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SPIRITUELLER PFAD<br />
WINA: Mr Kamenetz, Ihr Buch trägt den Untertitel<br />
„A Poet’s Rediscovery of Jewish Identity in Buddhist<br />
India“. Sie schreiben darin, die Begegnung mit<br />
dem Dalai Lama habe Sie verändert – auch als Jude.<br />
Gab es einen Schlüsselmoment?<br />
Rodger Kamenetz: Ich glaube, der Moment, in dem<br />
der Schlüssel umgedreht wurde, war jener, als der Dalai<br />
Lama fragte, wie unser inneres Leben als Juden<br />
aussehe. Eine charakteristisch-buddhistische Frage,<br />
gestellt aus persönlicher Neugier. Ich wusste darauf<br />
keine Antwort. Denn ich hatte mein Jüdischsein bis<br />
dahin nicht als Pfad der inneren Transformation erlebt,<br />
sondern primär als ethnische Identität empfunden.<br />
Die damit verbundenen Traditionen und Riten<br />
lebte ich entsprechend: oberflächlich, äußerlich, ohne<br />
Kawana. Kein Wunder, dass ich mich leer fühlte, verloren,<br />
haltlos. Noch dazu hatte ich einige Zeit zuvor<br />
ein Kind verloren, und meine Karriere als Schriftsteller<br />
stockte auch. Doch der Weg zu mir selbst und zur<br />
Heilung war damals etwas, das ich nicht im Glauben,<br />
sondern eher beim Psychiater gesucht hätte. Die<br />
Frage Seiner Heiligkeit hatte aber etwas in mir angestoßen.<br />
Ich fing an, Fragen zu stellen, die mir vorher<br />
nie in den Sinn gekommen waren: Wie machte das<br />
Judentum mein inneres Leben besser? Wie konnte<br />
ich darin Frieden finden? Und was bot mir meine<br />
Religion dafür an Hilfe an?<br />
Rodger Kamenetz<br />
„Ich hatte<br />
meinJüdischseinbisdahin<br />
nicht als Pfad<br />
der inneren<br />
Transformation<br />
erlebt, sondern<br />
primär<br />
als ethnische<br />
Identitätempfunden.“<br />
Welche Antworten haben Sie in Indien auf diese Fragen<br />
gefunden?<br />
❙ Im Haupttempel von Dharamsala gibt es einen<br />
Buddha, der vor einem Pool sitzt. Darin ist kein Wasser,<br />
sondern Nektar, klar und süß. Dieses Bild ist<br />
für mich zum Symbol unserer Reise geworden. Der<br />
Dialog mit dem Dalai Lama und den Buddhisten<br />
ließ mich – und natürlich auch alle anderen Mitglieder<br />
der Delegation – das Judentum durch ihre<br />
Widerspiegelung klarer und süßer sehen als je zuvor<br />
– ohne seinen historischen Ballast und die lange<br />
Geschichte des Antisemitismus, dafür voll spiritueller<br />
Weisheit. Seine Heiligkeit ließ mit seiner Wissbegierde<br />
die jüdische Tradition lebendig werden. Im<br />
Grunde haben wir nicht ihm das Geheimnis unseres<br />
spirituellen Überlebens im Exil verraten, er hat<br />
es uns aufgezeigt. Ich begann zu realisieren, wie sehr<br />
ich den Wert und die tiefgehende Kraft meiner eigenen<br />
Traditionen unterschätzt hatte – angefangen<br />
bei den Bräuchen über die Gebete bis hin zur jüdischen<br />
Meditation, zum Chanting und zur Kabbala-<br />
Mystik, von deren Existenz ich bis dahin kaum etwas<br />
gewusst hatte. Der buddhistische Blickwinkel<br />
auf das Judentum und die Gespräche haben mir aufgezeigt,<br />
dass meine Religion genau jenen spirituellen<br />
Pfad zu innerer Transformation bereithielt, den<br />
ich so lange vermisst und gesucht hatte.<br />
Sie sind nicht der Einzige, der weit reisen musste,<br />
um zu entdecken, was er zu Hause finden kann. Warum<br />
führt die Suche nach spiritueller Bereicherung<br />
noch immer viele junge Juden nach Fernost statt in<br />
die heimische Synagoge?<br />
❙ Tatsächlich lassen sich viele Elemente fernöstlicher<br />
Spiritualität auch im Judentum finden. Sie haben<br />
dort eine jahrtausendelange Tradition. Aus biblischen<br />
und selbst vorbiblischen Quellen ist zum Beispiel<br />
überliefert, dass die Meditation eine zentrale<br />
Bedeutung bei der prophetischen Erfahrung hatte.<br />
© Rodger Kamenetz<br />
10 wına| Juli_August 2019