eine Tochter des Ehepaars Wahle, das<br />
versteckt in Wien gelebt hat. Sie hat mir über ihre Eltern<br />
ein Interview gegeben.<br />
Und so, step by step und zunächst einmal über oral history,<br />
also über narrative Lebensgeschichten, bin ich zu<br />
der Thematik gekommen. Dann haben mir meine Gesprächspartner<br />
auch erzählt, sie hätten sich bei Stellen<br />
gemeldet, es hat einen U-Boot-Verband gegeben,<br />
der hat Ausweise ausgestellt. Dem bin ich nachgegangen.<br />
So bin ich zur Information gekommen, dass<br />
es die „Zentralregistrierstelle für die Opfer des Naziterrors“<br />
gegeben hat, wo man sich melden und angeben<br />
konnte, aus welchem Grund man verfolgt wurde,<br />
und da hat es eben auch schon ein Feld „U-Boot“ gegeben,<br />
das man ankreuzen konnte. Diese Karteikarten<br />
befinden sich im Wiener Stadt- und Landesarchiv.<br />
Wie schwer ist/war es, hier auf nachvollziehbare Zahlen<br />
von Menschen, die als U-Boot in Wien gelebt oder<br />
überlebt haben, zu kommen?<br />
❙ Letztgültig ist bei diesen historischen Forschungen<br />
eigentlich gar nichts. Es kann sich immer wieder irgendetwas<br />
ergeben. Vorausschicken möchte ich, dass<br />
die Definition, welche Personengruppe ich in meinem<br />
Buch behandle, eine ganz spezielle ist. U-Boot heißt<br />
für mich nicht ausschließlich versteckt sein, es geht<br />
mir um das Leben im Verborgenen, darum habe ich<br />
das Buch ja auch Schattenexistenz genannt. Es waren<br />
wına-magazin.at<br />
29
LEBEN IM VERBORGENEN<br />
Existenzen, die sich dahinter, im Schatten abgespielt<br />
haben. Es hat Personen gegeben, die sich eine illegale<br />
Identität verschafft haben. Es hat Personen gegeben,<br />
die versucht haben, ihre Einordnung im Rahmen der<br />
Nürnberger Rassegesetze zu verändern, also von einem<br />
„Volljuden“ zu einem „Mischling 1. Grades“ zu<br />
werden. Es hat Familien gegeben, wo die Frauen dann<br />
angeführt haben, dass der Vater gar nicht der Vater war,<br />
einfach um für die Kinder eine bessere Einordnung<br />
zu bekommen. Ich habe jüdische U-Boote in meiner<br />
Kartei aufgenommen beziehungsweise dann in<br />
den Statistiken behandelt, die hauptsächlich in Wien<br />
im Verborgenen gelebt haben, unabhängig von der<br />
Staatsbürgerschaft. Ein prominenter Fall zum Beispiel<br />
waren Dorothea Neff und Lilli Wolff, sie waren<br />
beide deutsche Staatsbürgerinnen.<br />
Wie viele Menschen haben Sie gefunden, die in Wien<br />
als U-Boot gelebt haben, und wie viele Menschen haben<br />
das Kriegsende auch erlebt?<br />
❙ Ich habe etwa 1.500 Personen, die in die Kategorie<br />
fallen, die ich behandelt habe, gefunden. Bei ungefähr<br />
einem Drittel ist es beim Versuch geblieben.<br />
Sie wurden aus den verschiedensten Gründen aufgegriffen,<br />
festgenommen und kamen dann eben in die<br />
Mühlen der NS-Behörden. Einige wenige haben das<br />
dann überlebt, aber ein Großteil dieser Aufgegriffenen<br />
ist genauso deportiert und ermordet worden wie<br />
viele andere auch.<br />
Das heißt, ungefähr 1.000 Menschen haben als U-<br />
Boot oder mit einer falschen Identität in Wien überlebt.<br />
❙ Ja. Es gibt unter diesen 1.000 Menschen, die überlebt<br />
haben, noch eine Gruppe von Personen, hauptsächlich<br />
Männer und hauptsächlich Personen, die entweder<br />
als „Geltungsjuden“ oder als „Mischlinge“ eingeordnet<br />
waren, die ab Herbst 1944 versucht haben, von<br />
der Bildfläche zu verschwinden. Das ging damit zusammen,<br />
dass ab diesem Zeitpunkt vor allem jüngere<br />
Männer rekrutiert wurden zum Schanzen Graben –<br />
im Burgenland zum Beispiel, in der Steiermark. Mein<br />
Vater war zum Beispiel beim so genannten Schanzenbau<br />
und war dann ein paar Monate dort zwangsverpflichtet.<br />
Der frühere Präsident der Kultusgemeinde,<br />
Paul Grosz, sollte sich auch melden und ist damals<br />
mit seinem Vater in die Castellezgasse zu dieser Meldestelle<br />
gegangen. Er hat aber dann mit seinem Vater<br />
einen Weg gefunden, wegzugehen von dort, und war<br />
dann von dem Zeitpunkt an versteckt.<br />
Sie haben Ihren Vater erwähnt – hat er auch in Wien<br />
überlebt?<br />
❙ Mein Vater hat hier überlebt, aber eben nicht als U-<br />
Boot, er war so genannter „Mischling 1. Grades“, er<br />
war eine Zeit lang als Totengräber am Zentralfriedhof,<br />
dann war er als Kürschner zwangsverpflichtet und<br />
30 wına| Juli_August 2019<br />
BUCHTIPP<br />
Brigitte Ungar-Klein:<br />
Schattenexistenz.<br />
Jüdische U-Boote in Wien<br />
1938−1945.<br />
Picus Verlag 2019,<br />
367 Seiten, € 28<br />
„Die Betroffenen<br />
haben<br />
wirklichJahre<br />
lang um Anerkennung<br />
ringen müssen,<br />
wie überhaupt<br />
Juden als Opfer<br />
spät anerkannt<br />
wurden.“<br />
dann ein paar Monate beim so genannten Schanzen<br />
eingeteilt.<br />
Ihr Vater war also bedroht, konnte aber offiziell hier<br />
überleben.<br />
❙ So ist es, er war offiziell gemeldet. Es haben ja zwischen<br />
5.000 und 5.500 Juden hier das Kriegsende<br />
erlebt, das waren zum Großteil Personen, die in<br />
„Mischehen“ gelebt haben, die eben einen Status als<br />
„Geltungsjuden“ gehabt haben, Arik Brauer war zum<br />
Beispiel ein so genannter „Geltungsjude“.<br />
Wer fiel denn in die Kategorie „Mischling“, wer in die<br />
Kategorie „Geltungsjude“?<br />
❙ „Mischling 1. Grades“ war jemand, der einen jüdischen<br />
und einen nicht-jüdischen Elternteil hatte und<br />
nicht in der Kultusgemeinde eingeschrieben war, das<br />
heißt, kein Glaubensjude war, und zwar zum Zeitpunkt<br />
des Inkrafttretens der Nürnberger Rassegesetze<br />
1935, was natürlich für die österreichische jüdische<br />
Bevölkerung sehr prekär war, denn wie sollten die<br />
1935 schon wissen, was auf sie zukommt. Bei meinen<br />
Großeltern und bei meinem Vater war der Fall so gelagert,<br />
dass sie – ich nehme an, aus politischen Gründen<br />
– etwa 1927 aus der Kultusgemeinde ausgetreten<br />
sind, und daher war mein Vater so genannter „Mischling<br />
1. Grades“. „Geltungsjuden“ sind hingegen in der<br />
Kultusgemeinde eingeschrieben gewesen.<br />
Menschen überlebten Jahre ohne medizinische Versorgung,<br />
ohne regelmäßiges Essen, in Angst, teilweise<br />
ohne fixes Dach über dem Kopf, ohne Heizung,<br />
ohne Sanitäranlagen. Doch nach dem Krieg wurde<br />
ihnen abgesprochen, Opfer zu sein. Wie lange hat es<br />
gedauert, bis auch die U-Boote als Opfer, die es zu<br />
entschädigen gilt, anerkannt wurden?<br />
❙ Erst mit der 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes<br />
wurden U-Boote 1961 finanziell entschädigt. Der<br />
behördliche Terminus ist Leben im Verborgenen.<br />
Dieses musste in menschenunwürdigen Bedingungen<br />
vonstattengegangen sein. Die Betroffenen haben<br />
wirklich Jahre lang um Anerkennung ringen müssen,<br />
wie überhaupt Juden als Opfer spät anerkannt wurden.<br />
Das Opferfürsorgegesetz hat es ja schon relativ<br />
bald nach Kriegsende gegeben, und Juden waren<br />
gar nicht berücksichtigt, weil es darum gegangen ist,<br />
dass man für ein freies, demokratisches, unabhängiges<br />
Österreich gekämpft haben musste. Auch eine der<br />
bekanntesten Helferinnen, Dr. Ella Lingens, musste<br />
über viele Jahre kämpfen, um eine Entschädigung für<br />
ihren Aufenthalt in Auschwitz und in anderen Lagern<br />
zu bekommen.<br />
1961 kam es also zu dieser Novellierung. Wurden<br />
dann alle U-Boote entschädigt?<br />
❙ Wenn man für die Opferfürsorge eingereicht hat,<br />
musste man eine Art Erlebnisbericht verfassen, man
ALS OPFER SPÄT ANERKANNT<br />
musste Zeugen beibringen, je mehr Zeugen umso besser.<br />
Wenn man sich nach 1945 schon bei diversen Opferverbänden<br />
gemeldet und dort einen Fragebogen<br />
ausgefüllt hatte, war das schon mal gut. Dann war dokumentiert,<br />
dass man im Verborgenen als U-Boot gelebt<br />
hatte, aber es musste dann auch von Zeugen bestätigt<br />
werden. Schwierig hatten es Personen, die von<br />
„arischen“ Familienmitgliedern betreut worden waren,<br />
und auch Personen, die beim späteren Lebensgefährten,<br />
späteren Ehegatten, bei der späteren Ehegattin<br />
versteckt waren.<br />
Wurde das nicht als Leben im Verborgenen anerkannt?<br />
❙ Es wurde nicht als menschenunwürdig anerkannt,<br />
weil bei der Familie zu leben oder beim späteren Lebenspartner<br />
kann doch nicht menschenunwürdig sein.<br />
Mit welchen physischen, aber auch psychischen Folgen<br />
hatten Menschen, die als U-Boot überlebt haben,<br />
zu kämpfen? Und zu welchen Brüchen in Lebensgeschichten<br />
führte das Leben im Verborgenen?<br />
❙ Ich glaube, dass es bei allen Menschen, die unter<br />
Verfolgung leiden mussten, Brüche gegeben hat. Die<br />
Familien wurden auseinandergerissen, Familienmitglieder<br />
ermordet, da kann man nicht zur Normalität<br />
übergehen. Ich habe in meinen Gesprächen gehört,<br />
dass man nicht imstande ist, in einem Lift zu fahren,<br />
in einem engen Raum zu sein. Elfriede Gerstl hat zum<br />
Beispiel Kleidungsstücke gesammelt, und das war sicher<br />
eine Kompensation dafür, dass sie als Kind keine<br />
oder nur sehr begrenzt Kleidungsstücke hatte. Die wenigsten<br />
konnten wieder in ihre Berufe einsteigen. Es<br />
hat zum Beispiel eine Opernsängerin versteckt gelebt,<br />
sie musste flüstern und hat dadurch ihre Singstimme<br />
verloren. Ich habe bereits das Ehepaar Wahle<br />
erwähnt: In diesem Fall konnten dann beide wieder<br />
in ihren Berufen arbeiten, er war später auch Präsident<br />
des Obersten Gerichtshofs. Aber das waren Ausnahmen.<br />
Es hing sicherlich vom Alter ab, ob es junge<br />
Erwachsene waren, die erst vor oder in einer Ausbildung<br />
waren, oder ältere Menschen, die dann einfach<br />
nicht mehr anschließen konnten.<br />
Auch Helferinnen und Helfer waren von Repressionen<br />
bis hin zu KZ-Internierung und Tod betroffen.<br />
Wie mutig müssen Menschen sein, um dennoch für<br />
andere einzustehen?<br />
❙ In meinen Gesprächen habe ich wenig von Mut<br />
gehört. Ich habe mehr davon gehört, dass es einfach<br />
selbstverständlich war zu helfen, dass man ein Gegner<br />
des Regimes war. Das Ehepaar Lingens war eindeutig<br />
gegen das NS-Regime eingestellt und hat in<br />
ihrem Kreis durchaus auch diskutiert, was man tun<br />
kann. Die wenigsten haben über Konsequenzen nachgedacht,<br />
es war vermutlich auch gar nicht die Zeit,<br />
über Konsequenzen nachzudenken. Erst wenn es so<br />
weit war, man diese Entscheidung getroffen hat, kam<br />
einem vielleicht das Bewusstsein.<br />
Hat das auch damit zu tun, dass die Konsequenzen<br />
nicht klar waren? Es war ja auch vielen Juden nicht<br />
klar, was sie nach einer Deportation erwartet, was<br />
ein KZ ist.<br />
❙ Vor allem diese Endgültigkeit der Konzentrationslager.<br />
Das war sicherlich nicht so bekannt, obwohl es<br />
selbstverständlich Verordnungen gegeben hat, das hat<br />
schon jeder gewusst: Man darf nicht mit Juden verkehren,<br />
und es ist auch verboten, Juden zu beherbergen.<br />
Das waren ganz dezidierte Gesetzmäßigkeiten.<br />
Hat man gedacht, wenn man erwischt wird, kommt<br />
man in ein herkömmliches Gefängnis – oder was hat<br />
man gedacht, was dann passiert?<br />
❙ Ich glaube, man hat in der Sekunde nicht gedacht.<br />
Und wie man dann schon in der Situation war, war<br />
es zu spät.<br />
Wie geht es einem, wenn man selbst Jüdin ist, wenn<br />
man hier mit Familiengeschichten von Freunden und<br />
Bekannten konfrontiert ist? Wie erschwert diese<br />
emotionale Betroffenheit die Arbeit an einem solchen<br />
Forschungsprojekt? Oder schafft sie einen<br />
leichteren Zugang?<br />
❙ Dadurch, dass ich als Historikerin seit Jahrzehnten<br />
im Dokumentationsarchiv des österreichischen<br />
Widerstandes bei Projekten tätig bin, die sich hauptsächlich<br />
mit dieser Thematik beschäftigen, ist es wohl<br />
beides. Einerseits hat man einen, ich will nicht sagen:<br />
Schutzmantel – den hat man nicht. Aber man<br />
nimmt die Akten, wie sie sind, schreibt den Namen<br />
auf, schreibt das Geburtsdatum auf, schreibt die Zeugen<br />
auf, schreibt vielleicht, „hat in einem Grab, hat in<br />
einer Gruft überlebt“. Das nimmt man so zur Kenntnis.<br />
Bei den Gesprächen ist das wieder ein bisschen<br />
anders. Wenn ich einen Gesprächspartner habe, der<br />
plötzlich zu weinen beginnt, dann tue ich mir bis heute<br />
schwer damit. Das rührt einen, da kann man nicht sagen,<br />
ich bin Historikerin, ich arbeite.<br />
Sie haben mehrere Enkel, denen Sie auch das Buch<br />
gewidmet haben – welche Botschaft möchten Sie<br />
Ihnen als Fazit aus Ihrer Forschung mit auf den Weg<br />
geben?<br />
❙ Es war mir wichtig, das Buch einerseits meinen Enkelkindern<br />
zu widmen, andererseits den Personen,<br />
die geholfen haben. Warum habe ich das für meine<br />
Enkelkinder gemacht? Man weiß nie, was kommt.<br />
Man muss hellhörig sein. Man muss aufpassen. Man<br />
soll und darf sich auch nicht verkriechen. Man muss<br />
selbstbewusst durch das Leben gehen und nach Möglichkeit<br />
auch die Identität nicht verleugnen. Es ist der<br />
Wunsch, auch wenn die Vorzeichen sehr negativ sind,<br />
dass wir doch in eine positive Zeit gehen.<br />
BRIGITTE<br />
UNGAR-KLEIN,<br />
1953 in Wien geboren,<br />
LehramtsstudiumanderUniversität<br />
Wien (Deutsch und<br />
Geschichte), anschließend<br />
Unterricht an einer Wiener<br />
AHS. Daneben historische<br />
Projekte am Dokumentationsarchiv<br />
des österreichischen<br />
Widerstandes (DÖW),<br />
schließlich von 1996 bis<br />
2013 Leiterin des Jüdischen<br />
Instituts für Erwachsenenbildung<br />
(JIFE) der Wiener<br />
Volkshochschulen. Co-<br />
Autorin des Buches KündigungsgrundNichtariersowie<br />
Herausgeberin des Bandes<br />
Jüdische Gemeinden in<br />
Europa. Eben erschien ihre<br />
Studie Schattenexistenz.<br />
Ungar-Klein ist verheiratet,<br />
Mutter zweier erwachsener<br />
Söhne sowie sechsfache<br />
Großmutter.SielebtinWien.<br />
wına-magazin.at<br />
31
PERSÖNLICHES FILMDOKUMENT<br />
Ronny Böhmer auf<br />
der Spur seines Vaters,<br />
dem KZ-Häftling<br />
Robert Böhmer.<br />
Was alles noch<br />
EIN GLÜCK WAR ...<br />
Wie er Dem Buchewald-Häftling Robert<br />
Böhmer auf der Spur war und daraus<br />
ein Film wurde, erzählt dessen Sohn<br />
Ronaldo, den seine Freunde<br />
„Ronny“ nennen.<br />
Von Anita Pollak<br />
E<br />
s ist eine Geschichte, wie<br />
sie viele der Nachgeborenen<br />
kennen. Solange die<br />
Eltern lebten, hat man sie<br />
nicht gefragt; wenn sie etwas<br />
erzählten, hat man nicht wirklich zugehört;<br />
und wenn man ehrlich ist, hat es<br />
einen damals, als man jung war, eigentlich<br />
auch nicht so brennend interessiert,<br />
das gibt Ronny Böhmer heute gerne zu.<br />
Doch ein zerknittertes Stück Papier,<br />
das wusste er, das trug sein Vater immer<br />
mit sich: aus Wien über die Stationen<br />
seiner Emigration bis nach Argentinien<br />
und dann schließlich wieder zurück<br />
nach Wien, in seine Geburtsstadt. Es war<br />
der Entlassungsschein des „Schutzhäftlings“<br />
Robert Böhmer aus dem KZ Buchenwald.<br />
Und als Ronny vor einigen Jahren mit<br />
seiner Familie eine Reise nach Leipzig<br />
und Weimar plante, wollte er gleichsam<br />
am Weg das nahe liegende Buchenwald<br />
bzw. die heutige KZ-Gedenkstätte aufsuchen.<br />
Eine Kopie des Entlassungsscheins<br />
hatte er vorab schon hin gesandt.<br />
Was sich daraus ergab, vor Ort und aus<br />
seinen nachfolgenden Recherchen, das<br />
berichtet Ronny in einem etwa halbstündigen<br />
Film, den seine Tochter Lia aufgenommen<br />
hat. Zweimal hat er ihn bereits<br />
vor größerem Publikum präsentiert und<br />
ist damit auf großes Interesse gestoßen.<br />
Nachdem er auf YouTube gestellt wurde,<br />
hat ihn sogar das Filmarchiv Austria in<br />
sein Archiv aufgenommen.<br />
„Aktionsjude“. Wie in allen Überlebensgeschichten<br />
aus der NS-Zeit hat<br />
auch in dieser das so genannte Glück<br />
eine schicksalshafte Rolle gespielt, und<br />
32 wına| Juli_August 2019
AKTIONSJUDE<br />
Sammelkuvert. Darin befanden<br />
sich die Dokumente<br />
Robert Böhmers, die ihm im<br />
KZ ausgestellt wurden.<br />
Robert Böhmer. Geboren 1912 in<br />
Wien, wuchs er jüdisch, großbürgerlich<br />
und kaisertreu auf. Ab April<br />
1939 überlebte er mehrere KZs.<br />
Screenshots aus dem Film: © Ronny Böhmer<br />
dass es damals schon ein<br />
Glück sein konnte, verhaftet<br />
und nach Dachau geschickt<br />
zu werden, ergibt<br />
sich heute aus der historischen<br />
Rückschau.<br />
Nach dem „Anschluss“<br />
versprach der ehrgeizige<br />
Gauleiter Odilo Globocnik<br />
dem „Führer“, Wien<br />
binnen kürzester Zeit „judenrein“ zu machen.<br />
In einer der Abschreckung dienenden<br />
„Aktion“ wurden etwa 6.000 Juden<br />
nach Dachau transportiert, in der Hoffnung,<br />
die anderen Juden Wiens würden<br />
dann schnellstens freiwillig ausreisen.<br />
Robert Böhmer wurde als einer dieser so<br />
genannten „Aktionsjuden“ erst nach Dachau<br />
und einige Monate später von dort<br />
nach Buchenwald deportiert, wo er gemeinsam<br />
mit anderen „Aktionsjuden“ im<br />
April 1939 entlassen wurde. Ausgefolgt<br />
wurde ihm dabei seine gesamte spärliche<br />
Habe, penibel aufgelistet auf der „Effektenkarte“,<br />
auf der unter anderem „2 Binder“,<br />
also Krawatten verzeichnet waren.<br />
Bei der Einlieferung<br />
war es kurioserweise<br />
nur einer gewesen.<br />
„Aber was macht ein<br />
Häftling im KZ überhaupt<br />
mit Krawatten?“<br />
Das ist nur eine der<br />
Fragen, die sich Ronny<br />
heute stellt. Auch die<br />
„Schreibstubenkarte“<br />
