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URBAN LEGENDS<br />
Die Zeit der<br />
Hochstaplerinnen<br />
In Zeiten ebenso ominpräsenter wie undurchschaubarer Medienrealitäten<br />
und verschwimmender, wechselnder Identitätskonstruktionen geben<br />
zunehmend auch Frauen den Felix Krull.<br />
Sophie Roznblatt bringt Flüchtlingen Sex<br />
bei“, titelte der Bayerische Rundfunk im<br />
Mai 2017 reißerisch: Die Zeit hatte im<br />
Frühling 2017 einen Beitrag einer vermeintlich<br />
im Sozialbereich engagierten Autorin<br />
veröffentlicht. Das Problem mit dem Penis (so<br />
der Titel des erfundenen Berichts) entpuppte sich<br />
in Folge als ein etwas größeres Problem mit der<br />
Wahrheit. Hinter dem Pseudonym Sophie Roznblatt<br />
entdeckten die MedienmacherInnen jüngst<br />
eine promovierte Historikerin und Bloggerin, die es mit Fakt<br />
und Fiktion nicht so genau nahm. Auch der Geschichte einer<br />
von ihr gegründeten Slum-Klinik in Indien war in Folge<br />
nicht mehr zu trauen.<br />
Paul Divjak<br />
„Wir sind durch und durch veröffentlicht.<br />
Wir machen uns interessant und<br />
immer interessanter.“ Botho Strauß<br />
Einer Anwältin, einer Genealogin und einem Archivar waren<br />
Ungereimtheiten in der vorgeblichen Biografie aufgefallen,<br />
gemeinsam mit Der Spiegel hat man dann die Decouvrierung<br />
ins Rollen gebracht.<br />
Frau Hingst, eine preisgekrönte Bloggerin, hatte sich als<br />
eine Art weibliches Fabelwesen gleichsam als Wilkomirski-<br />
Relotius-Hybrid über Jahre als Nachfahrin von Holocaust-<br />
Opfern inszeniert, Stammbaum der ermordeten und überlebenden<br />
Ahnen sowie gefälschte Dokumente inklusive. Und<br />
selbst für Yad Vashem gilt es nun, die Datenbank wieder von<br />
22 von ihr eingetragenen falschen jüdischen Verwandten zu<br />
befreien.<br />
Die Hingst-Gespinste der Jüdischkeit basierten ausschließlich<br />
auf der Legitimierung ihrer Identität durch die Schoah.<br />
Das gelebte Judentum war kein Thema für die Frau, die die<br />
Tom-Kummer-Nummer (der Schweizer Journalisten war<br />
mit seinen erfundenen Geschichten über Hollywoodstars in<br />
den 1990er-Jahren der Prototyp des „Borderline-Journalismus“,<br />
wie er ihn nannte) und das Pathos liebte und Stereotypen<br />
bediente.<br />
Im März ist noch ein Bildband von der derzeit aus der Öffentlichkeit<br />
verschwundenen Autorin erschienen: Kunstgeschichte<br />
als Brotbelag. Um Fälschungen geht es auch hier: Die<br />
naive Verwurstung von bekannten Gemälden als vollbelegtes<br />
Abendbrot.<br />
„Das jüdische Leben wurde zur Folklore durch ein genau<br />
fixierbares, punktuelles und sehr junges Ereignis: den Völkermord“,<br />
schreibt Alain Finkielkraut in Der eingebildete Jude<br />
(Le juif imaginaire, 1980). Darin versuchte der Philosoph, die<br />
Erinnerung und das Gedächtnis zu beschwören. „Als Sohn<br />
von Überlebenden empfand ich mich als Erbe ihrer Leiden.<br />
Heute weiß ich, daß mit den letzten Überlebenden des Völkermordes<br />
eine Daseinsqualität verschwinden wird, die ich<br />
nicht erben werde.“ Darum wolle er „den Exhibitionismus<br />
durch die Erinnerung“ und den „Spontaneismus durch das<br />
Studium“ ersetzen, „um jenes Judentum kennenzulernen, das<br />
ich nicht in mir habe und dessen Abwesenheit ich nicht länger<br />
vergessen will mit Hilfe von Einbildungen und Prahlereien“.<br />
Für junge Juden, die nur mehr Relikte des Judentums kennen<br />
würden, die mehr in der Fiktion zu Hause sind, als „Bewohner<br />
des Irrealen“, schlug Finkielkraut die Bezeichnung<br />
„eingebildeter Jude“ vor.<br />
Dass eines Tages eine junge deutsche Historikerin aus dem<br />
ehemaligen Osten der Bundesrepublik Oliver Polaks Ulk-<br />
Song Komm, lasst uns alle Juden sein beim Wort nehmen und<br />
mit einer konstruierten imaginären Identität und falschen Erinnerungen<br />
operieren würde, um in der Mainstreamgesellschaft<br />
ihre vermeintliche Jüdischkeit als demonstrative Haltung<br />
und Marketingtool zu benützen, um Prosatexte, die sie<br />
freilich als Wahrheitsberichte ausgab, zu „authentifizieren“<br />
und sich Kritikern gegenüber in der Minderheitsnische der<br />
Behauptung unantastbar zu machen – und dergestalt nicht<br />
zuletzt Antisemitismen Vorschub leisten würde, hätte sich<br />
Finkielkraut wohl auch nicht träumen lassen.<br />
In Zeiten omnipräsenter Medienrealitäten und verschwimmender,<br />
wechselnder Identitätskonstruktionen geben zunehmend<br />
auch Frauen den Felix Krull. Wir erleben die (digitale)<br />
Emanzipation des Hochstapelns. Und die mediale Empörung<br />
ist ziemlich groß.<br />
Eine andere zu sein, gab zuletzt auch die Deutsche Anna<br />
Sorokin vor, die sich in New Yorks High Society und in den<br />
sozialen Medien als Millionenerbin „Anna Delvey“ inszenierte<br />
und jüngst zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt<br />
wurde. Vor Gericht meinte sie lapidar: „Ich würde Sie und<br />
alle anderen anlügen, wenn ich sagen würde, dass mir irgendetwas<br />
leidtun würde. Ich bedaure nur, wie ich bestimmte Sachen<br />
angegangen bin.“<br />
Ein Statement ganz im Sinne von Samuel Becketts zum<br />
Onlinegemeinplatz verkommenen Zitat aus Worstward Ho<br />
(1983): „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail<br />
again. Fail better.“<br />
Die starbesetzte Verfilmung der Geschichte ist jedenfalls<br />
bereits geplant. <br />
Zeichnung: Karin Fasching<br />
wına-magazin.at<br />
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