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Der Körper als Farbpalette<br />
Steven Cohen wurde 1962 in Johannesburg<br />
geboren und lebt im französischen Lille. Als visueller<br />
und performativer Künstler inszeniert er<br />
Interventionen im öffentlichen Raum und in Galerien<br />
und Theatern. Dabei beschäftigt er sich<br />
in seinem Schaffen immer mit der Komplexität<br />
seines eigenen Daseins – nämlich, ein jüdischer,<br />
schwuler, weißer Mann zu sein.<br />
Herr Cohen, warum haben Sie sich Performance<br />
und Tanz als Ihre künstlerische Ausdrucksweise<br />
ausgesucht?<br />
Ich bin ein Künstler. Und ich benutze verschiedene<br />
Medien, um meine Arbeiten zu machen.<br />
Performancekunst ist visuelle Kunst, und Tanz<br />
ist dabei eines meiner Werkzeuge. Dazu kommen<br />
auch materielle Objekte, die ich als Szenografie<br />
oder als Kostüm verwende, ebenso wie<br />
der Klang und jedes andere verfügbare Element,<br />
das von zeitlich bis räumlich reicht. Tanz<br />
hat wie Gesang einen besonderen Stellenwert<br />
im menschlichen Ausdruck, er ist die älteste<br />
Form der Anbetung – eine körperliche Manifestation,<br />
die aus der Seele spricht.<br />
Nacktheit spielt in Ihrer Arbeit eine große Rolle.<br />
Warum?<br />
Tatsächlich bin ich in meiner Arbeit niemals<br />
körperlich völlig nackt, nur emotional! Ich benutze<br />
Elemente strategischer Nacktheit, weil<br />
ich glaube, dass das, was ich ausziehe, genauso<br />
wichtig ist wie das, was ich trage. Ich<br />
bin auch nie unnötig nackt. Ich benutze<br />
das Fleisch, wie ein Maler die<br />
Farbe verwendet. Es ist ein Element<br />
einer Palette von Möglichkeiten. Da es<br />
in meiner Performancekunst um den<br />
Ausdruck meiner menschlichen Form<br />
geht, benutze ich so viel von meinem<br />
Körper, wie ich brauche, und das so<br />
klar, wie ich kann. Ich spreche mit meiner<br />
physischen Form; und Teile des<br />
Körpers in Bewegung zu zeigen, zeigt<br />
die Eloquenz unserer Anatomie. Jeder<br />
spricht physisch, das ist ein interkulturelles<br />
und universelles metasprachliches<br />
Vokabular. Ich lebe zurzeit in Frankreich<br />
und bin osteuropäischer Abstammung. Ich bin<br />
ein Aschkenase – im Gegensatz zu einem österreichischen<br />
Nationalsozialisten! Ich betrachte<br />
mich als gesegnet, die Chance zu haben zu geben,<br />
was mir gegeben wurde.<br />
Tanz bedeutet für Sie ganz persönlich:<br />
Eine Chance mein, Ich-Sein zu feiern – persönlich,<br />
künstlerisch, sozial, politisch. Und was das<br />
wiederum für uns bedeutet!<br />
ImPulsTanz<br />
11. Juli–11. August ’19<br />
impulstanz.com<br />
Affenstark. Lisi<br />
Estaras (vorne) sucht<br />
mit ihrer Companie<br />
Monkey Mind nach<br />
Indentitäten.<br />
Blanker Wahnsinn.<br />
Steven Cohen spielt<br />
mit emotionaler und<br />
körperlicher Nacktheit.<br />
Klappern im Kopf<br />
Die argentinische Choreografin Lisi Estaras<br />
begibt sich zusammen mit ihrem künstlerischen<br />
Partner Ido Batash auf die Suche nach<br />
einer jüdischen Identität von heute. Die musikalische<br />
Landschaft für The Jewish Connection<br />
Project bilden u. a. Auszüge aus Kompositionen<br />
von Richard Wagner.<br />
Frau Estaras, was genau ist der „Monkey<br />
Mind“ nach dem Ihre Company benannt ist?<br />
Es bezieht sich auf das endlose Klappern in<br />
unseren Köpfen. So wie wir von einem Gedanken<br />
zum nächsten springen, hüpfen die Affen<br />
chaotisch von Baum zu Baum ...<br />
Identitätssuche ist der Kern<br />
Ihres Stückes. Sind Sie Ihrer<br />
eigenen jüdischen Identität<br />
durch die Arbeit ein Stück<br />
näher gekommen? Oder ist<br />
es eine endlose Suche?<br />
Tatsächlich hinterfragt die<br />
Arbeit die Idee der Identität.<br />
Ist es etwas, das wir<br />
wählen oder das uns auferlegt<br />
wurde? Wir entdecken,<br />
dass Identität „flexibel“ ist<br />
und aus vielen kleinen Teilen besteht.<br />
Sie tanzen zu Wagner, der wegen seines offenen<br />
Antisemitismus umstritten ist. Eine Provokation<br />
oder der Versuch, Kunst und Künstler<br />
zu trennen?<br />
Wenn wir Wagner hören, ohne zu wissen,<br />
dass es Wagner ist, können wir sagen, dass<br />
es schöne Musik ist. Wenn wir wissen, dass<br />
es Wagner ist, fragen wir uns ständig, ob es<br />
in Ordnung ist, seine Musik zu genießen, wir<br />
spüren das Gewicht. Es provoziert Fragen und<br />
Unbehagen, und doch ...<br />
Sind Österreich und Deutschland aufgrund<br />
ihrer Vergangenheit ganz spezielle Spielorte<br />
für Ihr Stück?<br />
Ja. Geschichte ist immer präsent, unbestreitbar.<br />
Diese Arbeit in Wien zu zeigen, ist etwas<br />
ganz Besonderes. Es wird eine starke emotionale<br />
Erfahrung sein.<br />
Tanz bedeutet für Sie ganz persönlich ...<br />
... einen Weg, die Verwirrung und Freude auszudrücken,<br />
die wir alle teilen. Unsere Zerbrechlichkeit<br />
und Stärke als Menschen. Es<br />
ist der einzige Moment, in dem ich wirklich<br />
und frei sein kann.<br />
© Chris Waikiki; Ian Douglas; Thomas Dhanens; Pierre Planchenault<br />
wına-magazin.at<br />
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