und eine Art Kontoblatt, das Einnahmen<br />
und Ausgaben vermerkte – „mein<br />
Vater war in Relation zu anderen Häftlingen<br />
ein reicher Mann“ – gehört zu<br />
den erstaunlichen Dokumenten, die sich<br />
beim „International Tracing Service“ im<br />
deutschen Bad Arolsen fanden. Allesamt<br />
Zeugen der bürokratisch höchst präzisen<br />
Verwaltung des mörderischen Systems.<br />
Robert Böhmer ist zwar nicht unbeschadet,<br />
aber doch noch einmal davongekommen.<br />
„In Wien wäre er sicherlich<br />
erst in eine Sammelwohnung und später<br />
vielleicht nach Auschwitz gekommen“,<br />
ist der Sohn heute überzeugt. Nach seiner<br />
Entlassung ging der Vater in Wien<br />
„Wasmachtein<br />
Häftling im KZ<br />
mitKrawatten?“<br />
Ronny Böhmer<br />
zunächst zur „Fuß- und Handpflege“ und<br />
danach zur Auswanderungsstelle, wo ihn<br />
ein Beamter mit den Worten „Nehmen<br />
Sie Platz, Herr Böhmer“ empfing. Es war<br />
Adolf Eichmann. Nach dem KZ habe er<br />
diese höflichen Worte „wie ein neues Leben“<br />
empfunden, an diese verblüffende<br />
Erzählung des Vaters kann sich Ronny<br />
gut erinnern.<br />
Das neue Leben sollte dann doch<br />
noch etwas auf sich warten lassen, aber<br />
schließlich ist Robert Böhmer in Buenos<br />
Aires vom Schiff gestiegen und dort geblieben.<br />
Er hat eine Berliner Jüdin, Ronnys<br />
Mutter, geheiratet und zwei Söhne<br />
bekommen. 1954 wollte er mit der Familie<br />
dann „für zwei Jahre“ nach Wien<br />
zurück, um seiner Mutter beim Schuhgroßhandel,<br />
den sie restituiert bekamen,<br />
zu helfen. „Meine Eltern sind noch immer<br />
da, allerdings auf dem Friedhof.“ Robert<br />
Böhmer war 1960 ein Mitbegründer<br />
der Bnai-Brith-Loge in Wien und<br />
im Vorstand der Hakoah, womit er in die<br />
Fußstapfen seines Vaters trat, der bereits<br />
vor dem Krieg Präsident der Hakoah-<br />
wına-magazin.at<br />
33
ERFOLGSPROJEKT PEACECAMP<br />
Sektion Ski & Touristik gewesen ist. „In der<br />
Hakoah-Hütte am Semmering erinnert eine<br />
Plakette noch immer an meinen Großvater<br />
Rudolf Böhmer, der den ersten Spatenstich<br />
zur Hütte gemacht hatte.“<br />
Wir sind ein nach ISO 9001 zertifiziertes Unternehmen<br />
im Bereich Gas-, Wasser- und Heizungsinstallationen<br />
und Solar. Vom Exklusivbad bis zum preiswerten<br />
Badezimmer – unser freundliches, kompetentes Team<br />
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Müller & Helmert GesmbH & CO KG<br />
„Den Frieden haben wir leider nicht geschafft.“<br />
Evelyn Böhmer-Laufer und Ronny Böhmer<br />
organisieren heuer den 17. peacecamp in Lackenhof.<br />
Israel und retour. Ronny hat in Wien Welthandel<br />
studiert und seine Karriere bei der<br />
IBM gestartet. Nach mehreren beruflichen<br />
und privaten Stationen „lief ich wieder der<br />
Evelyn über den Weg“. Die beiden kannten<br />
einander seit Jugendtagen, waren wechselseitig<br />
bei ihren ersten Hochzeiten zu Gast gewesen<br />
– und beide frisch geschieden. Evelyn<br />
Laufer lebte gerade als Psychotherapeutin<br />
in Jerusalem, und so zog der Jugendfreund<br />
1988 zu ihr nach Israel. Der Entschluss fiel<br />
ihm leicht, denn „ich hatte gerade keinen Job,<br />
keine Wohnung und nicht einmal ein Auto“.<br />
1991 kam das Paar nach Wien zurück, und<br />
Ronny landete schließlich als „Mädchen für<br />
alles“ in der Immobilienkanzlei von Ariel<br />
Muzicant. Vor zehn Jahren ging er in Pension.<br />
Gewaltfrei und friedlich. Evelyn und Ronny<br />
verbindet man heute vor allem mit dem peacecamp,<br />
das arabische und jüdische Jugendliche<br />
jeden Sommer für einige Tage in Österreich zusammenbringt.<br />
„Es sollte ein einmaliges Ereignis sein, und<br />
jetzt machen wir mit 32 Jugendlichen in Lackenhof<br />
am Ötscher gerade das 17. peacecamp! Ursprünglich war<br />
es Evelyns Idee, jetzt ist<br />
es unser beider Projekt.<br />
Den Frieden haben wir<br />
leider nicht geschafft.“<br />
Gerne, sagt er, würde<br />
er den Film über seinen<br />
Vater wieder vor<br />
Publikum zeigen und<br />
hat auch bereits Kontakt<br />
mit Schulen aufgenommen.<br />
Routine ist es<br />
für ihn noch nicht, wie<br />
man nach der Filmpräsentation<br />
im Republikanischen<br />
Club erleben<br />
konnte. Da kämpfte<br />
Ronny ganz unerwartet<br />
und plötzlich mit den<br />
Tränen. Wie es zu diesem<br />
emotionalen Moment<br />
kam, kann er sich<br />
selbst nicht erklären. „Es<br />
war in dieser Art das<br />
erste Mal. Im Film bin<br />
ich eher sachlich, wie es<br />
ja auch die Dokumente<br />
sind, die der Auslöser für<br />
meine Recherchen waren.“<br />
<br />
peacecamp<br />
Ist ein psychotherapeutisch-pädagogischesModellzurFriedenserziehung.<br />
Es bringt seit 2004 jährlich<br />
Jugendliche und seit 2016 auch<br />
Schutzsuchende für zehn Tage<br />
zusammen und bietet ihnen Raum<br />
für eine Begegnung mit sich und<br />
anderen. peacecamp will jüdische<br />
und palästinensische Jugendliche<br />
aus Israel befähigen, für den<br />
scheinbar unlösbaren Konflikt der<br />
beiden Völker besseres Verständnis<br />
und gewaltfreie, auf Empathie<br />
basierendekreativeLösungsansätze<br />
zu entwickeln und sich als mündige<br />
BürgerInnen in ihrem Lebensraum<br />
einzubringen.<br />
Ein Team aus etwa 14 Erwachsenen<br />
– PädagogInnen, KunsttherapeutInnen,<br />
TraumatherapeutInnen,<br />
ein Gruppenanalytiker und ein<br />
Video-Filmemacher – begleitet die<br />
Jugendlichendurchdaspeacecamp.<br />
Insgesamt nahmen bisher etwa 700<br />
PersonenamModellpeacecampteil.<br />
2019.peacecamp.net<br />
Foto: © Markus Neubauer, 2015 / helden-von-heute.at:<br />
34 wına| Juli_August 2019
TAG DER OFFENEN<br />
TÜR DER IKG WIEN<br />
15. September 2019<br />
Seitenstettengasse 2,<br />
1010 Wien<br />
Verantwortung für die Gesellschaft<br />
DR. JOHANN<br />
STROBL (59)<br />
kommt aus dem burgenländischen<br />
Mattersburg<br />
und lebt dort<br />
bis heute. Nach seinem<br />
Wirtschaftswissenschaftsstudium<br />
an<br />
der WU arbeitete er<br />
bis 1989 als Assistent<br />
am Institut für Kreditwirtschaft.<br />
Dann wechselte<br />
er in die damalige<br />
Creditanstalt, die spätere<br />
Bank Austria (BA),<br />
in deren Vorstand der<br />
Risikoexperte 2004<br />
aufstieg. Bis 2007 war<br />
er dort für Risiko und<br />
Finanzen zuständig.<br />
2007 wechselte er in<br />
das Führungsgremium<br />
der Raiffeisen Zentralbank.<br />
2010 zog er in<br />
den Vorstand der Raiffeisen<br />
Bank International<br />
ein. Seit März 2017<br />
ist er Vorstandschef<br />
der RBI.<br />
Die RBI unterstützt den Tag der offenen<br />
Tür der Israelitischen Kultusgemeinde<br />
Wien seit vielen Jahren. Welchen Hintergrund<br />
hat dieses Engagement?<br />
Ein Unternehmen unserer Größe hat eine<br />
Verantwortung für unsere Gesellschaft.<br />
Aufgrund unserer genossenschaftlichen<br />
Wurzeln unterstützen wir insbesondere<br />
Projekte und Institutionen, die eigenverantwortliches<br />
Handeln großschreiben. Die Israelitische<br />
Kultusgemeinde ist ein Musterbeispiel<br />
dafür, was durch bürgerschaftliches<br />
Engagement erreicht werden kann. Wenn<br />
man dann noch in die Geschichte zurückschaut<br />
und sich vergegenwärtig, wie viel<br />
Wien seinen jüdischen Bürgern verdankt –<br />
kulturell, wissenschaftlich, sozial –, dann ist<br />
unsere Unterstützung für die IKG fast schon<br />
eine Selbstverständlichkeit.<br />
Bildung hat einen sehr hohen Stellenwert<br />
im Judentum. Welche Bedeutung messen<br />
Sie Bildung bei?<br />
Bildung ist der wichtigste Rohstoff unseres<br />
Landes. Ihre Bedeutung kann gar nicht überschätzt<br />
werden. Sie ist der Schlüssel zum<br />
langfristigen Erfolg einer Volkswirtschaft,<br />
zur sozialen Teilhabe und zur Integration.<br />
Wir leben in einer Zeit, in der sehr viel über<br />
Gerechtigkeit diskutiert wird. Letztendlich<br />
ist es immer eine subjektive Wahrnehmung,<br />
was gerecht und was ungerecht ist. Für mich<br />
ist es zutiefst ungerecht, wenn man Menschen<br />
den Zugang zur Bildung verwehrt.<br />
Wie sehen Sie den zunehmenden Antisemitismus<br />
in Europa?<br />
Als Schande für Europa. Wenn Juden wieder<br />
Angst haben, in der Öffentlichkeit religiöse<br />
Symbole zu tragen, oder sogar aus<br />
Angst Europa verlassen, dann ist das unerträglich.<br />
Wir haben nicht nur die Verpflichtung,<br />
den Opfern der Schoah ein würdiges<br />
Andenken zu bewahren, sondern insbesondere<br />
auch eine Verantwortung gegenüber<br />
unseren jüdischen Mitbürgern im Hier und<br />
Heute. Sie müssen sich in Europa sicher fühlen<br />
können. Wir dürfen es nicht zulassen,<br />
dass sich das Gift des Antisemitismus weiter<br />
ausbreitet. Unser Bundespräsident hat<br />
anlässlich seines Israel-Besuchs Anfang Februar<br />
sehr klare Worte dazu gefunden.<br />
In Ihrem Metier hat die Risikobewertung<br />
einen hohen Stellenwert. Welche Risiken<br />
sehen Sie derzeit in Österreich und global?<br />
Die Wirtschaft, insbesondere die Banken,<br />
besitzen viel Erfahrung mit der Bewertung<br />
wirtschaftlicher Risiken. Wir haben gelernt,<br />
mit konjunkturellen Zyklen umzugehen.<br />
Die Bewertung von politischen Risiken, die<br />
sich, wenn sie sich manifestieren, auf die<br />
Wirtschaft durchschlagen, ist wesentlich<br />
schwieriger. Klassische Risikomodelle können<br />
das nicht abbilden. Zurzeit sind wir<br />
mit einer ganzen Reihe von politischen Risiken<br />
konfrontiert: dem Brexit, einem drohenden<br />
globalen Handelskrieg, dem Ukraine-Konflikt<br />
und so weiter. In einer solchen<br />
Situation müssen sie in der Lage sein, sehr<br />
schnell zu reagieren und sich anzupassen.<br />
Sie waren begeisterter Reiter und haben<br />
eine große Passion für Pferde. Was können<br />
Menschen von Pferden lernen?<br />
Pferde sind Fluchttiere, sehr aufmerksame<br />
und sensible Beobachter. Behandelt man<br />
sie mit Respekt und überfordert sie nicht,<br />
dann sind sie unglaublich leistungsbereit<br />
und vertrauensvoll. So kann der Umgang<br />
mit Pferden auch eine gute Übung für den<br />
Umgang mit Menschen sein.<br />
Entgeltliche Einschaltung
VON DER KONTINUITÄT ABLENKEN<br />
Der Holocaust<br />
als Folge<br />
CHRISTLICHER<br />
STIGMATISIERUNG<br />
Maccoby geht in Ein Pariavolk<br />
hart mit dem Christentum<br />
ins Gericht. Antisemitismus<br />
sei zwar kein nur in christlichen Gesellschaften<br />
auftauchendes Phänomen. Der<br />
Wissenschaftler unterscheidet zwischen<br />
griechischem, römischem, gnostischem,<br />
muslimischem und eben christlichem<br />
Antisemitismus. Nur Letzterer habe allerdings<br />
den Holocaust hervorgebracht.<br />
Der christliche Antisemitismus habe Juden<br />
auf einen Pariastatus hinabgedrückt<br />
und sie mit Stigma und Abscheu ausgestattet,<br />
„wodurch sie Ausbrüchen allgemeiner<br />
oder obrigkeitlicher Gewalt ausgesetzt<br />
wurden“. Bitteres Fazit: „Das Niveau der<br />
christlichen antisemitischen Propaganda,<br />
ihre Bestätigung in sakralen Texten und<br />
die Länge der Zeit, über die sie verbreitet<br />
wurde, sind ohne Parallele.“<br />
Das Neue Testament stellte die Juden<br />
als verfluchtes Volk hin, dem eine außergewöhnliche<br />
Bestrafung zugedacht war,<br />
so Maccoby. „Schon in den Schriften des<br />
Neuen Testaments gilt die Zerstörung des<br />
Tempels als Erfüllung dieses Fluches, und<br />
das spätere Exil der Juden (das in Wirklichkeit<br />
nicht vor der arabischen Eroberung<br />
im 7. Jahrhundert begann) wurde<br />
vordatiert und als weitere Erfüllung des<br />
Fluches betrachtet.“ Es sei allerdings nicht<br />
Die Schoah baut auf dem<br />
vom Christentum über<br />
Jahrhunderte geschürten<br />
Antisemitismus auf.<br />
Zu diesem Ergebnis kam<br />
der Talmudphilologe und<br />
Judaist Hyam Maccoby<br />
(1924–2004) in seiner 1996<br />
erschienenen Arbeit<br />
Ein Pariavolk. Zur<br />
Anthropologie des Antisemitismus.<br />
Der Verlag<br />
Hentrich & Hentrich<br />
brachte das Buch nun in<br />
deutscher Sprache heraus.<br />
Von Alexia Weiss<br />
„DasNiveauderchristlichenantisemitischen<br />
Propaganda,ihreBestätigunginsakralenTexten<br />
[…] sind ohne Parallele.“ Hyam Maccoby<br />
das Neue Testament selbst, dass die Juden<br />
zu einem Pariavolk degradiert habe. „Die<br />
Juden wurden zum Pariavolk als Folge<br />
des Triumphs des Christentums im Römischen<br />
Reich nach dem Regierungsantritt<br />
Konstantins, der sie zum ersten Mal<br />
zu einem untertanen Volk in einem christlichen<br />
Reich machte.“<br />
Doch auch dann dauerte es noch Jahrhunderte,<br />
bis Juden zu einer Pariagruppe<br />
in der christlichen Gesellschaft wurden.<br />
Trotz ständiger feindseliger Predigten<br />
hätten Juden ein menschliches und sogar<br />
würdevolles Erscheinungsbild behalten.<br />
Den Wendepunkt ortet Maccoby im<br />
11. Jahrhundert, „als Juden allmählich von<br />
der breiten Masse dämonisiert wurden:<br />
Sie wurden zur geächteten Gruppe, ausgeschlossen<br />
vom gesellschaftlichen Umgang,<br />
von der Mischehe und von jedem<br />
ehrbaren Beruf.“<br />
Die Kontinuität zwischen dem mittelalterlichen<br />
Pariatum und dem modernen<br />
Antisemitismus könne man deutlich<br />
in Russland sehen, wo die Abfassung der<br />
gefälschten Protokolle der Weisen von Zion<br />
stattfand. „Aber der größte Ausbruch von<br />
Antisemitismus fand nicht in Russland<br />
statt, sondern in Deutschland, wo die Kontinuität<br />
nicht ganz so stark ins Auge fällt<br />
und deshalb von allen geleugnet wurde, die<br />
den Antisemitismus von seinen christlichen<br />
Vorläufern loslösen möchten.“<br />
Rolle der Paria. In Deutschland seien<br />
Juden im 20. Jahrhundert nicht in Ghettoszusammengepferchtgewesen,sondern<br />
waren Richter, Professoren, Naturwissen-<br />
36 wına| Juli_August 2019
RÜCKFALL IN DAS MITTELALTER<br />
schaftler, Ärzte, Schriftsteller, Politiker. Sie<br />
lebten in Freiheit und rühmten sich überdies<br />
ihres deutschen Patriotismus. „Aber<br />
hier wurden sie zusammengetrieben, in<br />
Lager im Osten geschickt und umgebracht<br />
unter Umständen, die an mittelalterliche<br />
Bilder von der Hölle erinnern, mit<br />
jeder Beigabe, die bitterer Hass sich als Demütigung,<br />
Hunger und Folter ausdenken<br />
konnte.“ Es sei das blühende deutsche Judentum<br />
vor dem Holocaust gewesen, das<br />
dazu diente, die Aufmerksamkeit von der<br />
historischen Kontinuität des Antisemitismus<br />
abzulenken. In Wahrheit aber sei die<br />
antisemitische Propaganda der Nazis „ein<br />
Rückfall in mittelalterliches Denken und<br />
Verhalten“ gewesen, „veranlasst durch Ressentiment<br />
gegen den jüdischen Versuch,<br />
den Vorteil der Versprechungen der Aufklärung<br />
wahrzunehmen und der mittelalterlichen<br />
Rolle als Paria zu entkommen“.<br />
Die Maßnahmen der Nazis, welche die demokratischen<br />
Bürgerrechte von Juden beschnitten,<br />
hätten die mittelalterlichen Verfügungen<br />
wiederholt. Außerdem sei die<br />
Hyam Maccoby:<br />
Ein Pariavolk.<br />
Zur Anthropologie des<br />
Antisemitismus,<br />
Hentrich & Hentrich,<br />
Berlin 2019,<br />
208 S., € 24,90<br />
Propaganda, mit der die Juden verleumdet<br />
wurden, „einschließlich der Ritualmordlegende<br />
direkt der mittelalterlichen Literatur<br />
und Luthers antisemitischen Schmähschriften<br />
entnommen“ worden.<br />
Angesichts dieser Kontinuität hält<br />
Maccoby fest, „dass der Holocaust kein<br />
Mysterium war“. „Wenn ein Volk durch<br />
die Jahrhunderte ständiger Verleumdung<br />
und Dämonisierung ausgesetzt war, sodass<br />
ein allgemeiner Abscheu so tief eingeimpft<br />
wurde, um wie ein Instinkt zu funktionieren,<br />
kann es nicht überraschen, dass<br />
irgendwann eine Bewegung aufkommt,<br />
deren Ziel die Auslöschung dieses angeblichen<br />
Schädlings und Feindes der Menschheit<br />
ist.“<br />
Doch warum schlug der Willen zur<br />
Vernichtung dann ausgerechnet im 20.<br />
Jahrhundert zu, nach der Aufklärung, zu<br />
einem Zeitpunkt, als Jüdinnen und Juden<br />
schon seit Längerem gleichberechtigte<br />
Bürger waren? Maccobys bittere Erklärung:<br />
„Wenn eine Nation eine demütigende<br />
Niederlage in einem großen Krieg<br />
erlitten hat und auch unter wirtschaftlicher<br />
Not leidet, ist es überhaupt nicht<br />
überraschend, dass ein Sündenbock in einer<br />
unbewaffneten Minderheitengruppe<br />
gefunden wird, die in den Köpfen der<br />
Menschen immer noch den Pariastatus<br />
einnimmt, der sich aus tiefen religiösen<br />
heilsbringenden Vorstellungen herleitet,<br />
oder dass eine politische Bewegung, die<br />
sich aus nationaler Verzweiflung speist,<br />
es sich nicht entgehen lässt, eine solche<br />
kraftvolle einende politische Waffe wie<br />
Abscheu und Misstrauen gegenüber den<br />
Juden zu nutzen.“ <br />
bundeskanzleramt.gv.at<br />
Sie haben Fragen …<br />
• an die Bundeskanzlerin<br />
• an die Bundesministerin für<br />
Frauen, Familien und Jugend<br />
• an den Bundesminister für EU,<br />
Kunst, Kultur und Medien<br />
• zur Europäischen Union<br />
Bürgerinnen- und<br />
Bürgerservice<br />
0800 222 666 *<br />
Mo bis Fr: 8 – 16 Uhr<br />
service@bka.gv.at<br />
Bundeskanzleramt<br />
Ballhausplatz 1<br />
1010 Wien<br />
Frauenservice<br />
0800 20 20 11 *<br />
Mo bis Do: 10 – 14 Uhr<br />
Fr: 10 – 12 Uhr<br />
frauenservice@bka.gv.at<br />
Familienservice<br />
0800 240 262 *<br />
ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG<br />
• zur öffentlichen Verwaltung<br />
in Österreich<br />
+43 1 531 15-204274<br />
* gebührenfrei aus ganz Österreich<br />
Mo bis Do: 9 – 15 Uhr<br />
familienservice@bka.gv.at<br />
Wir freuen uns auf Ihre Fragen und Anliegen!<br />
