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MEN T SCHEN: GERDA FREY<br />

„Im vereinten Europa<br />

ist Verwurzelung nicht so wichtig.“<br />

Gerda Frey erlebte als Kleinkind die Flucht vor den Nazis. Sie vertrat<br />

eine Frauenorganisation bei der UNO und gilt als scharfe Kritikerin des<br />

Rechtspopulismus. 2016 war sie in der Wahlkampagne für Alexander<br />

van der Bellen aktiv. Redaktion und Fotografie: Ronnie Niedermeyer<br />

WINA: 1938 flüchtete Ihre Familie von Mattersburg nach<br />

Ungvár (heute Uschhorod), die Heimatstadt Ihrer Mutter. Was<br />

sind Ihre ersten Erinnerungen?<br />

Gerda Frey: Ich war nur bis zu meinem 5. Lebensjahr in Ungvár<br />

und erinnere mich an liebende, etwas überforderte Großeltern<br />

sowie an den fröhlichen jüdischen Kindergarten. Aus<br />

diesem Kindergarten war ich das einzige Kind, das nicht in<br />

Auschwitz ermordet wurde.<br />

Wie gelang es Ihrer Familie, die Schoah zu überleben?<br />

❙ In Ungvár konnte man der Schoah nicht entkommen. 1942<br />

mussten wir die Stadt verlassen, Richtung Budapest. Zuerst<br />

waren wir in Internierungslagern untergebracht; 1944 wurden<br />

wir neun Monate lang von einer christlichen Familie in<br />

ihrer Wohnung versteckt. Während der Bombardierung Budapests<br />

haben wir mithilfe gefälschter Dokumente als „Flüchtlinge<br />

vor den russischen Truppen“ überlebt.<br />

Die Stationen Ihres frühen Lebens sind fast ein Palindrom:<br />

Wien – Mattersburg – Ungvár und Budapest – Mattersburg –<br />

Wien. Fühlen Sie sich in einer dieser Städte verwurzelt? Sind<br />

„Wurzeln“ überhaupt notwendig?<br />

❙ Eigentlich betrachte ich Wien als meine Heimat – hier bin<br />

ich seit meinem 14. Lebensjahr. Da wir glücklicherweise in<br />

einem vereinten Europa leben dürfen, ist eine Verwurzelung<br />

meiner Meinung nach nicht mehr so wichtig.<br />

In Ihrer Jugend verbrachten Sie ein Austauschjahr in Syracuse,<br />

New York. Sie bezeichnen diese Reise als derart<br />

prägend, dass auch Ihre viel später geborenen Kinder davon<br />

beeinflusst sind. Inwiefern?<br />

❙ Nach traurigen Kriegs- und Nachkriegsjahren wurde ich<br />

durch diese glückliche Auswahl in eine heile jüdische Großfamilie<br />

in den USA gehievt. Dort erlebte ich auch erstmals<br />

ein modernes jüdisches Leben – ohne die selbstverständlichen<br />

Zwänge, die mein tiefgläubiger, liebender Vater fühlte,<br />

ausüben zu müssen. Dieses positive, aktive, progressive Judentum<br />

hat auch meine Kinder und ihr späteres Leben geprägt.<br />

1956 erlebten Sie als Volontärin beim Roten Kreuz, wie infolge<br />

der ungarischen Revolution zahlreiche Flüchtlinge nach<br />

Wien kamen. Was waren für Sie die prägendsten Eindrücke<br />

dieser Zeit? Warum hat die hiesige Gesellschaft damals so<br />

anders reagiert als im Syrien-Krieg?<br />

❙ Als Studentin erlebte ich 1956 in Österreich eine großartige<br />

Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Dann kamen neuere<br />

Flüchtlingswellen. In Österreich ging es den Menschen wirtschaftlich<br />

immer besser – daher hatte man das Gefühl, durch<br />

„Teilen“ auch mehr zu verlieren. Die Kultur der angekommenen<br />

Menschen wurde im Laufe der Geschehnisse immer mehr<br />

als fremd wahrgenommen. Auch nahm das Einfühlungsvermögen<br />

vieler Menschen hier immer mehr ab.<br />

Wie entsteht ein solcher Rechtsruck, und was können wir<br />

dagegen tun?<br />

❙ Rechtspopulisten scheinen einfache Antworten auf die brennenden<br />

Fragen unserer Zeit parat zu haben. Sie teilen die Menschen<br />

bewusst in „wir“ und die „anderen“ ein. Dabei überhöhen<br />

sie das „wir“ und teilen diesem gleichzeitig eine Opferrolle<br />

zu, während ihre Ideologie jegliche Empathie den „anderen“<br />

gegenüber untergräbt. Ich kann nur hoffen, dass man in Kindergärten,Schulen,JugendorganisationenundSportvereinen<br />

den Kindern und Jugendlichen ein mitmenschliches Verhalten<br />

vorlebt und sie dies lernen.<br />

Was betrachten Sie als Ihr Lebenswerk?<br />

❙ Eine erfüllte Ehe. Söhne, die zu tollen, fühlenden Menschen<br />

heranwuchsen, die eine glückliche Hand in der Wahl<br />

ihrer Ehepartner bewiesen und ihrerseits wunderbare Familien<br />

gründeten. Und auch, dass es mir vergönnt war, als gebender<br />

Teil etliche jüdische wie auch nichtjüdische Organisationen<br />

mitgestalten zu dürfen.<br />

42 wına| Juli_August 2019

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