wına-magazin.at<br />
37
KONSERVIEREN RESTAURIEREN<br />
BEWAHREN,<br />
WAS EINMAL WAR<br />
Die Exilbibliothek im Literaturhaus bewahrt<br />
Objekte und Arbeiten aus dem früheren Besitz von<br />
in der NS-Zeit verfolgten Künstlern und Künstlerinnen,<br />
die sich ins Ausland retten konnten. Nun bemüht<br />
sich die Einrichtung darum, die Sammlung zeitgemäß<br />
zu lagern beziehungsweise für die Forschung etwa<br />
durch Digitalisierung nutzbar zu machen.<br />
Seit 1993 sammelt die Exilbibliothek,<br />
gegründet als Abteilung der<br />
Dokumentationsstelle für neuere<br />
österreichische Literatur, Arbeiten und<br />
Nachlässe von Exilkünstlern: Anders,<br />
als der Name der Einrichtung vermuten<br />
lassen würde, dokumentiert die Exilbibliothek<br />
allerdings nicht nur das Wirken<br />
von von den Nationalsozialisten verfolgten<br />
und emigrierten Schriftstellern und<br />
Schriftstellerinnen, sondern auch von<br />
Musikern, Bildhauern, Architekten und<br />
Tänzern. Die Sammlung umfasst daher<br />
neben rund 9.000 Büchern auch zahlreiche<br />
andere Objekte.<br />
Darunter finden sich etwa die charakteristischen<br />
Puppen der Tänzerin<br />
und Performancekünstlerin Cilli Wang,<br />
gefertigt nach Karikaturen, etwa von<br />
Erich Sokol, Hüte und Fotografien aus<br />
dem Nachlass der Lyrikerin und Modistin<br />
Mimi Grossberg oder Tonaufnahmen<br />
von Jimmy Berg, erzählt die Leiterin<br />
der Exilbibliothek, Veronika Zwerger.<br />
Insgesamt liegen Nachlassbestände und<br />
Handschriften von etwa 150 Personen<br />
im Literaturhaus in der Seidengasse. Die<br />
Bandbreite reicht dabei „von einem Einzeltyposkript<br />
oder dem Tagebuch eines<br />
jugendlichen Flüchtlings bis hin zu einem<br />
Nachlass von 150 Archivboxen“.<br />
Während der vergangenen 25 Jahre hat<br />
die Exilbibliothek den Schwerpunkt ihrer<br />
Arbeit auf Projekte gelegt, im Rahmen<br />
derer die Institution mit vielen überlebenden<br />
Exilkünstlern und -künstlerin-<br />
Von Alexia Weiss<br />
Fotos: Daniel Shaked<br />
Schachtelpate werden.<br />
Viele Objekte brauchen<br />
schlicht eine säurefreie,<br />
maßgeschneiderte<br />
Verpackung, um auch für<br />
künftige Generationen<br />
erhalten zu werden.<br />
nen in Kontakt kam. Dabei entschieden<br />
einige der Kunstschaffenden, der Bibliothek<br />
Materialien, Objekte, Archivalien<br />
als Vorlass zu übergeben. Zwerger freut<br />
sich hier über das große Vertrauen, dass<br />
ihrer Institution entgegengebracht wird.<br />
Manches wurde auch angekauft. Inzwischen<br />
ist das Gros der verfolgten Künstler<br />
allerdings bereits verstorben. Mit Nachkommen<br />
sei man weiter in Kontakt – und<br />
immer noch werden der Einrichtung neue<br />
Exponate übergeben. Dennoch: Die Zeit<br />
des Sammelns neigt sich langsam dem<br />
Ende zu.<br />
„Nun ist es wichtig, die Bestände gut<br />
zu erhalten“, betont Zwerger. Während es<br />
für Projekte oder auch den Ankauf von<br />
Objekten Förderungen gebe, sei diese<br />
Art der Finanzierung für konservierende<br />
oder restaurierende Maßnahmen kaum<br />
vorgesehen. Daher wendet sich die Exilbibliothek<br />
nun mit dem Aufruf „Werden<br />
Sie Schachtelpate/Schachtelpatin!“<br />
an die interessierte Öffentlichkeit. Viele<br />
Objekte brauchen schlicht eine säurefreie,<br />
maßgeschneiderte Verpackung, um<br />
auch für künftige Generationen erhalten<br />
zu werden. Tonaufnahmen oder Fotografien<br />
wiederum müssen digitalisiert<br />
werden. Zwerger hat hier überschaubare<br />
Pakete geschnürt: So kann man Patin<br />
beispielsweise einer Seite des Fluchtfotoalbums<br />
von Mimi Grossberg werden<br />
oder die Kosten für die Digitalisierung einer<br />
Minute von Jacov Linds Kurzspiel-<br />
38 wına| Juli_August 2019
Durchblick.<br />
Die Exilbibliothek dokumentiert<br />
das Wirken von<br />
in der NS-Zeit verfolgten<br />
und emigrierten<br />
Schriftstellern Musikern,<br />
Bildhauern, Architekten<br />
und Tänzern.<br />
firm Die Öse übernehmen. Für eine Patenschaft<br />
sind je nach gewähltem Objekt<br />
20 bis 40 Euro zu übernehmen – das sei<br />
überschaubar und komme bisher gut an, so<br />
die Leiterin der Exilbibliothek. Sie kann<br />
sich vorstellen, das Projekt in Zukunft daher<br />
ähnlich fortzuführen.<br />
Alle Paten und<br />
Patinnen sollen<br />
gegenJahresende<br />
eingeladen werden,<br />
um zu sehen, was<br />
inzwischen mit den<br />
von ihnen geförderten<br />
Objekten<br />
passiert ist.<br />
Objekte mit Geschichte. Alle Paten und<br />
Patinnen sollen gegen Jahresende eingeladen<br />
werden, um zu sehen, was inzwischen<br />
mit den von ihnen geförderten Objekten<br />
passiert ist. Bereits einen Schachtelpaten<br />
gefunden hat beispielsweise eine Schreibmaschine<br />
aus den 1930er-Jahren, die einst<br />
von Joseph Roth verwendet und in Tournon,<br />
Frankreich, verkauft worden sein<br />
soll. Geschichten wie diese seien plausibel,<br />
auch wenn sie heute nicht mehr nachgeprüft<br />
werden könnten, so Zwerger. In<br />
jedem Fall erzählen die Reisen, welche<br />
Manuskripte, Bücher, Objekte gemacht<br />
haben, bevor sie in Wien in der Seidengasse<br />
ihr neues Zuhause fanden, viel von<br />
den Flucht- und Lebenswegen ihrer geächteten<br />
und verfolgten Besitzer.<br />
Die Malerin und Grafikerin Anna Heilig<br />
ging beispielsweise ins Exil nach Indien.<br />
Das Hindi-Übungsheft der Künstlerin<br />
ist heute Teil der Sammlung der<br />
Exilbibliothek. Die Lehrerin Barbara<br />
Turnbull, geb. Gisela Rusznyák, floh nach<br />
Australien, wo sie das Billbar Puppet Theatre<br />
gründete. Ihr Sohn übergab Zwerger<br />
und ihrem Team digitale Dokumente zu<br />
dem Theater. Die Gerichtsberichterstatterin<br />
(Wiener Abend) Alice Penkala, geb.<br />
Rosa Alice Krausz, rettete sich nach Südfrankreich,<br />
wo sie als Schriftstellerin tätig<br />
wurde. Ein Großteil ihrer Manuskripte zu<br />
den Themen Faschismus und Exil wurde<br />
nicht zu ihren Lebzeiten veröffentlicht.<br />
Die Exilbibliothek publizierte 2016 ihren<br />
Roman Schokolade für das Afrika-Corps, der<br />
in der Emigrantengemeinde von Tanger<br />
spielt. Der Komponist und Schlagertexter<br />
Jimmy Berg wiederum, dessen inzwischen<br />
100-jährige Witwe Zwerger erst kürzlich<br />
in New York traf, schuf auch im Exil in<br />
den USA Wiener Lieder wie das Wiener<br />
Schnitzel. Die Exilbibliothek verfügt über<br />
eine ansehnliche Sammlung von Schellackplatten,<br />
die allerdings dringend digitalisiert<br />
werden müssen. „Bei einer Platte,<br />
die wir kürzlich digitalisieren ließen, hat<br />
sich herausgestellt, dass die Nadel schon<br />
per Hand geführt werden musste“, schildert<br />
Zwerger. <br />
Paten und Patinnen gesucht<br />
Wer mithelfen möchte, Objekte aus Nachlässen von verfolgten Künstlern und<br />
Künstlerinnen zu restaurieren beziehungsweise gut geschützt für die Zukunft<br />
zu bewahren, kann Schachtelpatin oder -pate werden.<br />
Auf literaturhaus.at findet sich eine Liste der Patenschaften, die übernommen<br />
werden können. Eine Seite des Fluchtfotoalbums von Mimi Grossberg<br />
zu restaurieren, kostet beispielsweise 20 Euro, eine Minute des 35-mm-Films<br />
Die Öse von Jakov Lind zu digitalisieren, 30 Euro, eine Aufnahme eines Lieds<br />
von Jimmy Berg zu digitalisieren und eine säurefreie Hülle für die Schellackplatte<br />
anfertigen zu lassen, 40 Euro. Bei Interesse mailen an:<br />
exilbibliothek@literaturhaus.at<br />
wına-magazin.at<br />
39
Seit der ersten Operation im August<br />
2011 führt die Abteilung für Urologie<br />
und Andrologie vor allem radikale<br />
Prostataentfernungen, Nieren- (organerhaltende<br />
Nierentumorresektionen,<br />
Nierenentfernungen und Nierenbeckenplastiken)<br />
und Blaseneingriffe sowie<br />
Inkontinenzkorrekturen durch. Das<br />
Team der Gynäkologischen Abteilung<br />
verwendet das System seit 2016 überwiegend<br />
bei Gebärmutter-Entfernungen,<br />
Myomenukleationen und Operationen<br />
bei Gebärmutter- und Scheidensenkungen.<br />
2017 entdeckte auch die Chirurgische<br />
Abteilung das Robotersystem für<br />
sich und führte fortan Operationen im<br />
Bereich der kolorektalen Eingriffe, d.h.<br />
bei Operationen am Dick- und Mastdarm<br />
bei gut- und bösartigen GewächdaVinci<br />
® Operationsroboter<br />
D<br />
as Krankenhaus der Barmherzigen<br />
Brüder Wien hat als einziges Spital<br />
in ganz Österreich zwei daVinci ® Operationssysteme<br />
im Einsatz. Der Operationsroboter<br />
wird primär bei minimal-invasiven<br />
Eingriffen der Fachgebiete<br />
Urologie, Gynäkologie und der Chirurgie<br />
verwendet. Auch die HNO-Abteilung<br />
setzt das System für unterschiedliche<br />
Halsoperationen ein.<br />
Beide Robotersysteme sind auf dem<br />
technologisch höchsten Stand, sodass<br />
beispielsweise Gefäße und die Durchblutung<br />
von Organen und Gewebe während<br />
der Operation mit einem Speziallicht<br />
dargestellt werden können. So sind die<br />
Operationen präziser aber auch schonender<br />
für die Patientinnen und Patienten.<br />
„Wir sind stets bemüht, Kompetenz,<br />
Menschlichkeit sowie modernste Medizintechnik<br />
in Einklang zu bringen. Aus<br />
diesem Grund freuen wir uns, die roboterassistierte<br />
Chirurgie als Schwerpunkt<br />
anbieten zu können. Mit mittlerweile<br />
vier medizinischen Abteilungen,<br />
die unsere beiden daVinci ® Roboter<br />
nutzen, sind wir auf einem guten Weg<br />
in Richtung robotisches Zentrum“, beschreibt<br />
Gesamtleiter Prof. Mag. Helmut<br />
Kern, MA.<br />
EINSATZGEBIETE AM<br />
KRANKENHAUS DER<br />
BARMHERZIGEN<br />
BRÜDER WIEN<br />
© Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien<br />
© feel image - Fotografie: Felicitas Matern<br />
© Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Wien/L. Schedl<br />
Luftaufnahme Krankenhaus der<br />
Barmherzigen Brüder Wien<br />
daVinci® Operationssystem<br />
Prof. Mag. Helmut Kern, MA<br />
KONTAKTDATEN:<br />
Krankenhaus der Barmherzigen<br />
Brüder Wien<br />
Johannes-von-Gott-Platz 1, 1020 Wien,<br />
Tel.: +43 1 211 21-0, www.bbwien.at<br />
Spendenkonto:<br />
IBAN: AT69 6000 0000 0706 4001<br />
BIC: BAWAATWW<br />
sen mit dem daVinci ® Operationsroboter.<br />
Seit Ende 2017 setzt nun auch die<br />
Abteilung für HNO und Phoniatrie den<br />
daVinci ® Operationsroboter für unterschiedliche<br />
Halsoperationen ein. In erster<br />
Linie werden bösartige Tumore im Rachen-<br />
und oberen Kehlkopfbereich damit<br />
operiert. Aber auch Eingriffe, wie die<br />
Entfernung der Mandeln oder bestimmte<br />
Schnarchoperationen können mit dem<br />
daVinci ® Roboter behandelt werden.<br />
EIN SYSTEM -<br />
ZAHLREICHE VORTEILE<br />
A<br />
uch<br />
wenn wir vom Krankenhaus<br />
der Barmherzigen Brüder Wien auf<br />
rund 25 Jahre Erfahrung im Bereich der<br />
bekannten minimal-invasiven Operationstechniken<br />
zurückgreifen können, gibt<br />
es oft Situationen, bei denen die Laparoskopie<br />
auf Grund ihrer technischen Möglichkeiten<br />
(2D-Sicht, eingeschränkte Bewegungsfreiheit<br />
der Instrumente) nur<br />
beschränkt eingesetzt werden kann. Aus<br />
diesem Grund stellt der Einsatz der Roboterchirurgie<br />
eine konsequente Weiterentwicklung<br />
unserer Techniken dar.<br />
Davon profitieren am meisten unsere<br />
Patientinnen und Patienten: Durch<br />
den Einsatz des Robotersystems kann<br />
oftmals ein Bauchschnitt vermieden<br />
werden. Somit reduzieren sich die Infektionsgefahr,<br />
das Risiko von Verwachsungen<br />
im Bauchraum, wie auch die<br />
Schmerzen und der Blutverlust. Darüber<br />
hinaus heilen die meist kleineren Operationsnarben<br />
schneller und bieten ein<br />
besseres kosmetisches Ergebnis. Kürzere<br />
Krankenhausaufenthalte und eine<br />
schnellere Erholung gehen mit diesen<br />
Vorteilen einher. Gut geeignet ist das<br />
Operieren mit dem daVinci ® -Operationssystem<br />
zudem für Menschen mit<br />
Risikofaktoren, wie Herz-Kreislauf-<br />
Erkrankungen, Diabetes, Übergewicht<br />
oder Voroperationen am Bauch.<br />
„Wir sind seit über 400 Jahren täglich<br />
im unermüdlichen Einsatz am Menschen.<br />
Das Wohl der Patientinnen und<br />
Patienten steht dabei immer im Vordergrund.<br />
Deshalb freuen wir uns darüber,<br />
dass wir unseren Patientinnen und Patienten<br />
diese schonende und risikoarme<br />
Operationsmethode anbieten können“,<br />
erklärt Prof. Mag. Kern, MA, abschließend.
ABSURDEM GLAUBEN SCHENKEN<br />
Bloßstellung der<br />
Otto Hans Ressler:<br />
Die Verleumdung.<br />
Novelle.<br />
edition splitter 2019,<br />
128 S., 20 €<br />
Niedertracht<br />
In der Novelle Die Verleumdung beleuchtet<br />
Otto Hans Ressler den Antisemitismus<br />
im verherrlichten „Wien um 1900“ und<br />
spannt den Bogen ins Heute.<br />
Von Marta S. Halpert<br />
I<br />
ch bin Otto Hans Ressler sehr dankbar,<br />
dass er diese dunkle und gewalttätige<br />
Seite des heute so verherrlichten<br />
‚Wien um 1900‘ wieder in<br />
Erinnerung ruft und in eine fesselnde<br />
Novelle verpackt.“ Mit diesen Worten<br />
leitet Oliver Rathkolb, Vorstand des Instituts<br />
für Zeitgeschichte der Universität<br />
Wien, das Buch Die Verleumdung des<br />
Kunstexperten und geschäftsführenden<br />
Gesellschafters der Ressler Kunst Auktionen<br />
GmbH, Otto Hans Ressler, ein.<br />
Als historische Hintergrundfolie<br />
nimmt Ressler, der schon 18 Bücher verfasst<br />
hat, den fast vergessenen Antisemitismus<br />
in der Habsburger Monarchie<br />
vor 1914 aufs Korn. Die Hauptfigur, der<br />
Fabrikant Baron Salomon Schön, klagt<br />
den rechtsradikalen Reichstagsabgeordneten<br />
Gerwald Holomek, Mitglied der<br />
Alldeutschen Vereinigung, auf Ehrenbeleidigung<br />
und Rufschädigung. Holomek<br />
beschuldigt die Schön & Co AG, der<br />
k.u.k. Armee untaugliche, ja Menschenleben<br />
gefährdende Perkussionsschlösser<br />
für das Repetiergewehr Steyr-Mannlicher<br />
geliefert zu haben. Diese Behauptung<br />
unterstellt Schön nicht nur Sabotage,<br />
sondern rückt ihn in die Nähe des<br />
Hochverrats. Die heftigen antisemitischen<br />
Polemiken während des Prozesses<br />
stehen im Zentrum der Novelle.<br />
„Meine ursprüngliche Absicht war es,<br />
ein Buch zu schreiben, in dessen Mittelpunkt<br />
ein Gerichtsprozess steht. In einem<br />
Antiquariat habe ich ein völlig zerfleddertes<br />
Heft entdeckt, in dem mehrere<br />
Prozesse aus der Zeit um 1900 beschrieben<br />
waren“, erzählt der ehemalige Auktionator<br />
im Wiener Dorotheum. „Da-<br />
runter war auch<br />
ein Prozess im Jahr<br />
1892 in Berlin, in<br />
dem ein Abgeordneter<br />
des deutschen<br />
Parlaments<br />
einen jüdischen<br />
„Mir ging es um<br />
dieBloßstellung<br />
von Lügen, von<br />
Niedertracht,von<br />
Bösartigkeit –und<br />
da gibt es heute<br />
mehr als genug<br />
Stoff.“<br />
Otto Hans Ressler<br />
Fabrikanten verleumdet,<br />
Gewehre<br />
für die Armee absichtlich<br />
unbrauchbar<br />
gemacht zu haben,<br />
um nach dem<br />
nächsten Krieg, der<br />
zwangsläufig verloren werden musste, die<br />
jüdische Weltherrschaft zu errichten.“<br />
Der gebürtige Steirer empfand das ungeheuerlich<br />
und absurd, wollte sich gar<br />
nicht vorstellen, dass tatsächlich jemand<br />
diesen Wahnsinn geglaubt haben konnte.<br />
„Andererseits erlebe ich Tag für Tag, dass<br />
das Ungeheuerliche, Absurde und Niederträchtige<br />
geglaubt wird.“<br />
Bloßstellung von Niedertracht und<br />
Bösartigkeit. Ressler verlegt den Ort<br />
der Handlung nach Wien und erzählt<br />
die Geschichte aus der Sicht des Anwalts<br />
des jüdischen Fabrikanten. Er beschränkt<br />
sich nicht darauf, die Abläufe des Prozesses<br />
zu beschreiben, der sich durch ständige<br />
Wiederholung der Propagandalügen<br />
der Gegenseite zu einer antijüdischen<br />
Hassorgie emporschaukelt, sondern fügt<br />
die Figur der geheimnisvollen Valerie<br />
Kronsky hinzu. Sie sorgt als begehrtes<br />
Liebesobjekt für die emotionale<br />
Dynamik zwischen<br />
den männlichen Hauptprotagonisten,<br />
dem Fabrikanten<br />
Schön, dem Abgeordneten<br />
Holomek und dem<br />
erzählenden Advokaten.<br />
Angesichts der Wucht des<br />
politischen Hauptstrangs<br />
wirkt diese von allen dreien<br />
geteilte Leidenschaft genau<br />
so konstruiert, wie sie<br />
ist. Aber die Schlusspointe<br />
tröstet darüber hinweg.<br />
„Ich wollte nie einen historischen<br />
Roman schreiben.<br />
Deshalb habe ich mir als<br />
handelnde Personen auch<br />
Menschen vorgestellt, die jetzt leben“, erzählt<br />
Ressler. „Ich bin sogar so weit gegangen,<br />
einzelne wörtliche Zitate von aktiven<br />
Politikern einzubauen. Mir ging es<br />
um die Bloßstellung von Lügen, von Niedertracht,<br />
von Bösartigkeit – und da gibt<br />
es heute mehr als genug Stoff. Wer hätte<br />
sich noch vor zwei Jahren vorstellen können,<br />
dass die Demokratie in Österreich<br />
unter Druck gerät, die Pressefreiheit, die<br />
Einhaltung menschenrechtlicher Grundsätze<br />
oder unser System des Ausgleichs<br />
der Interessen?“ <br />
wına-magazin.at<br />
41
MEN T SCHEN: GERDA FREY<br />
„Im vereinten Europa<br />
ist Verwurzelung nicht so wichtig.“<br />
Gerda Frey erlebte als Kleinkind die Flucht vor den Nazis. Sie vertrat<br />
eine Frauenorganisation bei der UNO und gilt als scharfe Kritikerin des<br />
Rechtspopulismus. 2016 war sie in der Wahlkampagne für Alexander<br />
van der Bellen aktiv. Redaktion und Fotografie: Ronnie Niedermeyer<br />
WINA: 1938 flüchtete Ihre Familie von Mattersburg nach<br />
Ungvár (heute Uschhorod), die Heimatstadt Ihrer Mutter. Was<br />
sind Ihre ersten Erinnerungen?<br />
Gerda Frey: Ich war nur bis zu meinem 5. Lebensjahr in Ungvár<br />
und erinnere mich an liebende, etwas überforderte Großeltern<br />
sowie an den fröhlichen jüdischen Kindergarten. Aus<br />
diesem Kindergarten war ich das einzige Kind, das nicht in<br />
Auschwitz ermordet wurde.<br />
Wie gelang es Ihrer Familie, die Schoah zu überleben?<br />
❙ In Ungvár konnte man der Schoah nicht entkommen. 1942<br />
mussten wir die Stadt verlassen, Richtung Budapest. Zuerst<br />
waren wir in Internierungslagern untergebracht; 1944 wurden<br />
wir neun Monate lang von einer christlichen Familie in<br />
ihrer Wohnung versteckt. Während der Bombardierung Budapests<br />
haben wir mithilfe gefälschter Dokumente als „Flüchtlinge<br />
vor den russischen Truppen“ überlebt.<br />
Die Stationen Ihres frühen Lebens sind fast ein Palindrom:<br />
Wien – Mattersburg – Ungvár und Budapest – Mattersburg –<br />
Wien. Fühlen Sie sich in einer dieser Städte verwurzelt? Sind<br />
„Wurzeln“ überhaupt notwendig?<br />
❙ Eigentlich betrachte ich Wien als meine Heimat – hier bin<br />
ich seit meinem 14. Lebensjahr. Da wir glücklicherweise in<br />
einem vereinten Europa leben dürfen, ist eine Verwurzelung<br />
meiner Meinung nach nicht mehr so wichtig.<br />
In Ihrer Jugend verbrachten Sie ein Austauschjahr in Syracuse,<br />
New York. Sie bezeichnen diese Reise als derart<br />
prägend, dass auch Ihre viel später geborenen Kinder davon<br />
beeinflusst sind. Inwiefern?<br />
❙ Nach traurigen Kriegs- und Nachkriegsjahren wurde ich<br />
durch diese glückliche Auswahl in eine heile jüdische Großfamilie<br />
in den USA gehievt. Dort erlebte ich auch erstmals<br />
ein modernes jüdisches Leben – ohne die selbstverständlichen<br />
Zwänge, die mein tiefgläubiger, liebender Vater fühlte,<br />
ausüben zu müssen. Dieses positive, aktive, progressive Judentum<br />
hat auch meine Kinder und ihr späteres Leben geprägt.<br />
1956 erlebten Sie als Volontärin beim Roten Kreuz, wie infolge<br />
der ungarischen Revolution zahlreiche Flüchtlinge nach<br />
Wien kamen. Was waren für Sie die prägendsten Eindrücke<br />
dieser Zeit? Warum hat die hiesige Gesellschaft damals so<br />
anders reagiert als im Syrien-Krieg?<br />
❙ Als Studentin erlebte ich 1956 in Österreich eine großartige<br />
Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Dann kamen neuere<br />
Flüchtlingswellen. In Österreich ging es den Menschen wirtschaftlich<br />
immer besser – daher hatte man das Gefühl, durch<br />
„Teilen“ auch mehr zu verlieren. Die Kultur der angekommenen<br />
Menschen wurde im Laufe der Geschehnisse immer mehr<br />
als fremd wahrgenommen. Auch nahm das Einfühlungsvermögen<br />
vieler Menschen hier immer mehr ab.<br />
Wie entsteht ein solcher Rechtsruck, und was können wir<br />
dagegen tun?<br />
❙ Rechtspopulisten scheinen einfache Antworten auf die brennenden<br />
Fragen unserer Zeit parat zu haben. Sie teilen die Menschen<br />
bewusst in „wir“ und die „anderen“ ein. Dabei überhöhen<br />
sie das „wir“ und teilen diesem gleichzeitig eine Opferrolle<br />
zu, während ihre Ideologie jegliche Empathie den „anderen“<br />
gegenüber untergräbt. Ich kann nur hoffen, dass man in Kindergärten,Schulen,JugendorganisationenundSportvereinen<br />
den Kindern und Jugendlichen ein mitmenschliches Verhalten<br />
vorlebt und sie dies lernen.<br />
Was betrachten Sie als Ihr Lebenswerk?<br />
❙ Eine erfüllte Ehe. Söhne, die zu tollen, fühlenden Menschen<br />
heranwuchsen, die eine glückliche Hand in der Wahl<br />
ihrer Ehepartner bewiesen und ihrerseits wunderbare Familien<br />
gründeten. Und auch, dass es mir vergönnt war, als gebender<br />
Teil etliche jüdische wie auch nichtjüdische Organisationen<br />
mitgestalten zu dürfen.<br />
42 wına| Juli_August 2019
„Sobald es einem<br />
wirtschaftlich besser geht,<br />
hat man das Gefühl,<br />
durch Teilen mehr<br />
zu verlieren.“<br />
wına-magazin.at<br />
43
NAHOSTKONFLIKT<br />
Angela Scharf: „… Frauen bei Konfliktlösungen in die Entscheidungsprozesse einbeziehen“.<br />
Frauen<br />
machen Frieden<br />
Angela Scharf: Eine Ex-Wienerin an der Friedensfront.<br />
Nicht der Streit steht im Vordergrund, sondern die<br />
Initiative für eine nachhaltige Lösung<br />
Text: Marta S. Halpert, Foto: Reinhard Engel<br />
Die Sonne brennt auf die weißen<br />
Quader vor dem Habima<br />
Plaza. Jeder Zentimeter Stoff<br />
wiegt zu viel, aber Angela Scharf lässt<br />
es sich nicht nehmen: Über die luftige<br />
weiße Bluse schwingt sie einen türkisen,<br />
langen Baumwollschal und knotet<br />
ihn vorne zusammen. „An diesem Schal<br />
ist unsere Gruppe erkennbar, das ist unser<br />
Alleinstellungsmerkmal“, lacht Scharf<br />
und meint nicht ihre Firma, sondern die<br />
Initiative Women Wage Peace – Frauen machen<br />
Frieden. Seit zwei Jahren engagiert<br />
sie sich für die größte Basisbewegung Israels,<br />
getragen von rund 45.000 Frauen<br />
aus allen sozialen, religiösen und ethnischen<br />
Schichten im ganzen Land.<br />
Die NGO wurde 2014 als Reaktion<br />
auf die Operation Protective Edge gegründet.<br />
Es handelte sich um die Militäraktion<br />
als Antwort auf anhaltenden Raketenbeschuss<br />
Israels durch die Hamas und<br />
andere militante palästinensische Gruppen<br />
aus dem Gazastreifen und endete am<br />
26. August 2014 mit einer unbefristeten<br />
Waffenruhe. „Die Frauen sagten: ‚Genug<br />
ist genug. Wir wollen unsere Söhne<br />
nicht mehr in den Krieg schicken‘ “, weiß<br />
Scharf. „Am Anfang waren das etwa<br />
zwanzig Frauen, dann ein paar Hundert,<br />
2015 schon Tausende. Der Frauenanteil<br />
beträgt rund 80 Prozent, inzwischen machen<br />
auch Männer mit.“<br />
Das Besondere an dieser Friedensinitiative<br />
ist, dass keine Festlegung auf ein<br />
Modell betrieben wird: Es geht nicht um<br />
Zustimmung zu einer Ein- oder Zweistaatenlösung<br />
– und daher kommen die<br />
Unterstützerinnen aus dem linken, rechten,<br />
religiösen und säkularen Lager ebenso<br />
wie aus dem Kreis der israelischen Araber,<br />
Drusen und Beduinen. Beim March<br />
of Hope 2016 machten auch 3.000 Palästinenserinnen<br />
aus dem Westjordanland<br />
mit, für die Mahmud Abbas sogar Busse<br />
organisiert hatte. „Das Ziel heißt, einen<br />
neuen Weg zu finden, damit die Regierungen<br />
sich hinsetzen und über Frieden<br />
reden.“ Der zweite Schwerpunkt der Bewegung<br />
ist es, Frauen bei Konfliktlösungen<br />
in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen.<br />
Da beruft sich WWP auf die<br />
Umsetzung der UNO-Resolution 1325,<br />
die bereits im Jahr 2000 einstimmig vom<br />
UN-Sicherheitsrat verabschiedet wurde.<br />
Darin wurden die Mitgliedsstaaten der<br />
UNO erstmals dazu aufgerufen, Frauen<br />
gleichberechtigt in Friedensverhandlungen<br />
und Konfliktschlichtung einzubeziehen.<br />
44 wına| Juli_August 2019
WEIBLICHE FRIEDENSINITIATIVE<br />
„DieUnterstützerinnen<br />
kommen<br />
aus dem linken,<br />
rechten,religiösen<br />
und säkularen Lager<br />
ebenso wie aus dem<br />
Kreis der israelischenAraber,DrusenundBeduinen.“<br />
Angela Scharf<br />
Scharfs unternehmerische Tätigkeit war<br />
bereits zur Routine geworden, daher suchte<br />
sie nach einer zusätzlichen Herausforderung.<br />
„Ich war immer schon politisch sehr<br />
interessiert, und die Ideen dieser Gruppierung<br />
haben mich am ehesten angesprochen“,<br />
erzählt die Wienerin, die im Gymnasium<br />
Kundmanngasse im dritten Bezirk<br />
maturierte. Dass sie mit 18 Jahren nach Israel<br />
auswanderte, verdankte sie zwei Umständen:<br />
Erstens ging sie einer religiösen<br />
Freundin zuliebe in die Bnei Akiba. „Religiös<br />
wurde ich dort nicht, aber dafür stark<br />
zionistisch geprägt.“ Zweitens überredete<br />
sie die widerwilligen Eltern, sie doch gehen<br />
zu lassen, mit der wahrscheinlicheren Aussicht<br />
auf einen jüdischen Lebenspartner.<br />
Schon beim Studium der Politikwissenschaften,<br />
Nahoststudien und Arabisch<br />
an der Hebräischen Universität in Jerusalem<br />
dachte sie an eine Zukunft mit politischem<br />
Einschlag. „Ich wollte die neue<br />
Golda Meir werden“, schmunzelt Scharf.<br />
Während des Studiums jobbte sie im Jerusalemer<br />
ORF-Büro beim legendären Hans<br />
Benedict. Berufspolitikerin wurde sie nicht,<br />
aber wenigstens die Eltern konnte sie beruhigen:<br />
Angela heiratete einen französischen<br />
Studienkollegen, der in der Folge als<br />
Diplomat in Tel Aviv arbeitete.<br />
„Mein erstes Geld verdiente ich bei einer<br />
Firma, die Stoffe importierte, um dann<br />
fertige Kleidung nach Deutschland zu exportierten.<br />
Sie hatten mich vor allem wegen<br />
meiner Deutschkenntnisse angestellt“,<br />
erzählt die zierliche Mutter zweier erwachsener<br />
Kinder. „Dann haben sie mich einmal<br />
zur Frankfurter Messe mitgenommen und<br />
gesehen, dass ich gut mit Menschen umgehen<br />
kann. Sie steckten mich in den Verkauf,<br />
und ich stieg bis zur Import-Chefin auf.“<br />
Fünf Jahre arbeitete Angela dort, dann begann<br />
sie als selbstständige Handelsagentin,<br />
Stoffe aus Österreich, Italien, Deutschland<br />
und Frankreich nach Israel zu importieren.<br />
Mit der Versetzung ihres Mannes an die<br />
Botschaft in Südkorea erfolgte eine neuerliche<br />
Zäsur in Scharfs Leben. Für die<br />
eingeführte Agentur in Israel gewann sie<br />
ihre Bnei-Akiba-Freundin Paula Basch als<br />
Partnerin, die ab 1990 die Geschäfte in Israel<br />
weiterführte. Sie selbst begann, Stoffe<br />
von Seoul aus nach Israel zu importieren.<br />
Ab 1991 betreute die zweite Bnei-Akibaund<br />
Jugendfreundin Eva Kulcsar den österreichischen<br />
und ungarischen Markt. „Ich<br />
habe in rund zehn Staaten Subagenten aufgebaut,<br />
angefangen von Holland über Griechenland<br />
bis Italien, und wäre gerne mit<br />
meinem Mann von Südkorea nach Hongkong<br />
oder Vietnam gezogen“, berichtet sie.<br />
„Doch wir mussten auf Posten nach Köln.<br />
Das hat mich ziemlich deprimiert, denn ich<br />
bin nicht aus Österreich weggegangen, um<br />
in Deutschland zu landen.“ Ihre Arbeit in<br />
Korea hatte sich darauf konzentriert, Stofflieferanten<br />
zu finden und die Waren überprüft<br />
an die verschiedenen Vertretungen zu<br />
versenden. Damit war es jetzt vorbei, doch<br />
Angela Scharf begann von Köln aus, ihren<br />
Kundenstock in Deutschland und der Türkei<br />
aufzubauen, und nützte weiterhin ihre<br />
Kontakte in Asien.<br />
Women Wage Peace. Ab 1998 lebte die<br />
ganze Familie in Brüssel, von da aus konnte<br />
Scharf weiter ihren Markt in Deutschland<br />
betreuen. „Für die Kinder war Brüssel ein<br />
guter Ort, sie besuchten zuerst die jüdische<br />
Schule und danach die europäische. Aber<br />
mein Traum war es, nach Israel zurückzukehren.“<br />
Seit drei Jahren lebt Angela – inzwischen<br />
geschieden – wieder in Tel Aviv<br />
und beliefert noch immer ihre Textil-Grossisten<br />
in Deutschland. „Die israelische Politik<br />
habe ich von überall mit großem Interesse<br />
verfolgt. Als ich dann wieder hier<br />
war, ging ich zu Konferenzen und Vorträgen,<br />
darunter einmal über das Thema Demokratie<br />
in Israel. Dort lernte ich eine AktivistinvonWomen<br />
Wage Peace kennen,und<br />
seit zwei Jahren bin ich voll dabei.“<br />
Heute gehört Scharf zu den einhundert<br />
Frauen, die sich regelmäßig zur Strategiebesprechung<br />
zusammenfinden, um die<br />
vielfältigen Aktivitäten gezielt zu planen.<br />
Das Vorbild der Gruppe ist die Bürgerrechtlerin<br />
und Politikerin Leymah Roberta<br />
Gbowee aus Liberia, die 2011 den Friedensnobelpreis<br />
verliehen bekommen hat.<br />
„Im Bürgerkrieg zwischen Christen und<br />
Muslimen hat der Frauenprotest u. a. auch<br />
mit Sitzstreiks den Konflikt beendet. Natürlich<br />
passen wir uns in Israel an unsere Situation<br />
an“, erzählt Scharf. „Hier begannen<br />
wir 2014 mit einem Friedensmarsch in das<br />
ständig bedrohte Sderot; 2015, am ersten<br />
Jahrestag des Gaza-Krieges, errichteten wir<br />
ein Zelt vor der Residenz des Premierministers:<br />
Dort fasteten hunderte Frauen 50<br />
Tage lang, und Tausende kamen dorthin,<br />
um ihre Solidarität zu bekunden.“<br />
Friedensmärsche durch das ganze Land<br />
und plakative Aktionen dieser Art wären<br />
aber zu wenig, um das Establishment aufzurütteln.<br />
„Wir haben professionelle Gruppierungen,<br />
die das Gespräch mit Diplomaten<br />
und Politikern im In- und Ausland<br />
suchen, um echte Bewegung in die festgefahrene<br />
Situation zu bringen. Und unter<br />
dem Titel Sayeret (Aufklärungstruppe)<br />
gehen wir zu Wahlauftritten von Politikern<br />
und konfrontieren diese mit Fragen nach<br />
ihren Friedensinitiativen. Ich war z. B. bei<br />
Benny Gantz von Blau-Weiß und auch bei<br />
Naftali Bennett. Wir informieren die anderen<br />
Frauen über das Gesagte oder Versprochene,<br />
und bei der nächsten Gelegenheit<br />
werden diese Politiker erneut zur Rede<br />
gestellt.“<br />
Individuelle Gespräche mit Knesset-<br />
Abgeordneten gehören ebenso zum wöchentlichen<br />
Geschäft von Frauen machen<br />
Frieden wie das Friedenszelt vor der<br />
Knesset: Da kommen die Frauen mit ihren<br />
weißen Blusen und türkisen Schals<br />
seit eineinhalb Jahren – während der Sitzungsperioden<br />
– jeden Montag hin, um<br />
alle Menschen, die hier ein- und ausgehen,<br />
von ihrem Projekt zu überzeugen. Derzeit<br />
hat WWP einen konkreten Gesetzesvorschlag<br />
ausgearbeitet und hofft, diesen<br />
durchzubringen. „Mit dem Gesetz Political<br />
Alternatives First möchten wir bewirken,<br />
dass jede Regierung nur dann in den<br />
Krieg ziehen kann, wenn sie vorher bewiesen<br />
hat, dass sie bereits auf politischer<br />
Ebene alles unternommen hat, um diesen<br />
zu vermeiden.“<br />
Ist es nicht schwer, die Menschen für<br />
die Friedensinitiative zu begeistern? Man<br />
scheint sich im Status quo doch irgendwie<br />
eingerichtet zu haben? „Ja, das Gefühl,<br />
dass man nichts machen kann, ist deprimierend“,<br />
konzediert die Aktivistin. „Aber<br />
wenn man in dieser Gruppe ist, bekommt<br />
man gegenseitig so viel Kraft und positive<br />
Energie. Das ist unwahrscheinlich aufbauend.“<br />
Einmal im Monat stehen an ca. 100<br />
Standorten in ganz Israel WWP-Frauen<br />
an Verkehrskreuzungen und halten Poster<br />
mit Aufschriften wie „Geht/Fahrt in Frieden“.<br />
„Ich wohne in Ramat Aviv, da habe<br />
ich mir eine Kreuzung ausgesucht, und da<br />
stehe ich dann fast zwei Stunden.“ <br />
wına-magazin.at<br />
45
ARUM<br />
WIEN<br />
Fotos und Redaktion:<br />
Ronnie Niedermeyer<br />
E<br />
igentlich ging es um Geschäftliches, als<br />
ich im November 2008 ein verlängertes<br />
Wochenende in Wien verbrachte.<br />
Aus dem Geschäft wurde zu diesem Zeitpunkt<br />
nichts – meine Schokoladenkreationen fanden<br />
an diesen Tagen nicht die erhoffte Bewunderung<br />
–, dafür hatte ich aber auf der persönlichen<br />
Ebene einen viel größeren Erfolg: An diesem<br />
Schabbat lernte ich meine zukünftige Frau<br />
kennen. Nach der Hochzeit 2009 in Wien verbrachten<br />
wir ein Jahr in London. Doch meine<br />
Frau, eine waschechte Wienerin, zog es in ihre<br />
Heimatstadt zurück – und so durfte auch ich die<br />
kleine Wiener Gemeinde rasch besser kennen<br />
und schätzen lernen. Gerade weil diese im Vergleich<br />
zu den Gemeinden manch anderer europäischen<br />
Stadt nicht so groß ist, zeichnet sie sich<br />
umso mehr durch ihre Vielseitigkeit aus. Der<br />
Abwechslung wegen statte ich jeden Schabbat<br />
einer anderen Synagoge einen Besuch ab – ob<br />
chassidisch, sephardisch, bucharisch oder grusinisch,<br />
überall wurde ich mit offenen Armen<br />
empfangen. Dieser unglaubliche Zusammenhalt<br />
innerhalb der Gemeinde ist eine besondere<br />
Eigenschaft von Wien. Und bei einer so tollen<br />
Infrastruktur mit koscheren Geschäften und<br />
Restaurants sowie jüdischen Schulen ist das<br />
Leben in Wien einfach lebenswert. 2011 übernahm<br />
ich eine alte Backstube im 3. Gemeindebezirk<br />
und lieferte anfangs jedes einzelne Brot<br />
mit dem Fahrrad. Da sich den ursprünglichen<br />
französischen Namen meines Unternehmens<br />
niemand merken konnte, hieß es einfach: „Bestelle<br />
beim Shneor.“ Somit fiel der Entschluss,<br />
den Firmennamen auf „Shneor’s“ zu ändern<br />
und dank des Erfolges auch in eine moderne<br />
Backstube im 2. Bezirk zu investieren. Die<br />
unermüdliche Hilfe meiner Frau spielte beim<br />
Aufbau des Geschäftes eine zentrale Rolle;<br />
heute kümmert sie sich um die Betreuung unserer<br />
Kunden. Inzwischen steht schon ein größeres<br />
Projekt im Raum – vielleicht wäre es inzwischen<br />
also doch lohnend, sich den Namen<br />
„Shneor’s“ zu merken …<br />
TIPP:VonderkleinenfamiliärenRundeüberdie<br />
Firmenbesprechung bis zur großen Hochzeit – hier<br />
werden echte Handarbeit und natürliche Zutaten<br />
noch großgeschrieben. Fingerfood, handgemachte<br />
MacronsundTortenallerArtsowieBiosauerteigbrotgehörenzuunseremStandardsortiment.<br />
46 wına| Juli_August 2019<br />
Shneor Zivion:<br />
„In der Wiener<br />
Gemeinde wird<br />
man überall mit<br />
offenen Armen<br />
empfangen.“<br />
SHNEOR ZIVION<br />
wurde 1976 in Ramat Gan<br />
geboren. Nach dem Besuch einer<br />
Jeschiwa in Bnei Brak zog es ihn<br />
ins Ausland – von 1996 bis 1998<br />
machte er in Paris eine Ausbildung<br />
zum Pattisier; danach sammelte<br />
er in Italien, in der Schweiz und in<br />
den USA berufliche Erfahrung. Seit<br />
2010 lebt Shneor Zivion in Wien.<br />
Mit seiner Frau Basya hat er zwei<br />
Kinder (Eli, 8, und Noa, 6).
GENERATION UNVERHOFFT<br />
Die Botschafterin<br />
der Musik<br />
Die Sopranistin Gan-ya Ben-gur Akselrod<br />
hat sich Wien als Basis für ihre Weltkarriere ausgesucht.<br />
Von Anna<br />
Goldenberg<br />
E<br />
igentlich wollte Gan-ya Ben-gur Akselrod<br />
nach Berlin. Das war 2013. Die<br />
heute 32-Jährige hatte damals gerade<br />
ihr Masterstudium abgeschlossen,<br />
Operngesang am Brooklyn College<br />
in New York. Ihr Gesangslehrer riet der gebürtigen<br />
Israelin, nach Europa zu gehen, um dort Arbeit<br />
zu finden. In Berlin lebten viele Israelis, es war<br />
günstig und gab mehrere Opernhäuser. Also zog<br />
Gan-ya hin.<br />
Für einen Gesangswettbewerb kam sie bald darauf<br />
nach Wien. Dort entdeckte sie der Castingdirektor<br />
des Theater an der Wien und bot ihr einen<br />
Platz im Ensemble an. „Er hat mich nach Wien gebracht,<br />
und dafür bin ich ihm für immer dankbar“,<br />
„Wäre Wien ein Mann, ich würde ihn heiraten.“<br />
Gan-ya Ben-gur Akselrod<br />
als „Lauretta“ in Giacomo<br />
Puccinis Oper Gianni<br />
Schicchi, 2017 in China.<br />
sagt Gan-ya. Das erzählt sie allerdings am Telefon.<br />
Zurzeit ist sie nämlich gar nicht hier, sondern im<br />
südfranzösischen Aix-en-Provence. Im Juli hat dort<br />
im Rahmen des Festival d’Aix-en-Provence die israelische<br />
Oper Die schlafenden Tausend ihre Weltpremiere,<br />
Gan-ya probt für ihre Rolle.<br />
Nach zwei Jahren am Theater an der Wien ist die<br />
Sopranistin freiberuflich tätig. Sie kommt viel herum,<br />
singt an Opernhäusern, bei Konzerten und auf<br />
Festivals in Frankreich, Deutschland, den USA, Israel<br />
und China. „Mir ist die Freiheit am wichtigsten“,<br />
sagt sie. Nur in ihrem geliebten Wien ist sie<br />
nicht mehr so oft. Umso begeisterter ist sie, dieses<br />
Interview zu geben. Sie wäre gerne Botschafterin<br />
für Wien, sagt sie, und ihre Antworten auf<br />
die Frage, warum ihr die Stadt so gut gefällt, klingen,<br />
als würde sie bereits für die Rolle üben. „Wäre<br />
Wien ein Mann, ich würde ihn heiraten“, sagt sie.<br />
Die Lebensqualität, die Opernhäuser, die Diversität.<br />
„Wenn ich durch die Straßen gehe, bin ich von<br />
der schönen, starken, sicheren Stille beeindruckt.“<br />
Und weiter: „Ich habe Schmetterlinge im Bauch.“<br />
Gan-ya wuchs im Norden von Tel Aviv auf,<br />
spielte als Kind Cello, Klarinette und Klavier, war<br />
Teil von Orchestern und Big Bands. „Irgendetwas<br />
hat nicht geklickt“, sagt sie. „Ich<br />
konnte nicht ausdrücken, was in mir<br />
war.“ Mit 16 Jahren begann sie, in einem<br />
Chor zu singen. „Es war Liebe<br />
auf den ersten Blick. Ich hatte mein Instrument gefunden.“<br />
Während ihres Militärdiensts studierte sie<br />
an der Buchmann-Mehta School of Music der Tel<br />
Aviv University.<br />
Mit Israel sieht sie sich nach wie vor eng verbunden.<br />
„Ich repräsentiere das Land, in dem ich aufwuchs,<br />
und versuche die schönen Dinge zu zeigen,<br />
die nicht in den Nachrichten vorkommen“, sagt sie.<br />
So ist sie eben Botschafterin beider Orte, von Wien<br />
und von Israel. Mit Musik geht das.<br />
© Jacky-Photography<br />
wına-magazin.at<br />
47
KOCHEN. ESSEN. G<br />
LEIDENSCHAFT ESSEN<br />
Einfach zum<br />
Nachkochen<br />
E<br />
in<br />
Plädoyer für Fusionsküche,<br />
die nicht auseinanderzudividieren<br />
ist, die israelische nicht<br />
von der arabischen, die palästinensische<br />
nicht von der Israels. Ofir<br />
Raul Graizer, 1981 in Ra’anana geboren,<br />
lebt seit 2010, seit dem Ende<br />
seines Filmstudiums in Sderot, abwechselnd<br />
in Jerusalem und in Berlin<br />
(wo seine Kochkurse regelmäßig<br />
überbucht sind). Das wahrhaft<br />
Praktische an seinen Rezepten ist<br />
das Praktische. In der Praxis führen<br />
seine Anleitungen für vegetarische<br />
Gerichte – von Burekasim über<br />
Beilagen wie Auberginenstangen zu<br />
Shug, Shakshuka, Matbuche, Lahane<br />
oder Oliven-Käse-Tarte – stets<br />
zum Erfolg, und das auch bei Kocheleven<br />
(der Berichterstatter kann es<br />
bestätigen). Denn Graizer erklärt alles<br />
umstandslos verständlich und so<br />
genussverheißend, dass der Ausgang<br />
(fast) immer positiv ist.<br />
Kulturgut Essen<br />
verbindet<br />
E<br />
ssen<br />
konnte verbinden. Und<br />
trennen. Die zwölf Aufsätze<br />
dieses Bandes, nun als preiswertes<br />
Paperback erhältlich, zeigen dies<br />
von der Renaissance bis in die unmittelbare<br />
Gegenwart auf, von<br />
Mitteleuropa, der Sowjetunion<br />
und Israel bis nach Argentinien<br />
und den Südstaaten der USA. „In<br />
jeder Kultur und in jeder Zivilisation“,<br />
schreibt der italienische<br />
Slow-Food-Gründer Carlo Petrini<br />
in seiner Einleitung, „in jedem<br />
historischen oder geografischen<br />
Kontext dient Essen stets als<br />
Quelle der Identität, der Gemeinschaft<br />
und des Zusammenlebens“.<br />
Natürlich ist da die Rede von Gefilte<br />
Fish, aber auch von gastronomischen<br />
Assonanzen, kulinarischen<br />
Dissonanzen, Resilienz und<br />
Ablehnung und einer Gaumen-<br />
Diaspora. Eine kluge Global-Genuss-Lektüre,<br />
die satt macht.<br />
Gastropromenade<br />
durch Tel Aviv<br />
W<br />
as<br />
vermag kulinarisch<br />
eine Stadt zu versprechen,<br />
die einst, 1908, auf Sand<br />
gebaut wurde, im Sand, umgeben<br />
von noch mehr Sand? Viel. Verspricht<br />
und hält Reuven Rubin,<br />
den das Schicksal traf, in Krefeld<br />
im Rheinland zur Welt zu kommen.<br />
Er korrigierte dieses Ungemach,<br />
indem er nach Beendigung<br />
seines Architekturstudiums 1990<br />
nach Tel Aviv auswanderte. Um<br />
in Tel Aviv schlecht essen zu gehen,<br />
muss man, da hat er Recht,<br />
sich sehr anstrengen (manchen<br />
gelingt es tatsächlich – dafür<br />
übersteht, israelische Gaumen<br />
sind eben anspruchsvoll, nur eines<br />
von 17 Restaurants die ersten<br />
zwölf Monate). Seine Gastropromenade<br />
beginnt er im Norden<br />
und endet am Levinsky Market<br />
und am südlichen Ende der<br />
Stadt. Feine Tipps, schöne Hinweise<br />
und noch schönere Fotografien<br />
des in Wien lebenden Arnold<br />
Pöschl.<br />
Ofir Raul Graizer:<br />
Ofirs Küche.<br />
Israelisch-palästinensische<br />
Familienrezepte.<br />
Insel Verlag,<br />
240 S., 25,70 Euro<br />
Hasia Diner &<br />
Simone Ciotto (Hg.):<br />
Global Jewish Foodways.<br />
University of<br />
Nebraska Press,<br />
356 S., 29 Euro<br />
Reuven Rubin:<br />
Tel Aviv.<br />
Die Kultrezepte.<br />
Christian Verlag,<br />
240 S., 34 Euro<br />
© Illustration: Ella CW<br />
48 wına| Juli_August 2019
BÜCHER REZEPTE<br />
ENIESSEN.<br />
Von Familienrezepten und der Geschmacksdiaspora,<br />
von Fusionen und kulinarischen<br />
Assonanzen, Dissonanzen, Entwicklungen<br />
und Globalgeschichten. Neue Kochbücher<br />
zeigen viele Facetten auf. Und haben noch<br />
mehr zu erzählen. Von Alexander Kluy<br />
Experimentierfreudige<br />
Levante<br />
E<br />
xperimentierfreudig.<br />
Dieses<br />
etwas, pardon, abgenudelte<br />
Klischeewort ist wohl bei vielen<br />
die erste Assoziation, geht es um<br />
Küche aus der Levante. Dabei<br />
steht bei der Vielländerküche aus<br />
Israel, Jordanien, dem Libanon<br />
oder Syrien (zumindest in den<br />
Jahren vor dem Bürgerkrieg) stärker<br />
die Frische im Vordergrund,<br />
Kräuter und raffinierte Gewürzmischungen.Mehr<br />
als einhundert<br />
Rezepte, von feinen Mezze<br />
zu hippem Street Food, von strikt<br />
vegetarisch bis magentratzend<br />
übersüß, ansprechend präsentiert<br />
in zehn Menüfolgen, offeriert<br />
Tanja Dusy, eine fleißige Autorin<br />
und Rezeptesammlerin, die bereits<br />
über indische, französische<br />
und japanische Cuisine schrieb,<br />
in ihrem ansprechend illustrierten<br />
Kochbuch. Das nächste Mezze-<br />
Buffet kann kommen! Her mit<br />
den vielen Mezze!<br />
Die ultimative<br />
Hitliste<br />
H<br />
itlisten,<br />
oy. Eine jede Hitliste<br />
hat es in sich, sei sie<br />
nun extrasubjektiv eingefärbt, sei<br />
sie kommerziell handgreiflich<br />
unterfüttert und motiviert. Was<br />
also, wenn einem Alana Newhouses<br />
Listenbuch The 100 Most<br />
Jewish Foods in die Hände fällt?<br />
Newhouse ist Redakteurin des<br />
Tablet Magazine, jener Onlinerevue,<br />
die Jüdisches neu aufziehen<br />
will. Einer der ersten Buchsätze<br />
ist ein exkulpatorischer – der den<br />
Titel verwirft. Doch dann wird<br />
es schlagartig besser. Die vielen<br />
Einträge aus der Feder vieler<br />
Beiträgerinnen und Schreiber,<br />
changierend zwischen anekdotisch<br />
und sehr anekdotisch, sind<br />
leicht zu lesen, durchaus amüsant,<br />
manchmal mit Aha-Effekt<br />
versehen. Und lassen Platz<br />
für das eigene Urteil. Und die eigenen<br />
„hidden champions“, die<br />
man vermisst.<br />
Über die Leidenschaft<br />
des Essens<br />
E<br />
rzählende<br />
Gastroliteratur<br />
über Geschmackentdeckungen,<br />
Familiengeschichte<br />
plus Sozialveränderungshistorie,<br />
das ist hierzulande noch immer<br />
ein Fremdkörper. Im angloamerikanischen<br />
Raum ist das seit<br />
Langem ein Genre. Boris Fishman,<br />
1979 geborener Romancier<br />
(Der Biograf von Brooklyn, Eine<br />
Welt voller Wunder und rein gar<br />
nichts zu befürchten), legt mit Savage<br />
Feast – hoffentlich rasch ins<br />
Deutsche übersetzt – genau so etwas<br />
Opulentes vor, das um Familienmahlzeiten<br />
und Migration<br />
(er emigrierte mit seiner Familie<br />
1988 aus Minsk nach Brooklyn,<br />
New York), autobiografische Miniaturen<br />
und Anekdoten über die<br />
Leidenschaft des Essens und der<br />
Genüsse und 25 Rezepte kreist.<br />
Das Ganze ist hinreißend selbstironisch.<br />
Prosa, die wirklich Lust<br />
auf mehr macht, vor allem darauf,<br />
die Rezepte der Familie Fishman<br />
auszuprobieren.<br />
Tanja Dusy:<br />
Levante. Gemeinsam<br />
orientalisch genießen.<br />
100 Rezepte für opulente<br />
Mezze-Buffets. Edition<br />
Michael Fischer,<br />
160 S., 22,70 Euro<br />
Alana Newhouse (Hg.):<br />
The 100 Most<br />
Jewish Foods.<br />
A Highly Debateable List.<br />
Artisan Books,<br />
256 S., 21 Euro<br />
Boris Fishman:<br />
Savage Feast.<br />
Three Generations,<br />
Two Continents,<br />
and a Dinner Table.<br />
Harper Verlag,<br />
348 S., 18 Euro<br />
wına-magazin.at<br />
49
WINAKOCHT<br />
Warum vermehrt sich das Huhn<br />
in der Suppe, ...<br />
... und was ist dran am und drin im „jüdischen Penicillin“? Die Wiener Küche steckt voller<br />
köstlicher Rätsel, die jüdische sowieso. Wir lösen sie ab sofort an dieser Stelle. Ob Koch-<br />
Irrtum, Kaschrut oder Kulinargeschichte: Leser fragen, WINA antwortet.<br />
Liebe Kulinarik-Experten,<br />
warum spricht man von „Hühnersuppe“,<br />
wenn die warme Mahlzeit doch meist nur<br />
aus einem Huhn gekocht wird?<br />
<br />
Ilana K. aus 1180 Wien<br />
M<br />
it geflügelten Zutaten ist es tatsächlich<br />
eine merkwürdige Sache. Sobald sie in<br />
den Topf kommen, vermehren sie sich plötzlich:<br />
Aus dem Suppenhuhn wird Hühnersuppe,<br />
aus der Gans ein Gänsebraten ... Natürlich<br />
findet dieses Wunder der Pluralisierung<br />
aber nur sprachlich statt. Weshalb, das erklärt<br />
uns der Duden leider nicht. Der Sprachhüter<br />
stellt aber klar, dass es grammatikalisch korrekt<br />
ist – zum Beispiel bei der Speisekartenformulierung.<br />
Steht auf dem Menü im Beisl<br />
also zum Beispiel „Salat mit Hühnerbrust“, so<br />
handelt es sich auch dann nicht um irreführende<br />
Werbung, wenn man nur das Fleisch eines<br />
Federviehs serviert bekommt.<br />
Werte WINA-Redaktion,<br />
ich habe mich im Freibad erkältet. Hühnersuppe,<br />
auch „jüdisches Penicillin“ genannt, soll<br />
da angeblich helfen. Ist an der ihr zugesprochenen<br />
Heilwirkung tatsächlich etwas dran?<br />
<br />
Johannes S. aus 1140 Wien<br />
Die wohltuende Wirkung von Hühnersuppe<br />
wurde schon im Altertum beschrieben:<br />
Hebammen empfahlen sie den Wöchnerinnen<br />
als Stärkungsmittel. Heute weiß man<br />
dank Forschungen aus Japan, dass Hühnersuppe<br />
blutdrucksenkend wirkt – wenn man auch die<br />
Hühnerfüße mitkocht. Denn diese enthalten<br />
ein Kollagen-Hydrolysat, einen natürlichen<br />
Blutdrucksenker ohne Nebenwirkungen.<br />
Weit größerer Beliebtheit und Bekanntheit<br />
erfreut sich die Hühnersuppe aber als Hausmittel<br />
bei Erkältungen und grippalen Infekten.<br />
Bislang existieren jedoch keine aussagekräftigen<br />
wissenschaftlichen Studien, die die Heilwirkung<br />
von Hühnersuppe bei Schnupfen und<br />
Co. tatsächlich bestätigen.<br />
So hat Dr. Stephen Rennard, Lungenspezialist<br />
an der Universität Nebraska, zwar heraus-<br />
50 wına| Juli_August 2019<br />
GEFÜLLTE<br />
MAZZEKNÖDEL<br />
ZUTATEN FÜR 12 KNÖDEL:<br />
4 große Eier<br />
3 EL Pflanzenöl<br />
120 g Mazzemehl*<br />
1 TL grobes Salz<br />
75 ml Sodawasser<br />
ZUTATEN FÜR DIE FÜLLUNG:<br />
1 EL Pflanzenöl<br />
1 gehackte Zwiebel<br />
1 gehackter Stangensellerie<br />
½ Bund gehackte Petersilie<br />
1 gehackte Knoblauchzehe<br />
100 g gekochtes, gehacktes<br />
Huhn, 1 großes Ei, nach Geschmack<br />
Salbei, Salz, Muskatnuss<br />
und Pfeffer<br />
ZUBEREITUNG:<br />
Eier und Öl in einer großen<br />
Schüssel verrühren. Mazzemehl,<br />
Salz und Soda zugeben<br />
und Teig gut durchmischen.<br />
Schüssel abdecken und für<br />
mindestens eine Stunde in den<br />
Kühlschrank stellen. Für die Füllung<br />
Zwiebeln und Sellerie in Öl<br />
andünsten, Knoblauch und Petersilie<br />
zugeben. Gemüse mit<br />
dem Huhn, Ei und den Gewürzen<br />
im Mixer zu einer groben<br />
Paste verarbeiten und für mindestens<br />
eine Stunde in den<br />
Kühlschrank stellen. Den Knödelteig<br />
mit feuchten Händen zu<br />
zwölf Knödeln rollen, je ein tiefes<br />
Loch eindrücken und dieses<br />
mit einem Esslöffel Füllung füllen.<br />
Knödel verschließen. Knödel<br />
in kochendem Salzwasser<br />
für ca. 30 Minuten kochen.<br />
*ungesalzen<br />
gefunden, dass zu Beginn einer Erkältung zu<br />
viele weiße Blutzellen in die Nasenschleimhäute<br />
transportiert werden – was sich in seinen Versuchen<br />
durch den Genuss von Hühnersuppe messbar<br />
reduzieren ließ. Doch welcher Stoff genau<br />
dafür verantwortlich ist, dass die Schleimhäute<br />
wieder abschwellen, blieb auch Dr. Rennard ein<br />
Rätsel. Zumal es durchaus möglich ist, dass der<br />
Effekt schlicht auf den Dampf zurückzuführen<br />
ist, den man beim Löffeln der heißen Suppe<br />
einatmet. Dann täte jedoch auch jedes andere<br />
Heißgetränk der verstopften Nase gut. Zumal<br />
es bei Erkältung besonders wichtig ist, den Körper<br />
mit ausreichend Flüssigkeit zu versorgen.<br />
Aber fördern nicht die ganzen guten mitgekochten<br />
Sachen in der Suppe die Genesung?<br />
Fakt ist: In der Hühnersuppe sind Vitamine,<br />
Eisen, Zink und andere Stoffe zu finden. Es<br />
gibt aber bislang keine Untersuchungen, die<br />
belegen, dass etwa Vitamine bei einem Infekt<br />
wirklich einen Benefit haben. Und die entzündungshemmende<br />
Wirkung der Suppe auf den<br />
menschlichen Körper ist bis heute auch nur<br />
eine vermutete.<br />
Vertreter der traditionellen chinesischen<br />
Medizin empfehlen Hühnersuppe übrigens<br />
nur zur Vorbeugung oder wenn der Erkrankte<br />
schon auf dem Weg der Besserung ist, nicht<br />
aber während der Erkältung. Die Suppe wirke<br />
nämlich nicht nur auf den Kranken, sondern<br />
auch auf den Keim stärkend, der sich dadurch<br />
länger im Körper halte, so die Experten.<br />
Immerhin: Nicht abstreiten kann man, dass<br />
Hühnersuppe so etwas wie eine „Gefühlte<br />
Wirkung“ hat. Bekommt man sie nämlich<br />
von einer sich liebevoll sorgenden Person gekocht<br />
und serviert, fördert dies das Wohlbefinden<br />
ungemein. Erst recht, wenn sie auch noch<br />
mit einem gefüllten Mazzeknödel (siehe Rezept)<br />
kredenzt wird.<br />
Was ist also das Fazit? Sagen wir’s einmal so:<br />
Ohne Suppe dauert die Erkältung sieben Tage,<br />
mit Suppe ganz sicher nur eine Woche!<br />
Wenn auch Sie kulinarisch-kulturelle<br />
Fragen haben, schicken Sie sie bitte an<br />
office@jmv-wien.at, Betreff „Frag WINA“.<br />
© 123RF
MATOK & MAROR<br />
Lunchen mit Geschichte<br />
claro; ist ein feines mediterranes Restaurant im Tel Aviver Stadtteil Sarona, in<br />
einem Gebäude, das seine Gäste quer durch die israelische Historie führt.<br />
Auf den ersten Blick wirkt der<br />
große, helle Raum wie eine ehemalige<br />
Markthalle. Die steinernen<br />
Mauern wurden unverputzt belassen, durch<br />
große Fenster fällt viel Licht herein, Kellnerinnen<br />
und Kellner wuseln zwischen der<br />
offenen Küche und den rohen Holztischen<br />
hin und her. Außen duckt sich der dicht<br />
grün verwachsene Bau in die südwestliche<br />
Ecke des heutigen Ausgehviertels Sarona,<br />
schon fast an die modernen Wohntürme<br />
gelehnt.<br />
Wer hierher zum Essen kommt, erhält<br />
einen Schnelldurchgang israelischer Geschichte,<br />
bereitwillig erzählt vom Personal<br />
am Beispiel des Baus. Errichtet wurde er<br />
1886, noch im von Deutschen gegründeten<br />
Dorf, und damals gehörte das Haus zur örtlichen<br />
Weinkooperative. Im heutigen Speisesaal<br />
wurden die Fässer erzeugt. Ab 1925<br />
destillierten hier die bekannten Weinproduzenten<br />
Segal und Teperberg Hochprozentiges.<br />
1930 schaffte die Firma Rekord<br />
eine deutsche Druckerpresse an, und diese<br />
Branche sollte noch später eine Rolle spielen.<br />
Während des Zweiten Weltkriegs war<br />
hier das Britische Oberkommando untergebracht,<br />
ehe in den späten 40er-Jahren erst<br />
israelische Briefmarken gedruckt wurden,<br />
später überhaupt die Druckerei der Regierung<br />
ihre Arbeit aufnahm. Ab 1950 hatte in<br />
dem Gebäude die israelische Nationalbank<br />
ihren Sitz. Und schließlich arbeiteten von<br />
1963 an Agenten und Beamte des Mossad<br />
in den historischen Mauern.<br />
Seit 2014 darf man hier genießen, und<br />
das ist nicht wirklich schwer. Unter der Leitung<br />
des Küchenchefs Ran Shmueli hat<br />
sich claro; zu einem der beliebtesten Restaurants<br />
der Stadt hinaufgearbeitet, und an<br />
Konkurrenz fehlt es in Tel Aviv nicht gerade.<br />
Beginnen kann man mit rohen lokalen<br />
Fischen, etwa in der Kombination mit<br />
Tomatensauce, Taboule und Joghurt (NIS<br />
Wer hierher zum<br />
Essen kommt, erhält<br />
einen Schnelldurchgang<br />
israelischer<br />
Geschichte,bereitwillig<br />
erzählt vom<br />
Personal am Beispiel<br />
des Baus.<br />
Ceviche,<br />
angerichtet mit<br />
Wassermelone,<br />
Schalotten, scharfem<br />
Pfefferoni und<br />
Labane.<br />
WINATIPP<br />
claro;<br />
HaArba’a St #23, Ecke Rav Aluf<br />
David Elazar 30, Tel Aviv<br />
Tel.: +972/(0)3/601 77 77<br />
clarotlv.com<br />
68) oder als Ceviche, angerichtet mit Wassermelone,<br />
Schalotten, scharfem Pfefferoni<br />
und Labane (NIS 54). Wer sich nicht für<br />
Fisch interessiert, findet kreativ gemixte<br />
Salate der Saison, etwa mit eingelegten<br />
Zwiebeln und Schafkäse (NIS 58).<br />
Die Hauptgerichte haben ebenfalls einen<br />
Fischschwerpunkt, etwa geräucherte<br />
Forelle aus dem Fluss Dan mit Kartoffelsalat,<br />
grünen Bohnen und Krensauce (NIS<br />
98) oder gegrilltes Fischfilet mit geröstetem<br />
Kukuruz und türkischem Spinat<br />
(NIS 142). Für Fleischesser<br />
gibt es Lammrippen<br />
mit eingelegten Zitronen<br />
(NIS 138) oder<br />
klassischen Hamburger<br />
mit selbst erzeugter<br />
Barbecue-Sauce<br />
und eingelegtem saurem<br />
Gemüse (NIS 88).<br />
Am günstigsten isst<br />
man zu Mittag, da zahlt der<br />
Kunde für den Business Lunch<br />
den jeweiligen Preis des Hauptgerichts,<br />
bekommt aber eine Vorspeise und<br />
ein alkoholfreies Getränk dazu.<br />
Die Weinkarte ist umfangreich, allerdings<br />
wie überall in Israel nicht gerade<br />
günstig.<br />
Unter dem Speisesaal bietet LeMata,<br />
eine Lounge-Bar für Events, Firmenfeiern<br />
oder Hochzeiten, Raum für bis zu 200<br />
Personen. Wer dort Party feiert, kann noch<br />
den einstigen Tresor der Nationalbank besichtigen.<br />
Paprikasch<br />
© Reinhard Engel, claro;<br />
wına-magazin.at<br />
51
HIGHLIGHTS | 03<br />
Fotografiert,<br />
um zu zeigen<br />
Das Museum Ludwig in Köln ehrt den<br />
Fotografen Benjamin Katz zu seinem<br />
80. Geburtstag.<br />
Ohne ihn, Benjamin Katz mit dem Finger<br />
auf dem Auslöser, wäre vieles des<br />
Kunst-, Künstlerinnen- und Künstlerbetriebs<br />
im Westdeutschland der 1970erund<br />
1980er-Jahre vergessen worden. Er<br />
hielt es fest. Mit der Kamera. Er begleitete<br />
als so dezenter wie diskreter Bilddokumentarist<br />
Georg Baselitz und Rosemarie<br />
Trockel, James Lee Byars, A. R.<br />
Penck oder auch Cindy Sherman. Am 14.<br />
Juni 1939 kam er, Sohn aus Berlin geflüchteter<br />
Juden, in Amsterdam zur Welt.<br />
Das Museum Ludwig in Köln am Rhein<br />
ehrt ihn nun mit der erstmals überhaupt<br />
vollständigen Ausstellung<br />
seiner Fotoreihe Berlin Havelhöhe.<br />
Die Schwarzweißserie<br />
ist gewaltig. Sie besteht<br />
aus 41 in drei unterschiedlichen<br />
Größen abgezogenen<br />
Motiven und aus 318 Vintage-Prints<br />
im DIN-A4-Format.<br />
Was so idyllisch klingt,<br />
hat einen bedrohlichen Hintergrund.<br />
Katz dokumentierte<br />
die achtzehn Monate,<br />
die er, an Tuberkulose erkrankt,<br />
in dieser Heilanstalt 1960/61<br />
verbrachte. Ein junger Mann mit hellwachem,<br />
scharfem Blick. A.K.<br />
DAZWISCHENDASEIN<br />
Jüdisches Leben zwischen Czernowitz, Wien<br />
und Montevideo: Jüdische Familiengeschichten<br />
sind meist durch Vertreibung, Flucht und<br />
Exil geprägt. Pablo Rudich stellt aus mikrohistorischer<br />
Perspektive die Frage, was eine Biografie<br />
leisten kann. mandelbaum.at<br />
Benjamin Katz:<br />
Berlin Havelhöhe,<br />
1960/1961,<br />
Bis 22. September<br />
museum-ludwig.de<br />
Annabeth Rosen:<br />
Talley, 2011.<br />
Bis 19. Jänner 2020<br />
thecjm.org<br />
Gebrannt,<br />
um zu bleiben<br />
Die erste Werkretrospektive der<br />
Keramikerin Annabeth Rosen in<br />
San Francisco<br />
Ja, was ist das nur? Sind das nun recht<br />
lieb aussehende fremde Wesen aus<br />
entfernten Galaxien? Und was ist das<br />
übermannshoch Aufgetürmte, ein Nest<br />
aus Steinen und Eiern eines gentechnisch<br />
veränderten Riesenhasen? Und<br />
Boogaloo, was ist das nun wieder? Eine<br />
Katastrophe, aus dem Brennofen herausgekratzt,<br />
und ein stolzes Desaster?<br />
Nein. Ganz und gar nicht. Oder anders<br />
ausgedrückt: All das sind Arbeiten der in<br />
Nordkalifornien lebenden Annabeth Rosen.<br />
Die Keramikerin verließ rasch den<br />
konventionellen, weidlich ausgetretenen<br />
Weg. Sie schafft Skulpturen<br />
aus Keramik, aus vielen lustigen<br />
kleinen Teilen. Die überaus<br />
passend, da sehr ironisch<br />
benannte One-Woman-Schau<br />
Annabeth Rosen: Fired, Broken,<br />
Gathered, Heaped, also:<br />
erhitzt, zerbrochen, zusammengesammelt,<br />
gehäufelt,<br />
im Contemporary Jewish Museum<br />
in San Francisco bietet<br />
die Gelegenheit, ihr formal<br />
überbordend verspieltes<br />
Werk der letzten zwanzig Jahre zum ersten<br />
Mal nahezu umfassend zu sehen<br />
und zu erleben. A.K.<br />
MUSIKTIPPS<br />
INBAR<br />
Das muss man sich erst einmal<br />
trauen wollen! Der Pianist<br />
Yehuda Inbar, in Haifa geboren<br />
und seit 2015 in London lebend,<br />
wohl vertraut mit dem Klavierrepertoire,<br />
hat ein Faible für zeitgenössische Musik.<br />
Und so bat er Michael Finnissy, Schuberts<br />
Sonate Reliquie zu vollenden. Auf<br />
dem nun erstmals auf CD eingespielten<br />
Programm Schubert/Finnissy/Widmann<br />
(Oehms) kombinierte er subtil Schubert<br />
und Finnisseys Schubert mit Jörg Widmanns<br />
sechs Schubert-Reminiszenzen.<br />
GOLDSCHMIDT<br />
Für eines – außer außergewöhnlicher<br />
Seebühne und Sommerregen<br />
– sind die Bregenzer<br />
Festspiele auch bekannt: für Wiederentdeckungen.<br />
Für Neuaufführungen halb oder<br />
ganz vergessener Werke der Opernliteratur.<br />
So wie dies Beatrice Cenci von Berthold<br />
Goldschmidt (1903–1996) widerfuhr,<br />
einem vor 1933 hochgelobten Komponisten,<br />
der dann im englischen Exil fast vergessen<br />
wurde. Auf DVD und Blu-ray liegt nun<br />
der Mitschnitt der aufregenden Inszenierung<br />
(Regie: Johannes Erath) vor.<br />
STOLTZMAN<br />
Was es alles geben kann?!<br />
Da ist Richard Stoltzman ein<br />
exzellenter und fürs Zusammenspiel<br />
mit Emanuel Ax und Yo-Yo Ma<br />
preisgekrönter Klarinettist. Er spielt auch<br />
in Jazzbands und in Klezmer-Formationen<br />
mit. Und er hat nun mit seiner Frau Mika<br />
auf Palimpsest (Avie) Werke von Bach, Ravel,<br />
Piazolla und John Zorn arrangiert – für<br />
Klarinette und Marimba, das südamerikanische<br />
Vibraphon, das Mika virtuos spielt.<br />
Eine bisher unerhörte diskographische Ergänzung.A.K.<br />
© VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Reproduktion: Rheinisches Bildarchiv Köln; Courtesy of the artist; Anglim Gilbert Gallery, San Francisco, and P.P.O.W, New York<br />
52 wına| Juli_August 2019
AUFBRUCHSTIMMUNG ZUKUNFTSGLAUBE<br />
Evelyn Adunka:<br />
Zionistenkongresse<br />
in Wien.<br />
Der XI. Zionistenkongress<br />
1913 im Musikverein<br />
mit der Gründung<br />
der Hebräischen<br />
Universität und der XIV.<br />
Zionistenkongress<br />
1925 im Konzerthaus.<br />
Edition INW, € 19,90<br />
„Dieses Start-up<br />
war in Wien“<br />
Blau-weiße Fahnen wehten vom<br />
Hauptportal des Musikvereins.<br />
Im Großen Saal fanden hunderte<br />
jüdische Delegierte aus aller Welt<br />
und insgesamt rund 9.000 Besucher zusammen.<br />
Mehrere Tage lang wurde vorgetragen<br />
und debattiert und letztlich die<br />
Gründung einer Hebräischen Universität<br />
als verbindlich angenommen.<br />
106 Jahre später wurde wiederum im<br />
Musikverein, diesmal im kleineren Steinernen<br />
Saal, bei<br />
der hochkarätigen<br />
Buchpräsentation<br />
von<br />
Evelyn Adunkas<br />
Band, erschienen<br />
in der Edition der Illustrierten<br />
Neuen Welt, an dieses historische Ereignis<br />
erinnert.<br />
„Der Start-up der Start-up-Nation<br />
Israel ist die Hebräische Universität in<br />
Jerusalem, und dieses Start-up war in<br />
Wien“, stellte Menahem Ben-Sasson,<br />
Kanzler der Hebräischen Universität Jerusalem,<br />
in seinem Einleitungsvortrag<br />
fest, nachdem auch Botschafterin Talya<br />
Lador-Fresher auf die Bedeutung beider<br />
Wiener Kongresse hingewiesen hatte.<br />
Chaim Weizmann, der spätere erste<br />
Präsident Israels, und Chaim Nachman<br />
Bialik, der bedeutendste hebräische<br />
Dichter der jungen Nation, waren<br />
die prägenden zionistischen Persönlichkeiten<br />
beider Veranstaltungen, zwischen<br />
denen der Erste Weltkrieg und die Eröffnung<br />
der Universität am Mount Scopus<br />
im April 1925 lagen. Aber die Teilnehmer-<br />
und Gästelisten lesen sich insgesamt<br />
wie das Who is Who der jüdischen<br />
Geistesgrößen dieser Zeit. Auch<br />
Franz Kafka schaute 1913 vorbei, sein<br />
gegenüber Max Brod festgehaltener Eindruck,<br />
er sei „wie bei einer gänzlich frem-<br />
Den beiden großen Zionistenkongressen in Wien in<br />
den Jahren 1913 und 1925 und ihren Folgen hat die<br />
Historikerin Evelyn Adunka einen erhellenden<br />
Band gewidmet.<br />
Von Anita Pollak<br />
den Veranstaltung dagesessen“, muss<br />
auf Kafkas persönliche Befindlichkeit<br />
zurückzuführen sein, denn die meisten<br />
Auch bei der eigenen Frauenversammlung<br />
des Kongresses wurden im Beethovensaal<br />
Brüche zwischen Orthodoxie<br />
und verbreiteter Assimilation spürbar. „In<br />
Westeuropa ist meistens die Tatsache, Jüdin<br />
zu sein, ein unbequemer Geburtszufall“,<br />
beklagte etwa die Hauptreferentin,<br />
Johanna Simon Friedberg, was „nichtzionistische<br />
Frauen“ als Angriff empfanden.<br />
Dem Echo der Veranstaltungen in<br />
der jüdischen und nichtjüdischen Presse<br />
„Blau-weiße Fahnen wehten vom Hauptportal des Musikvereins“<br />
Teilnehmer waren nahezu durchgängig<br />
euphorisch, die wenigsten kritisch, denn<br />
allesamt waren sie ja Zionisten aus ganzer<br />
Seele.<br />
Hochgefühle. Diese Aufbruchstimmung,<br />
die Hoffnungen und Hochgefühle,<br />
den Zukunftsglauben der Delegierten<br />
spiegeln die von Adunka zitierten Protokolle<br />
der Sitzungen und der wichtigsten<br />
Reden. Gerade in der ausführlichen<br />
Wiedergabe ergeben sie in ihrer Gesamtheit<br />
ein beeindruckendes Zeitdokument.<br />
Ein „Strom von Licht und Helligkeit“ ,<br />
eine „neue Kraft zum Vorwärtsstreben“<br />
fühlten sie und waren überzeugt, „daß alle<br />
Regierungen und Völker unser Friedenswerk<br />
mit Wohlwollen betrachten“.<br />
In der Debatte über die geplante<br />
Gründung einer Hebräischen Universität<br />
gab es 1913 viele pathetische Befürworter,<br />
aber auch vehemente Gegner,<br />
vor allem von religiöser Seite, was letztlich<br />
darin gipfeln sollte, dass der Tag ihrer<br />
Eröffnung im April 1925 vom orthodoxen<br />
Rabbiner der Schiffschul in Wien<br />
zum Fasttag bestimmt wurde.<br />
geht Adunka in eigenen Kapiteln nach,<br />
ebenso der „Ignorierung oder Wahrnehmung<br />
bei Zeitgenossen der literarischen<br />
Moderne“. Stefan Zweig und Richard<br />
Beer-Hofmann gehörten offenbar zu<br />
diesen Zeitgenossen, wiewohl sie dann<br />
viel später, 1936, gemeinsam mit der intellektuellen<br />
Elite des jüdischen Wien,<br />
unter anderen auch Sigmund Freud und<br />
Franz Werfel, einen Aufruf des neu gegründeten<br />
Vereins der Freunde der Hebräischen<br />
Universität, der bis heute besteht,<br />
unterzeichneten.<br />
Besonders wertvoll und erhellend sind<br />
die von der Autorin angefügten Biografien<br />
der Protagonisten der Kongresse<br />
und anderer zionistischer Aktivisten,<br />
und nicht nur insofern ist Evelyn Adunkas<br />
zeithistorischer Band ein Nachschlagewerk<br />
ebenso wie ein durchaus lesbares,<br />
ja sogar spannendes Buch, wenn man<br />
ein Grundinteresse an der zionistischen<br />
Idee mitbringt. Denn so viel Zukunftsglaube<br />
wie bei den geschilderten Kongressen<br />
sollte das jüdische Wien danach<br />
nie wieder erleben. <br />
wına-magazin.at<br />
53
BUCKLIGE WELT WECHSELLAND<br />
Beschaulich ruhig ist es an diesem<br />
Sonntagvormittag auf der<br />
Hauptstraße 10 im niederösterreichischen<br />
Bad Erlach. Gut<br />
sichtbare Schilder in Blauweiß verweisen<br />
darauf, dass „das Museum“ heute geöffnet<br />
ist. Aber dies ist kein übliches Regionalmuseum,<br />
es ist das ehemalige Geschäftsund<br />
Wohnhaus der jüdischen Familie Max<br />
Hacker. Mit seinen drei Räumen ist es<br />
Schauplatz der Dauerausstellung im Zeitgeschichtemuseum<br />
der 3.108 Einwohner<br />
zählenden Marktgemeinde, zehn Kilometer<br />
südlich von Wiener Neustadt.<br />
Zwei Besucherpaare wandern umher,<br />
eine Dame steht vor einem Glaskasten<br />
mit einem wunderschönen Schofar, dem<br />
traditionellen Widderhorn, das bereits in<br />
der Bibel als rituelles Musikinstrument erwähnt<br />
wird. In der Erlacher Privatsynagoge<br />
wurde dieser Schofar von Leopold<br />
Hacker, dem Sohn des Synagogengründers<br />
Simon, geblasen. Zum jüdischen Neujahr<br />
am 14. September 1939 schickte Leopold<br />
das Horn seinem Neffen Manfred<br />
Ehrenreich an dessen Fluchtort Nizza.<br />
Dieser Neffe, seine Frau und weitere Verwandte<br />
wurden in der Schoah ermordet.<br />
Doch der Schofar ging nicht verloren, sondern<br />
kehrte jetzt als Leihgabe nach Bad<br />
Erlach zurück: Dank Simon Hackers Urenkelin<br />
Dr. Lieselotte Kastner, die mit ihrer<br />
Familie in London lebt, ist das vielgewanderte<br />
Objekt hier zu sehen. Ihre Söhne Robert<br />
und Raphael Kastner setzen in dritter<br />
und vierter Generation die Familientradition<br />
des Schofarblasens fort.<br />
„Diese Objekte, die mit den überlebenden<br />
Menschen mitgegangen sind, tragen<br />
so viele Erinnerungen in sich – manchmal<br />
quer durch die Welt“, sinniert Martha<br />
Keil, Kuratorin der Dauerausstellung sowie<br />
der Wechselausstellung Mit ohne Juden<br />
(bis 19. März 2021), die in der angebauten<br />
gläsernen Ellipse jüdische Lebenswelten<br />
in der gesamten Region Bucklige Welt<br />
und Wechselland vor 1938 zeigt. In 21<br />
Ortschaften existierte ein religiös-traditionelles,<br />
kulturell aufgeschlossenes und<br />
sozial engagiertes Landjudentum. „Die<br />
meisten jüdischen Familien der Region<br />
stammten aus Westungarn, dem heutigen<br />
Burgenland“, erzählt Keil. „Man lebte<br />
nicht in einem ‚Stetl‘, sondern teilte die<br />
Kultur der Umgebung.“ Kaschrut und<br />
Feiertage wurden allerdings streng eingehalten.<br />
In Erlach und in Krumbach errichteten<br />
die Familien Hacker und Blum<br />
private Synagogen, die organisatorisch zu<br />
Das Hacker Haus<br />
in Bad Erlach<br />
Das neue Museum für Zeitgeschichte wird zum<br />
Zentrum der Erinnerung an 21 niederösterreichische<br />
Gemeinden, in denen Juden vor 1938 lebten.<br />
Reportage: Marta S. Halpert<br />
den Kultusgemeinden Wiener Neustadt<br />
und Neunkirchen gehörten.<br />
Die Geschichte des heutigen Museums<br />
für Zeitgeschichte im Hacker Haus<br />
beginnt im Jahr 2016 mit dem Start des<br />
Forschungsprojekts Die jüdische BevölkerungderRegionBuckligeWelt<br />
–Wechselland.<br />
Mit Unterstützung des Landes Niederösterreich<br />
und der EU (Leader+) wird in diesem<br />
Jahr ein Projekt initiiert, bei dem die<br />
Geschichte der jüdischen Bevölkerung in<br />
26 Gemeinden der Region von 1848 bis zu<br />
deren Verfolgung, Vertreibung und Ermordung<br />
in den Jahren ab 1938 erforscht wird.<br />
Unter der Leitung von Johann Hagenhofer,<br />
Gert Dressel und Werner Sulzgruber<br />
arbeitet ein 18-köpfiges Forschungsteam<br />
an diesem erst- und einmaligem Projekt.<br />
Das 2019 erschienene Buch Eine versunkene<br />
Welt. Jüdisches Leben in der Buckligen<br />
Welt - Wechselland, das auch Interviews mit<br />
noch lebenden Zeitzeugen enthält, ist eines<br />
der Ergebnisse.<br />
Durch diese Forschungsarbeit angeregt,<br />
wurde 2017 auf Initiative von ÖVP-<br />
Nationalrat und Bürgermeister Johann<br />
Rädler das ehemalige Wohnhaus der Familie<br />
Max Hackers von der Marktgemeinde<br />
Bad Erlach angekauft, um darin<br />
ein Zeitgeschichtemuseum einzurichten.<br />
„Ich wurde kurzfristig mit beiden Ausstellungen<br />
betraut, weil ein anderer Kurator<br />
ausgefallen war. Ich hatte nur 13<br />
Monate, das ist ziemlich knapp. Aber da<br />
die Vorarbeiten durch das Forschungsprojekt<br />
geleistet waren und mit der fantastischen<br />
Mitwirkung der zuständigen<br />
Rechercheure und der Nachkommen der<br />
vertriebenen Familien war es zu bewerkstelligen“,<br />
berichtet Martha Keil, Leiterin<br />
des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs<br />
(INJOEST) in St. Pölten.<br />
54 wına| Juli_August 2019
MIT OHNE JUDEN<br />
Südlich von Wiener Neustadt. In den<br />
21 Ortschaften existierte ein religiös-traditionelles,<br />
kulturell aufgeschlossenes<br />
und sozial engagiertes Landjudentum.<br />
MIT OHNE JUDEN<br />
BUCKLIGE WELT UND WECHSELLAND<br />
Sonderausstellung im Hacker Haus<br />
Hauptstraße 10, 2822 Bad Erlach<br />
Do.−So., 10−17 Uhr, bis 19. März 2021<br />
hacker-haus.at<br />
© Reinhard Engel<br />
„Wir fanden in den Archiven nur Dokumente<br />
und diverse Fotokopien. Daher<br />
war es wichtig, die Nachfahren in aller<br />
Welt auszuforschen und mit ihnen zu<br />
sprechen“, berichtet Keil. „Denn nur im<br />
Gespräch konnte ich nach Erinnerungsstücken<br />
und Fotos fragen. Deshalb können<br />
wir Kerzenleuchter aus Holz aus Bogota,<br />
Bolivien, zeigen oder Raritäten wie<br />
ein Thorafragment des frühen 19. Jahrhunderts<br />
sowie eine Lederhose aus dem<br />
Besitz der Industriellenfamilie Mautner.“<br />
Modernste Medien wie Touchscreens, Audioinstallationen,<br />
„Sprechende Bücher“ sowie<br />
eine große interaktive Karte runden die<br />
Präsentation ab.<br />
Hörstationen. Am Ende der Ausstellung<br />
lädt ein Gedenkraum der besonderen<br />
Art zur Besinnung ein: Hier werden<br />
die Namen und Schicksale aller in der<br />
Schoah ermordeten jüdischen Einwohner<br />
der Region Bucklige Welt – Wechselland<br />
im geflüsterten Ton vorgetragen, während<br />
man ihre auf Vorhängen gedruckten<br />
Bilder betrachten kann. Laut Forschungsstand<br />
vom April 2019 wurden 71 jüdisch<br />
Verfolgte in der Schoah ermordet. Das<br />
Schicksal von zwölf Personen ist unbekannt.<br />
„Zu meiner Freude habe ich fast im<br />
letzten Augenblick den Enkel des letzten<br />
Besitzers Fritz Hacker gefunden: Cobie<br />
Brosh lebt in Haifa, und er hat sich<br />
spontan entschlossen, mit Schwester, Kindern,<br />
Enkeln zur Eröffnung am 7. April zu<br />
kommen“, begeistert sich die Kuratorin.<br />
„Die Ausstellung konnte ich nicht mehr<br />
ändern, aber wenigstens auf einer großen<br />
Tafel im Eingangsbereich seine Familie<br />
würdigen.“ Weitere 30 Nachfahren<br />
kamen aus aller Welt. „Wir können<br />
noch immer nicht begreifen, wie Männer,<br />
die in der Freiwilligen Feuerwehr gedient<br />
haben, wie Frauen, die Nachbarskindern<br />
kleine Naschereien zusteckten, plötzlich<br />
zu Opfern der Schoah wurden“, erklärte<br />
NationalratspräsidentWolfgang Sobotka<br />
bei der Eröffnung.<br />
Weitschichtig mit Max Hacker verwandt<br />
war der Weinhändler Simon Hacker,<br />
der schräg gegenüber dem Zeitgeschichtemuseum<br />
wohnte. In der<br />
Dauerausstellung wird der Besucher am<br />
Beispiel der Familie Simon Hacker auf<br />
eine Zeitreise in das jüdische Erlach der<br />
Zwischenkriegszeit genommen. Anhand<br />
zahlreicher Hörstationen mit spannenden<br />
Zeitzeugenberichten, Fotos und Dokumenten<br />
erhält man Einblicke in das<br />
Leben einer gut integrierten und bekannten<br />
Erlacher Familie sowie deren wichtige<br />
Rolle – Simon Hacker war auch<br />
Vorstand der Raiffeisenbank – im Geschäftsleben<br />
der Gemeinde. Prominent<br />
waren die Textilfabrikanten Abeles, Wolf,<br />
Mautner, Preis und Chaimowicz in Erlach<br />
und Trattenbach. Sie förderten die<br />
Region als Arbeitgeber und sorgten in<br />
ihren Betrieben auch für soziale Einrichtungen,<br />
von Arbeiterwohnungen über<br />
eine Volksschule bis zum Sportverein.<br />
„Der gesamte Besitz<br />
des Herrn Fritz<br />
Reiterer ist durch<br />
die Kriegswirren des<br />
Jahres 1945 in unseremDorfinFlammen<br />
aufgegangen. Die<br />
Osterschüsseljedoch<br />
blieb erhalten.“<br />
LeopoldBaumgartner,<br />
Bürgermeisterv.Erlach<br />
Simon Hackers tiefe Religiosität manifestierte<br />
sich nicht nur durch den Bau eines<br />
Bethauses, sondern auch anhand einer<br />
Pessach-Haggada oder der Projektion<br />
der traditionellen Sederschüssel, deren Geschichte<br />
einem Wunder gleicht: Vermutlich<br />
im Geburtsjahr seiner Tochter Karoline<br />
1871 ließ Hacker beim Wiener<br />
Silberschmied Vincenz Czokally eine silberne<br />
Sederschüssel anfertigen. Als die Familie<br />
im März 1938 fliehen musste, gab sie<br />
das Gefäß bei dem Kaufmann Fritz Reiterer<br />
in Verwahrung. 1947 berichtete der<br />
Erlacher Bürgermeister Leopold Baumgartner<br />
einem Nachfahren der Familie Hacker<br />
schriftlich: „Der gesamte Besitz des<br />
Herrn Fritz Reiterer ist durch die Kriegswirren<br />
des Jahres 1945 in unserem Dorf in<br />
Flammen aufgegangen. Die Osterschüssel<br />
jedoch blieb erhalten.“ Die Sederschüssel<br />
landete schließlich bei Ernst Adler, einem<br />
Cousin in London. Seither ziert sie jedes<br />
Jahr den Pessach-Tisch von dessen Tochter<br />
Liselotte Kastner-Adler und den Familien<br />
ihrer drei Söhne. <br />
wına-magazin.at<br />
55
SORGE FÜR UNSERE WELT<br />
„Planenhatimmeretwas<br />
mit Zukunft zu tun“<br />
Das Wiener Architekturzentrum<br />
zeigt noch bis 9. September<br />
die von Angelika Fitz<br />
und Elke Krasny kuratierte<br />
Schau Critical Care.<br />
Wie zeitgenössische „Architektur<br />
für einen Planeten in<br />
der Krise“ aussehen kann, beleuchtet<br />
die sensibel gestaltete<br />
Ausstellung anhand von<br />
rund 20 internationalen<br />
Projekten, die überraschen,<br />
berühren und zum<br />
Nachdenken anregen.<br />
Von Angela Heide<br />
An miteinander über den<br />
ganzen Raum verbundenen<br />
roten Fäden hängen<br />
die fragilen, beweglichen<br />
Recycling-Kartontafeln der<br />
Ausstellung Critical Care.<br />
Critical Care<br />
ARCHITEKTUR FÜR EINEN PLANETEN IN DER KRISE<br />
Ausstellung bis 9. Sept. 2019, tgl. 10 bis 19 Uhr<br />
Architekturzentrum Wien (Az W),<br />
Museumsplatz 1 1070 Wien<br />
azw.at<br />
Inzwischen spüren wir es alle – die extremen<br />
Schneemassen im Winter, die<br />
massiven Unwetter, die unerträgliche<br />
Hitze im Sommer: Das Klima in Europa<br />
verändert sich, wobei es sich hier nicht nur<br />
um eine ‚Veränderung‘ handelt, sondern<br />
eben um eine echte ‚Krise‘ “, erzählt Angelika<br />
Fitz, seit 2017 Direktorin des Wiener<br />
Architekturzentrums (Az W).<br />
Betritt man die noch im Sommer laufende<br />
aktuelle Schau Critical Care, befindet<br />
man sich rasch in einem zugleich lose<br />
und doch stringent gewobenen kuratorischen<br />
System an ineinandergreifenden,<br />
korrespondierenden Themenfeldern. An<br />
roten Schnüren sind sie alle miteinander<br />
verbunden: die 21 in den letzten drei Jahren<br />
intensiver internationaler Forschungsarbeit<br />
von Fitz und Elke Krasny zusammengetragenen<br />
architektonischen und<br />
urbanistischen Projekte, die von Asien<br />
nach Europa, von Afrika nach Amerika<br />
führen und so beeindruckend vielgestaltig<br />
wie konsequent in ihrem Ansatz sind, der<br />
für alle einen gemeinsamen Nenner hat:<br />
unserem Planeten in der Krise mit Projekten,<br />
die Sorge tragen, ob in urbanen oder<br />
ländlichen Regionen, Perspektiven für<br />
eine lebbare Zukunft zu schenken.<br />
Den Titel haben die beiden Kuratorinnen<br />
aus der Medizin entnommen. „Critical<br />
Care heißt so viel wie Notaufnahme, Intensivstation.<br />
Und es ist in unseren Augen<br />
auch dramatisch, wenn wir so weitermachen<br />
wie bisher. Dann überlebt vielleicht<br />
der Planet, aber ohne uns und viele andere<br />
Lebewesen“, macht Fitz die Dringlichkeit<br />
des Ansatzes deutlich. Doch, verrät<br />
die Architekturexpertin, steckt im Titel<br />
auch die Lösung. „Denn dieses care, also<br />
das Sorgetragen, das seinerseits aus den<br />
Politik- und Sozialwissenschaften kommt<br />
und langsam auch in den Kulturwissenschaften<br />
Einzug gehalten hat, beinhaltet<br />
ja zugleich auch die Lösung für diesen Zustand<br />
der Krise.“<br />
Den Begriff, der bislang für die Beziehung<br />
zwischen Menschen Verwendung<br />
fand, auch für Fragen zeitgenössischer<br />
Architektur und Urbanistik anzuwenden,<br />
ist ein weiteres innovatives Moment der<br />
Ausstellung und des begleitenden Forschungsprojektes.<br />
„Wir haben uns gefragt,<br />
ob es Architekturen, ob es ganze Stadtteile<br />
gibt, die Sorge tragen. Nicht nur für Menschen,<br />
sondern auch für Tiere, für die Natur<br />
– also in einem wirklich gesamtheitlichen<br />
Sinn.“<br />
Mit der Ver- und Anwendung des Begriffes<br />
„care“ auf die Auseinandersetzung<br />
mit internationalen Projekten aus Architektur<br />
und Stadtplanung haben Fitz und<br />
Krasny in den letzten Jahren tatsächlich<br />
Pionierarbeit geleistet. Lose strukturiert<br />
wurden die 21 Projekte von den beiden<br />
Kuratorinnen anhand fünf Gruppierungen:<br />
Da ist die Frage des Sorgetragens<br />
für Wasser, Grund und Boden, für oft<br />
über Jahrtausende tradierte, vielfach verschwundene<br />
Kenntnisse und Fertigkeiten,<br />
für Produktion, aber auch für „Reparatur“<br />
und den öffentlichen Raum.<br />
Gemeinsames Aushandeln von Interessen.<br />
Renommierte internationale Architekturbüros<br />
sind ebenso vertreten wie<br />
Einzelarchitekt*innen und für ein konkretes<br />
Projekt zusammengefundene Arbeitsgemeinschaften,<br />
international bereits<br />
bekannte, mit Preisen ausgezeichnete Projekte<br />
ebenso wie unbekannte. „Diese Mischung<br />
war uns sehr wichtig“, verrät Fitz<br />
bei einem Ausstellungsrundgang. Und<br />
dass es bei allen ausgewählten Projekten<br />
wichtig war, Sorgetragen in einem ganzheitlichen<br />
Sinne zu verstehen. „Was wir<br />
uns fragen, und hier sind wir nicht die<br />
einzigen: Dieses Anthropozän, also dieses<br />
‚menschengemachte‘ Zeitalter, in dem<br />
wir leben: Wer ist dieser Mensch, wer sind<br />
diese Menschen? Ist alles, was Menschen<br />
tun, schlecht? Wir denken, nein – so einfach<br />
kann man es sich nicht machen. Es<br />
geht schon um eine bestimmte Art des<br />
Tuns, eine bestimmte Art des Wirtschaftens.<br />
Und das heißt, ich muss auch aussprechen,<br />
dass diese ökologische Krise eine<br />
Krise des Kapitalismus ist.“ Architektur<br />
und Stadtplanung, erläutert Fitz weiter,<br />
sind „als wesentliche Teile dieses Kapitalismus<br />
daher auch selbstverständlich Teile<br />
dieser Krise. Sie können aber eben auch<br />
56 wına| Juli_August 2019
NACHHALIGKEIT PARTIZIPATION<br />
© Az W/Lisa Rastl; Heritage Foundation of Pakistan; Martina Bo Rubino<br />
Teile der Lösung sein.“ Wie<br />
das möglich sein könnte<br />
– und auch ist –, machen<br />
die versammelten Projekte<br />
deutlich: als ökologische<br />
„Reparatur“ der informellen<br />
Siedlungen mitten im<br />
Financial District am Matin-Pena-Kanal<br />
in Puerto<br />
Ricco, als erdbebensichere<br />
neue Formen von Dorfentwicklungen im<br />
chinesischen Sichuan, als flutbeständige<br />
Häuser in Lehm- und Bambusbauweise,<br />
wie etwa in Pakistan, oder als vielfältige<br />
öffentliche Räume, ob im Londoner Vorort<br />
Croydon, in São Paulo, Barcelona oder<br />
im belgischen Melle.<br />
„Alle diese Projekte arbeiten in neuen<br />
Allianzen“, erläutert Fitz eines der wesentlichen<br />
Prinzipien, das vor allem zwei der<br />
zentralen Aspekte garantiert: Erfolg und<br />
Nachhaltigkeit. „Sie versuchen nicht nur<br />
neue ökologische, sondern eben auch neue<br />
ökonomische Modelle zu pflegen. Sie arbeiten<br />
mit NGOs, Bauherrn und gemeinwohlorientierten<br />
Stiftungen, sie arbeiten<br />
mit anderen Disziplinen zusammen.“ Ein<br />
„Esgehtauch<br />
darum,einen<br />
Ort neu zu<br />
sehen,neuzu<br />
erfahren.“<br />
Angelika Fitz<br />
Das von Emergency<br />
Architecture<br />
mit initiierte<br />
Projekt realisierte<br />
100 Klassenräume<br />
für Kinder im<br />
Flüchtlingslager<br />
Za’atari Village in<br />
Jordanien.<br />
In Pakistan wurde<br />
das Projekt Sindh<br />
Flood Rehabilitation<br />
ins Leben<br />
gerufen, bei dem<br />
in traditioneller<br />
Lehm- und Bambusbauweise<br />
flutbeständige<br />
Häuser<br />
für die Menschen<br />
der Region gebaut<br />
werden.<br />
Missverständnis gilt es dabei<br />
auch gleich aus dem Weg zu<br />
räumen, erläutert Fitz weiter:<br />
„Die Projekte verbinden<br />
Bottom-up-Prozesse<br />
mit Top-down-Strategien“,<br />
denn „mit ein bisschen Basteln<br />
werden wir den Planeten<br />
nicht retten. Es geht hier<br />
schon um großmaßstäbliche,<br />
prototypische Ideen.“ Das heißt nicht,<br />
dass alle präsentierten Projekte regionenübergreifend<br />
sind, wie etwa jenes im chinesischen<br />
Bezirk Songyang, in dem Architektin<br />
Xu Tiantian zahlreiche über die<br />
ganze Region verteilte nachhaltige Produktionsstätten<br />
für lokale Produkte wie<br />
etwa Tofu entworfen hat, die so, neben<br />
der Stärkung traditioneller Produktionsweisen,<br />
den internationalen wie auch den<br />
Binnentourismus wiederbeleben. Auch so<br />
kleine und schwer zu kopierende Projekte<br />
wie jenes von Anapuma Kundoo, bei dem<br />
in alter Lehmbautechnik Gebäude für obdachlose<br />
Kinder entstehen, oder jenes von<br />
Anna Heringer, die gemeinsam mit der<br />
Modemacherin Veronika Lena in einem<br />
Dorf in Bangladesch eine aus alten Saris<br />
entwickelte Modelinien entworfen hat,<br />
sind vertreten.<br />
Nicht alle Projekte, die die beiden Kuratorinnen<br />
recherchiert und zu einem<br />
großen Teil auch vor Ort besucht haben,<br />
waren sich zuvor selbst ihrer „Care“-<br />
Perspektive oder gar ihrer nicht zuletzt<br />
durch die Schau deutlich gemachten globalen<br />
Pionierarbeit bewusst. „Doch wenn<br />
wir ihnen dann von unserem Konzept erzählt<br />
haben, konnten sich alle damit identifizieren.“<br />
Auch ein Beitrag aus Wien ist Teil<br />
der Ausstellung, seinerseits von Krasny<br />
und Fitz gemeinsam initiiert und kuratiert:<br />
Bei dem 2017 begonnenen Projekt<br />
Care + Repair wurden sechs internationale<br />
Architekt*innen-Teams eingeladen, jeweils<br />
im Tandem mit lokalen Expert*innen<br />
aus Wien an der „Reparatur“ der „Freien<br />
Mitte“ zu arbeiten – jener „urbanen Wildnis“,<br />
die im Zuge der Bebauung des ehemaligen<br />
Wiener Nordbahnhof-Geländes<br />
in der Wiener Leopoldstadt, einem der<br />
größten Wiener Stadtentwicklungsprojekte<br />
der letzten und kommenden Jahre,<br />
entstand, oder besser: verblieben war. Das<br />
Leitbild der Masterplaner von Studio-<br />
VlayStreeruwitz war hier, wie bei nahezu<br />
allen Beispielen, „vom Vorhandenen auszugehen,<br />
statt Tabula rasa zu machen“,<br />
vorhandene „Qualitäten“ zu suchen, zu<br />
finden, zu erforschen und, im idealen Falle,<br />
auch nachhaltig zu nutzen.<br />
Mit dem in Zusammenarbeit mit der<br />
TU Wien realisierten Forschungsprojekt<br />
Mischung: Nordbahnhof konnte hier<br />
in Wien ein Projekt entstehen, dass bereits<br />
auf weltweite Aufmerksamkeit stieß.<br />
Dieses „involved curating“, also das involvierende,<br />
teilhabende Kuratieren vor Ort<br />
schafft nicht nur ein mediales „place making“,<br />
sondern auch ein nachhaltiges Bewusstsein<br />
für die Qualitäten oft übersehener<br />
gewachsener „Wildnisse“ in stark<br />
wachsenden Städten. Mittels Teilhabe,<br />
Partizipation und eben auch: Fürsorge,<br />
gepaart mit Achtsamkeit und nachhaltiger<br />
„Pflege“, ist die Rettung der Welt, „1<br />
Minute vor 12“, so die Hoffnung, die man<br />
am Ende des Ausstellungsbesuches mitnimmt,<br />
vielleicht doch nicht ganz unrealistisch.<br />
„Partizipation bedeutet ein gemeinsames<br />
Versuchen, Tun und Umsetzen“,<br />
schließt Fitz ihre Ausführungen zum<br />
Wiener Projekt. „Es geht auch darum, einen<br />
Ort neu zu sehen, neu zu erfahren.<br />
Nicht nur: reden, reden, reden.“ <br />
wına-magazin.at<br />
57
WINA WERK-STÄDTE<br />
Turku<br />
Juden leben seit Jahrhunderten<br />
in ganz Europa.<br />
Sogar im entlegenen Turku<br />
haben sie sich angesiedelt<br />
und eine Synagoge errichtet.<br />
Von Esther Graf<br />
Der Kuppelbau<br />
ähnelt von außen<br />
der Synagoge in<br />
Helsinki.<br />
Synagogenbauten sind überall auf der Welt<br />
steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens.<br />
Seit der Antike sind sie überliefert und<br />
geben uns Einblick in unterschiedliche<br />
Raumkonzepte und dekorative Entwicklungen.<br />
Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts<br />
die Frage aufkam, in welchem Stil jüdische<br />
Gotteshäuser erbaut werden sollen, finden wir am<br />
Anfang des 20. Jahrhunderts Synagogen in verschiedenen<br />
Stilen, oftmals im klassizistischen oder<br />
orientalischen, selten im Jugendstil. Im Falle der<br />
Synagoge in Turku, die 1912 eingeweiht wurde,<br />
handelt es sich um einen jüdischen Sakralbau im so<br />
genannten Rundbogenstil. Bei dem zweistöckigen<br />
verputzten Backsteingebäude handelt es sich um einen<br />
rechteckigen Hallenbau, der von einer Kuppel<br />
bekrönt wird. Im Erdgeschoss sind die Wochentagssynagoge<br />
sowie die Räume für die Verwaltung und<br />
den Religionsunterricht untergebracht. Die Hauptsynagoge<br />
mit einer an drei Seiten umlaufenden Empore<br />
befindet sich in der Bel Etage. Der Aron haKodesch<br />
(Thoraschrein) steht in einer Nische, die von<br />
außen als halbrunder Erker zu erkennen ist. Trotz<br />
unterschiedlicher Architekten erinnert die Fassadengliederung<br />
an die der 1906 erbauten Synagoge<br />
in Helsinki, ist jedoch weitaus schmuckloser. Einst<br />
gab es in Finnland drei jüdische Bethäuser – die jüdische<br />
Minderheit war immer sehr klein –, von denen<br />
heute nur mehr zwei existieren. Die Synagoge<br />
in Turku ist eines von ihnen. <br />
TURKU<br />
Turku mit seinen rund 188.000 Einwohnern war unter schwedischer Herrschaft die<br />
wichtigste Stadt des Landes. Juden war die Ansiedlung bis in das 19. Jahrhundert untersagt.<br />
Lediglich jüdische Soldaten der russischen Armee, die im Großherzogtum Finnland<br />
gedient hatten, durften nach Dienstende dort wohnhaft bleiben. Erst mit der Unabhängigkeit<br />
des Landes 1917 erlangten Juden die vollen Bürgerrechte. Zur Zeit der deutschfinnischen<br />
„Waffenbrüderschaft“ kämpften ca. 300 finnische Juden an der Seite der<br />
Waffen-SS. Heute leben etwa 1.500 Juden in Finnland, davon um die 200 in Turku.<br />
© Harri Blomberg, 2007, Commons Wikimedia<br />
58 wına| Juli_August 2019
URBAN LEGENDS<br />
Die Zeit der<br />
Hochstaplerinnen<br />
In Zeiten ebenso ominpräsenter wie undurchschaubarer Medienrealitäten<br />
und verschwimmender, wechselnder Identitätskonstruktionen geben<br />
zunehmend auch Frauen den Felix Krull.<br />
Sophie Roznblatt bringt Flüchtlingen Sex<br />
bei“, titelte der Bayerische Rundfunk im<br />
Mai 2017 reißerisch: Die Zeit hatte im<br />
Frühling 2017 einen Beitrag einer vermeintlich<br />
im Sozialbereich engagierten Autorin<br />
veröffentlicht. Das Problem mit dem Penis (so<br />
der Titel des erfundenen Berichts) entpuppte sich<br />
in Folge als ein etwas größeres Problem mit der<br />
Wahrheit. Hinter dem Pseudonym Sophie Roznblatt<br />
entdeckten die MedienmacherInnen jüngst<br />
eine promovierte Historikerin und Bloggerin, die es mit Fakt<br />
und Fiktion nicht so genau nahm. Auch der Geschichte einer<br />
von ihr gegründeten Slum-Klinik in Indien war in Folge<br />
nicht mehr zu trauen.<br />
Paul Divjak<br />
„Wir sind durch und durch veröffentlicht.<br />
Wir machen uns interessant und<br />
immer interessanter.“ Botho Strauß<br />
Einer Anwältin, einer Genealogin und einem Archivar waren<br />
Ungereimtheiten in der vorgeblichen Biografie aufgefallen,<br />
gemeinsam mit Der Spiegel hat man dann die Decouvrierung<br />
ins Rollen gebracht.<br />
Frau Hingst, eine preisgekrönte Bloggerin, hatte sich als<br />
eine Art weibliches Fabelwesen gleichsam als Wilkomirski-<br />
Relotius-Hybrid über Jahre als Nachfahrin von Holocaust-<br />
Opfern inszeniert, Stammbaum der ermordeten und überlebenden<br />
Ahnen sowie gefälschte Dokumente inklusive. Und<br />
selbst für Yad Vashem gilt es nun, die Datenbank wieder von<br />
22 von ihr eingetragenen falschen jüdischen Verwandten zu<br />
befreien.<br />
Die Hingst-Gespinste der Jüdischkeit basierten ausschließlich<br />
auf der Legitimierung ihrer Identität durch die Schoah.<br />
Das gelebte Judentum war kein Thema für die Frau, die die<br />
Tom-Kummer-Nummer (der Schweizer Journalisten war<br />
mit seinen erfundenen Geschichten über Hollywoodstars in<br />
den 1990er-Jahren der Prototyp des „Borderline-Journalismus“,<br />
wie er ihn nannte) und das Pathos liebte und Stereotypen<br />
bediente.<br />
Im März ist noch ein Bildband von der derzeit aus der Öffentlichkeit<br />
verschwundenen Autorin erschienen: Kunstgeschichte<br />
als Brotbelag. Um Fälschungen geht es auch hier: Die<br />
naive Verwurstung von bekannten Gemälden als vollbelegtes<br />
Abendbrot.<br />
„Das jüdische Leben wurde zur Folklore durch ein genau<br />
fixierbares, punktuelles und sehr junges Ereignis: den Völkermord“,<br />
schreibt Alain Finkielkraut in Der eingebildete Jude<br />
(Le juif imaginaire, 1980). Darin versuchte der Philosoph, die<br />
Erinnerung und das Gedächtnis zu beschwören. „Als Sohn<br />
von Überlebenden empfand ich mich als Erbe ihrer Leiden.<br />
Heute weiß ich, daß mit den letzten Überlebenden des Völkermordes<br />
eine Daseinsqualität verschwinden wird, die ich<br />
nicht erben werde.“ Darum wolle er „den Exhibitionismus<br />
durch die Erinnerung“ und den „Spontaneismus durch das<br />
Studium“ ersetzen, „um jenes Judentum kennenzulernen, das<br />
ich nicht in mir habe und dessen Abwesenheit ich nicht länger<br />
vergessen will mit Hilfe von Einbildungen und Prahlereien“.<br />
Für junge Juden, die nur mehr Relikte des Judentums kennen<br />
würden, die mehr in der Fiktion zu Hause sind, als „Bewohner<br />
des Irrealen“, schlug Finkielkraut die Bezeichnung<br />
„eingebildeter Jude“ vor.<br />
Dass eines Tages eine junge deutsche Historikerin aus dem<br />
ehemaligen Osten der Bundesrepublik Oliver Polaks Ulk-<br />
Song Komm, lasst uns alle Juden sein beim Wort nehmen und<br />
mit einer konstruierten imaginären Identität und falschen Erinnerungen<br />
operieren würde, um in der Mainstreamgesellschaft<br />
ihre vermeintliche Jüdischkeit als demonstrative Haltung<br />
und Marketingtool zu benützen, um Prosatexte, die sie<br />
freilich als Wahrheitsberichte ausgab, zu „authentifizieren“<br />
und sich Kritikern gegenüber in der Minderheitsnische der<br />
Behauptung unantastbar zu machen – und dergestalt nicht<br />
zuletzt Antisemitismen Vorschub leisten würde, hätte sich<br />
Finkielkraut wohl auch nicht träumen lassen.<br />
In Zeiten omnipräsenter Medienrealitäten und verschwimmender,<br />
wechselnder Identitätskonstruktionen geben zunehmend<br />
auch Frauen den Felix Krull. Wir erleben die (digitale)<br />
Emanzipation des Hochstapelns. Und die mediale Empörung<br />
ist ziemlich groß.<br />
Eine andere zu sein, gab zuletzt auch die Deutsche Anna<br />
Sorokin vor, die sich in New Yorks High Society und in den<br />
sozialen Medien als Millionenerbin „Anna Delvey“ inszenierte<br />
und jüngst zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt<br />
wurde. Vor Gericht meinte sie lapidar: „Ich würde Sie und<br />
alle anderen anlügen, wenn ich sagen würde, dass mir irgendetwas<br />
leidtun würde. Ich bedaure nur, wie ich bestimmte Sachen<br />
angegangen bin.“<br />
Ein Statement ganz im Sinne von Samuel Becketts zum<br />
Onlinegemeinplatz verkommenen Zitat aus Worstward Ho<br />
(1983): „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail<br />
again. Fail better.“<br />
Die starbesetzte Verfilmung der Geschichte ist jedenfalls<br />
bereits geplant. <br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
wına-magazin.at<br />
59
LEBENS ART<br />
Die Eloquenz<br />
unserer Anatomie<br />
Das Unbeschreibliche tanzen<br />
Die New Yorkerin Juliana F. May – ihre Großmutter<br />
stammte aus Wien und musste als Jüdin<br />
flüchten – ist so etwas wie eine Trauma-<br />
Expertin innerhalb der Performanceszene am<br />
Hudson River. Schon seit einem Jahrzehnt<br />
lässt sie dieses Motiv nicht los, und auch in<br />
ihrem aktuellen Stück Folk Incest geht es um<br />
scheinbar nicht darstellbare Themen wie den<br />
Holocaust, das sexuelle Trauma und die Fetischisierung<br />
junger Mädchen.<br />
Frau May, was kann Tanz besser ausdrücken<br />
als Worte?<br />
Tanz ist nicht sehr gut darin, lineare Erzählungen<br />
zu vermitteln. Aber seine Abstraktion kann<br />
den Zustand des Traumas nutzen, an den man<br />
sich oft abseits der genauen Reihenfolge und<br />
ohne Sprache erinnert.<br />
Sie verwenden auch Text in Ihrem Stück. Wozu<br />
braucht es das gesprochene und gesungene<br />
Wort?<br />
In Folk Incest benutze ich Text, um mich tiefer<br />
in die Person hinein zu bewegen oder sie<br />
zu verstecken. Wiederholungen und ständige<br />
Unruhe schaffen dabei ein Umfeld, in dem<br />
Wut und Humor koexistieren können. Die Lieder<br />
und Gesänge sollen Katharsis inmitten<br />
schwieriger Inhalte erzeugen.<br />
Wie schafft man es, etwas Unbeschreibliches<br />
in Tanz umzusetzen?<br />
Da Traumata im Körper gespeichert sind, vertraue<br />
ich auf die Kraft der Abstraktion und der<br />
Bewegung, um Ideen auszudrücken, die zu<br />
schmerzhaft sind, um sie zu<br />
verarbeiten.<br />
Wann haben Sie den letzten<br />
Wiener Walzer getanzt?<br />
1990 im Wohnzimmer meiner<br />
Großmutter mütterlicherseits,<br />
Rose Fallmann Gaster, in Connecticut.<br />
Rose und ihre Familie<br />
flohen 1939 aus dem nationalsozialistischen<br />
Wien nach<br />
Brooklyn. Sie ging nie zurück.<br />
60 wına| Juli_August 2019<br />
Auch in diesem Sommer<br />
übernehmen bei<br />
ImPulsTanz – Vienna<br />
International Dance<br />
Festival die Stars des<br />
zeitgenössischen Tanzes<br />
die Bühnen der<br />
Walzerstadt. WINA hat<br />
vier Künstlerinnen und<br />
Künstler aus den unterschiedlichsten<br />
Bereichen<br />
zum Interview gebeten,<br />
die alle jedoch eines eint:<br />
ihre jüdische Identität –<br />
oder die Suche danach.<br />
Sicherer Ort. Zvi<br />
Gotheiner arbeitet mit<br />
Tanzlehrenden.<br />
Wut und Humor. Juliana<br />
F. May lässt das Trauma-<br />
Thema nicht los.<br />
Ein Ort für Fragen<br />
In seinem Heimatland Israel begann Zvi<br />
Gotheiner bereits in jungen Jahren mit der<br />
Bühnenkunst, sowohl als Tänzer wie auch<br />
als Musiker. Er tanzte unter anderem mit der<br />
Joyce Trisler Dance Company und der Batsheva<br />
Dance Company. 1987 gründete er<br />
sein eigenes Ensemble, mit dem er bis heute<br />
erfolgreich in Nordamerika, Europa und Israel<br />
tourt. Zudem unterrichtet er als Lehrer Meisterklassen<br />
bei zahlreichen Spitzenkompanien<br />
und als Gastlehrer an renommierten Schulen<br />
sowie bei Festivals weltweit.<br />
Herr Gotheiner, gibt es etwas typisch Israelisches<br />
in der Art Ihres Tanzes oder in der Art,<br />
wie Sie lehren?<br />
Mittlerweile lebe ich ja bereits seit einigen Jahrzehnten<br />
in New York, aber ich bin sicher, dass<br />
meine Arbeit etwas „Israelisches“ enthält, das<br />
unbewusst aus meiner DNA hervorgeht …<br />
Was möchten Sie<br />
den Teilnehmern Ihres<br />
Workshops Meditating<br />
on teaching<br />
Ballet vermitteln?<br />
Ich möchte weniger<br />
„vermitteln“ und<br />
auch nicht versuchen,<br />
alte pädagogische<br />
Kriege beizulegen,<br />
oder sagen,<br />
dass mein Unterricht<br />
der einzige Weg ist.<br />
Ich möchte LehrerInnen<br />
und angehenden<br />
LehrerInnen einen sicheren Ort für Frage<br />
schaffen. Einen Ort, um den Fokus nach innen<br />
zu kehren und neue Prioritäten für den Tanzunterricht<br />
zu setzen, ihn aufzufrischen und zu<br />
personalisieren.<br />
Tanz bedeutet für Sie ganz persönlich:<br />
Alles!<br />
Wann haben Sie den letzten Wiener Walzer<br />
getanzt?<br />
Hoffentlich noch nicht!
Der Körper als Farbpalette<br />
Steven Cohen wurde 1962 in Johannesburg<br />
geboren und lebt im französischen Lille. Als visueller<br />
und performativer Künstler inszeniert er<br />
Interventionen im öffentlichen Raum und in Galerien<br />
und Theatern. Dabei beschäftigt er sich<br />
in seinem Schaffen immer mit der Komplexität<br />
seines eigenen Daseins – nämlich, ein jüdischer,<br />
schwuler, weißer Mann zu sein.<br />
Herr Cohen, warum haben Sie sich Performance<br />
und Tanz als Ihre künstlerische Ausdrucksweise<br />
ausgesucht?<br />
Ich bin ein Künstler. Und ich benutze verschiedene<br />
Medien, um meine Arbeiten zu machen.<br />
Performancekunst ist visuelle Kunst, und Tanz<br />
ist dabei eines meiner Werkzeuge. Dazu kommen<br />
auch materielle Objekte, die ich als Szenografie<br />
oder als Kostüm verwende, ebenso wie<br />
der Klang und jedes andere verfügbare Element,<br />
das von zeitlich bis räumlich reicht. Tanz<br />
hat wie Gesang einen besonderen Stellenwert<br />
im menschlichen Ausdruck, er ist die älteste<br />
Form der Anbetung – eine körperliche Manifestation,<br />
die aus der Seele spricht.<br />
Nacktheit spielt in Ihrer Arbeit eine große Rolle.<br />
Warum?<br />
Tatsächlich bin ich in meiner Arbeit niemals<br />
körperlich völlig nackt, nur emotional! Ich benutze<br />
Elemente strategischer Nacktheit, weil<br />
ich glaube, dass das, was ich ausziehe, genauso<br />
wichtig ist wie das, was ich trage. Ich<br />
bin auch nie unnötig nackt. Ich benutze<br />
das Fleisch, wie ein Maler die<br />
Farbe verwendet. Es ist ein Element<br />
einer Palette von Möglichkeiten. Da es<br />
in meiner Performancekunst um den<br />
Ausdruck meiner menschlichen Form<br />
geht, benutze ich so viel von meinem<br />
Körper, wie ich brauche, und das so<br />
klar, wie ich kann. Ich spreche mit meiner<br />
physischen Form; und Teile des<br />
Körpers in Bewegung zu zeigen, zeigt<br />
die Eloquenz unserer Anatomie. Jeder<br />
spricht physisch, das ist ein interkulturelles<br />
und universelles metasprachliches<br />
Vokabular. Ich lebe zurzeit in Frankreich<br />
und bin osteuropäischer Abstammung. Ich bin<br />
ein Aschkenase – im Gegensatz zu einem österreichischen<br />
Nationalsozialisten! Ich betrachte<br />
mich als gesegnet, die Chance zu haben zu geben,<br />
was mir gegeben wurde.<br />
Tanz bedeutet für Sie ganz persönlich:<br />
Eine Chance mein, Ich-Sein zu feiern – persönlich,<br />
künstlerisch, sozial, politisch. Und was das<br />
wiederum für uns bedeutet!<br />
ImPulsTanz<br />
11. Juli–11. August ’19<br />
impulstanz.com<br />
Affenstark. Lisi<br />
Estaras (vorne) sucht<br />
mit ihrer Companie<br />
Monkey Mind nach<br />
Indentitäten.<br />
Blanker Wahnsinn.<br />
Steven Cohen spielt<br />
mit emotionaler und<br />
körperlicher Nacktheit.<br />
Klappern im Kopf<br />
Die argentinische Choreografin Lisi Estaras<br />
begibt sich zusammen mit ihrem künstlerischen<br />
Partner Ido Batash auf die Suche nach<br />
einer jüdischen Identität von heute. Die musikalische<br />
Landschaft für The Jewish Connection<br />
Project bilden u. a. Auszüge aus Kompositionen<br />
von Richard Wagner.<br />
Frau Estaras, was genau ist der „Monkey<br />
Mind“ nach dem Ihre Company benannt ist?<br />
Es bezieht sich auf das endlose Klappern in<br />
unseren Köpfen. So wie wir von einem Gedanken<br />
zum nächsten springen, hüpfen die Affen<br />
chaotisch von Baum zu Baum ...<br />
Identitätssuche ist der Kern<br />
Ihres Stückes. Sind Sie Ihrer<br />
eigenen jüdischen Identität<br />
durch die Arbeit ein Stück<br />
näher gekommen? Oder ist<br />
es eine endlose Suche?<br />
Tatsächlich hinterfragt die<br />
Arbeit die Idee der Identität.<br />
Ist es etwas, das wir<br />
wählen oder das uns auferlegt<br />
wurde? Wir entdecken,<br />
dass Identität „flexibel“ ist<br />
und aus vielen kleinen Teilen besteht.<br />
Sie tanzen zu Wagner, der wegen seines offenen<br />
Antisemitismus umstritten ist. Eine Provokation<br />
oder der Versuch, Kunst und Künstler<br />
zu trennen?<br />
Wenn wir Wagner hören, ohne zu wissen,<br />
dass es Wagner ist, können wir sagen, dass<br />
es schöne Musik ist. Wenn wir wissen, dass<br />
es Wagner ist, fragen wir uns ständig, ob es<br />
in Ordnung ist, seine Musik zu genießen, wir<br />
spüren das Gewicht. Es provoziert Fragen und<br />
Unbehagen, und doch ...<br />
Sind Österreich und Deutschland aufgrund<br />
ihrer Vergangenheit ganz spezielle Spielorte<br />
für Ihr Stück?<br />
Ja. Geschichte ist immer präsent, unbestreitbar.<br />
Diese Arbeit in Wien zu zeigen, ist etwas<br />
ganz Besonderes. Es wird eine starke emotionale<br />
Erfahrung sein.<br />
Tanz bedeutet für Sie ganz persönlich ...<br />
... einen Weg, die Verwirrung und Freude auszudrücken,<br />
die wir alle teilen. Unsere Zerbrechlichkeit<br />
und Stärke als Menschen. Es<br />
ist der einzige Moment, in dem ich wirklich<br />
und frei sein kann.<br />
© Chris Waikiki; Ian Douglas; Thomas Dhanens; Pierre Planchenault<br />
wına-magazin.at<br />
61
SOMMER KALENDER<br />
STREET ART<br />
Wien Museum,<br />
Karlsplatz 5, 1040 Wien<br />
wienmuseum.at<br />
5. JULI BIS 1. SEPT. 2019<br />
WIEN.WILD.MUSEUM.<br />
Das Wien Museum am Karlsplatz<br />
hat für die folgenden<br />
Jahre seine Tore geschlossen,<br />
um einen trendig-coolen Betonaufbau<br />
zu bekommen. Und so<br />
bietet der eben erst leer gewordene<br />
Nachkriegsbau von Oswald<br />
Haerdtl in den folgenden<br />
Wochen unter dem Titel Takeover<br />
mit rund 2.000 Quadratmetern<br />
Platz genug für jugendliche<br />
Freiraum-Übernahmen. Bis 1.<br />
September dürfen nun – während<br />
draußen für den Neubau<br />
die alten Bäume gefällt werden<br />
– Street Art und Skateboarding<br />
hier Einzug nehmen. Was<br />
einst als „Sub“- und „Rand“-<br />
Kultur kritisch beäugt und vieldiskutiert<br />
wurde, ist heute also<br />
mitten im Herzen der Stadt angekommen.<br />
Und das ist gut so.<br />
Dass für den Aufbau mit geplantem<br />
regen Kaffeehausbetrieb,<br />
der wohl bis zur Karlskirche reichen<br />
wird, hingegen Grünraum<br />
verloren geht, dafür weniger.<br />
Beides wäre schön! In diesem<br />
Sinne: GREEN AND COOL: Ja zu<br />
Veränderungen, die für alle lebenswert<br />
sind!<br />
THEATER<br />
20 Uhr<br />
Burg Perchtoldsdorf,<br />
Paul-Katzberger-Platz 1,<br />
2380 Perchtoldsdorf<br />
sommerspiele-perchtoldsdorf.at<br />
AB 27. JUNI 2019<br />
SIE LACHEN AUS<br />
VERZWEIFLUNG<br />
Anton Tschechows Onkel Wanja, 1896<br />
am Moskauer Künstlertheater uraufgeführt<br />
und heute von keiner Bühne der<br />
Welt mehr wegzudenken, diese „Tragikomödie“,<br />
wie sie der Autor selbst<br />
nannte, die mehr Tragödie als Komödie<br />
ist, das Traurigste ihrer Figuren mit den<br />
lachenden Tränen des gesellschaftlichen<br />
und persönlichen Abgrunds erzählt,<br />
ist eine Ausnahmeerscheinung<br />
bei einem sommerlichen Festivalreigen<br />
wie dem Niederösterreichischen<br />
Theatersommer, der vor allem der Unterhaltung<br />
dienen will. Doch Regisseur<br />
Michael Sturminger sieht gerade darin<br />
eine der großen Qualitäten seiner Wahl<br />
für die von ihm geleiteten Sommerspiele<br />
im herrlichen Ambiente der Burg<br />
Perchtoldsdorf, ist Tschechows fein gebautes,<br />
filigranes Stück nicht zuletzt<br />
auch deswegen eine Herausforderung,<br />
da es gerade dessen in deutschsprachigen<br />
Inszenierungen oft verleugnete,<br />
fast absurde Komödiantik wiederzuentdecken<br />
und mit adäquater inszenatorischer<br />
Feinfühligkeit herauszuarbeiten<br />
gilt.<br />
theaterfest-noe.at<br />
KONZERT<br />
20.30 Uhr<br />
Porgy & Bess,<br />
Riemergasse 11, 1010 Wien<br />
porgy.at<br />
7. AUGUST 2019<br />
MULTIINSTRUMENTALIST<br />
AUS ISRAEL<br />
Adam Ben Ezra, 1982 in Tel<br />
Aviv-Jaffa geboren, bespielt<br />
heute weltweit die besten Bühnen<br />
– und gilt zudem als „You-<br />
Tube-Sensation“. Mit seinem Instrument,<br />
dem Kontrabass, hat<br />
sich der Mittdreißiger in den<br />
vergangenen Jahren einen einzigartigen<br />
Platz er- und in die<br />
vordersten Reihen seiner Kunst<br />
gespielt. Ezra, der „daneben“<br />
bereits seit seiner Kindheit Violine,<br />
Klavier, Klarinette, Oud,<br />
Flöte und Cajon spielt und sich<br />
mit 16 Jahren in den reichen<br />
Klang „seines“ Instruments verliebt<br />
hat, zählt zu den inspiriertesten,<br />
kreativsten und konsequentesten<br />
Vertretern seines<br />
Faches. Nun präsentiert er in<br />
Wien u. a. sein Debütalbum Can<br />
not Stop Running – und sich<br />
selbst damit als sensiblen Komponisten<br />
ohne musikalische<br />
Grenzen.<br />
adambenezra.com<br />
© Oliver Toman; Lalo Jodlbauer; Anne Golaz; Ian Douglas (Folk Incest); Mátyás Erdély<br />
62 wına | Juli_August 2019
VON ANGELA HEIDE<br />
FOTOGRAFIE<br />
Kunst Haus Wien<br />
Untere Weißgerberstraße 13, 1030 Wien<br />
kunsthauswien.com<br />
FESTIVAL<br />
verschiedene Orte und<br />
Beginnzeiten in ganz Wien<br />
impulstanz.com<br />
BIS 25. AUGUST 2019<br />
LAND.BILD.LEBEN.<br />
Leben am Land: Die einen träumen<br />
davon, die anderen erzählen<br />
von seinen Härten. Die einen fliehen<br />
davor in die Stadt, die anderen<br />
suchen danach und verlassen<br />
dafür auch schon mal die Konsumversprechen<br />
des urbanen Lebens.<br />
Vorstellung und Wirklichkeit sind<br />
auch hier oft weit voneinander entfernt,<br />
und doch ist das Leben auf<br />
dem Land, sind Dorf, Natur und<br />
Abkehr von der Hektik der städtischen<br />
Dauerschleife Themen, die<br />
in den letzten Jahren vermehrt<br />
auch in allen Genres der Kunst ihren<br />
Raum finden. Mit der aktuellen<br />
Ausstellung Über Leben am Land<br />
versucht das KUNST HAUS WIEN<br />
einen facettenreichen und reflektierten<br />
Blick auf den vielschichtigen<br />
Komplex „Land-Leben“ und<br />
versammelt Arbeiten von 20 österreichischen<br />
und internationalen<br />
Künstler*innen, deren fotografische<br />
Positionen und Videoarbeiten<br />
sich auf dokumentarische, inszenierende,<br />
persönliche und künstlerische<br />
Weise den unterschiedlichen<br />
Realitäten der „Provinz“<br />
annähern.<br />
Mit Arbeiten von Toni Amengual, Iris Andraschek,<br />
Miia Autio, Anatoliy Babiychuk, Peter<br />
Braunholz, Heinz Cibulka, Philipp Ebeling,<br />
Petros Efstathiadis, Bernhard Fuchs,<br />
Patrick Galbats, Anne Golaz, Nilbar Güres,<br />
Lois Hechenblaikner, Laura Henno, Joel<br />
Karppanen, Paul Kranzler, Paul Albert Leitner,<br />
Igor Samolet, Eva Szombat, Tara Wray<br />
11.JULIBIS11.AUGUST2019<br />
#36: WIEN TANZT WIEDER<br />
Auch die diesjährige Ausgabe des internationalen<br />
Tanzfestivals ImPulsTanz<br />
lässt, abgesehen vom überbordenden<br />
Kursangebot, mit 36 österreichischen<br />
Erstaufführungen, 12 Projekten in der<br />
Nachwuchsschiene [8:tension], 6 Uraufführungen,<br />
4 „Klassikern“ und 2 Neuinszenierungen<br />
an 21 Spielstätten ganz<br />
Wien in einen sommerlichen Tanzrausch<br />
versinken. Ein besonderes Augenmerk<br />
liegt 2019 auf Projekten, die sich mit generationsübergreifenden<br />
Traumata, Holocaust,<br />
körper-/sprachlicher Identitätssuche<br />
und jüdischer Tradition befassen.<br />
So ist die New Yorker Choreografin Juliana<br />
F. May, Enkelin einer vor der NS-<br />
Verfolgung geflohenen Wiener Jüdin, mit<br />
der österreichischen Erstaufführung von<br />
Folk Incest (20.7., 22.30 Uhr; 22.7., 21<br />
Uhr, VOLX Margareten) ebenso zu Gast<br />
wie die argentinische Choreografin Lisi<br />
Estaras, die mit ihrer Monkey Mind Company<br />
ihr Jewish Connection Project präsentiert<br />
(28.7., 21 Uhr, Volkstheater). Der<br />
in Frankreich lebende südafrikanische<br />
Performancekünstler Steven Cohen, der<br />
sich in seinen multidisziplinären Arbeiten<br />
immer wieder polarisierend mit seiner<br />
Identität als „jüdischer, schwuler,<br />
weißer Mann“ befasst, lädt zur mehrtägigen<br />
„Feldforschung“ Body Scenography<br />
(5.–9.8., 10–16 Uhr, TQW), und<br />
der aus Israel stammende Tänzer, Musiker<br />
und Choreograf Zvi Gotheiner befasst<br />
sich in seinem Workshop Ballet for<br />
Contemporary Dancers mit Fragen eines<br />
zeitgenössischen Tanz-„Unterrichts“<br />
und lädt dazu ein, „alte pädagogische<br />
Kriege beizulegen“.<br />
Mehr dazu auf Seite 60<br />
THEATER<br />
19.30 Uhr<br />
Perner Insel, Hallein<br />
salzburgerfestspiele.at<br />
17. BIS 27. AUGUST 2019<br />
UNSTERBLICHER<br />
HUTSCHENSCHLEUDERER<br />
„Da ist etwas Unsterbliches. Wahr<br />
bleibt, daß dieser Macher hier den<br />
Allergrößten verwandt ist. Daß ein<br />
Trickhändler Wunderbares geschaffen<br />
hat“, schrieb der sonst (und auch<br />
hier) eigenwillig scharfzüngige große<br />
Theaterkritiker Alfred Kerr 1914 anlässlich<br />
einer Aufführung von Ferenc<br />
Molnárs Liliom. Das Stück war<br />
1909 anlässlich seiner Budapester<br />
Uraufführung durchgefallen und<br />
hatte dessen Autor in eine veritable<br />
Krise gestürzt. Erst die österreichische<br />
Erstaufführung in einer Übertragung<br />
Alfred Polgars brachte der<br />
traurig-schönen Vorstadtlegende<br />
1913 jenen Erfolg, der Liliom, den<br />
unbelehrbaren Prater-Ausrufer, bis<br />
heute nahezu ungebrochen begleitet.<br />
Molnár, der selbst aufgrund seiner<br />
jüdischen Herkunft von 1940 an<br />
bis zu seinem Tod in New York lebte,<br />
erlebte Hollywood-Verfilmung und<br />
Musical-Adaption seiner ursprünglich<br />
als Schlummermärchen erschienenen<br />
Geschichte. Kornél Mundruczó,<br />
einer der wichtigsten ungarischen<br />
Regisseure unserer Zeit, führt Regie<br />
bei dieser Koproduktion der Salzburger<br />
Festspiele mit dem Thalia Theater<br />
Hamburg. Hochkarätig besetzt,<br />
bleibt auch dieser Liliom hoffnungslos<br />
in einer Welt, die der Sprachlosigkeit<br />
jener, die „draußen stehen“, nur<br />
wenige Chancen schenkt.<br />
Haben auch Sie einen Veranstaltungstipp?<br />
Schreiben Sie uns einfach unter:<br />
wina.kulturkalender@gmail.com<br />
wına-magazin.at<br />
63
DAS LETZTE MAL<br />
Das letzte Mal ...<br />
gut behütet gefühlt haben wir<br />
uns …<br />
... zu unserer Hochzeit in<br />
Marokko, umzingelt von den<br />
100 Menschen, die wir am<br />
meisten auf dieser Welt lieben.<br />
Das letzte Mal, dass wir eine<br />
ganz besondere Kopfbedeckung<br />
trugen, war …<br />
... vor ein paar Jahren am Festival<br />
Burning Man, ein spirituelles<br />
Kunstfest in der Mitte der Wüste<br />
Nevadas, für das wir ganz besondere<br />
Hüte kreiert hatten.<br />
Das letzte Mal, dass wir keinen<br />
Hut dabei hatten, aber dringend<br />
einen gebraucht hätten, war …<br />
... zur Paris Fashion Week, bei<br />
der wir leider unsere Hüte zu<br />
Hause vergessen hatten.<br />
Es hat trotzdem geklappt, gute<br />
Kontakte zu machen.<br />
Das letzte Mal, dass wir an einem<br />
Ort gedacht haben, „hier könnten<br />
wir selbst als moderne Nomaden<br />
sesshaft werden“, war …<br />
... eigentlich immer mehr am<br />
Land, egal wo. Solange es grüne<br />
Natur und frische Luft gibt, fühlen<br />
wir uns dort wohl.<br />
Das letzte Mal auf etwas „den<br />
Hut draufg’haut“ haben wir ...<br />
Wir hauen nur mit Absicht auf den<br />
echten Nomade-Moderne-Hut, als<br />
künstlerischer Ausdruck. Sich so<br />
über etwas zu ärgern, dass man<br />
wirklich den Hut schmeißt, ist<br />
eine Zeitverschwendung. Da muss<br />
schon einiges schiefgehen, aber<br />
auch dann glauben wir eher daran,<br />
ihn wieder aufzuheben ... :-)<br />
DER ZEITVERSCHWENDER<br />
ARGER<br />
Es gibt für alles ein erstes Mal – aber auch ein letztes.<br />
Audrey und Nuriel Molcho vom Hutlabel Nomade Moderne berichten in<br />
diesem Monat von brennenden Männern, dem Sesshaftwerden<br />
und 100 liebenswerten Menschen.<br />
Weil sie die perfekte Kopfbedeckung nicht fanden, erlernten Nuriel Molcho<br />
und seine heutige Ehefrau Audrey einfach selbst den Job des Modisten – und<br />
gründeten das Label Nomade Moderne. Mittlerweile haben sie nicht nur<br />
einen kleinen Shop auf dem Naschmarkt, sondern liefern ihre individuellen<br />
Maßhüte mit Materialien aus der halben Welt in die halbe Welt.<br />
Eines sind ihre Kreationen, die stets ein gewolltes Makel wie eine<br />
ausgefranste Krempe oder kleine Brandmale haben,<br />
allerdings immer noch nicht: perfekt. Und das ist auch gut so.<br />
nomade-moderne.com<br />
© Valerie Voithofer<br />
64 wına| Juli_August 2019