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BUCKLIGE WELT WECHSELLAND<br />

Beschaulich ruhig ist es an diesem<br />

Sonntagvormittag auf der<br />

Hauptstraße 10 im niederösterreichischen<br />

Bad Erlach. Gut<br />

sichtbare Schilder in Blauweiß verweisen<br />

darauf, dass „das Museum“ heute geöffnet<br />

ist. Aber dies ist kein übliches Regionalmuseum,<br />

es ist das ehemalige Geschäftsund<br />

Wohnhaus der jüdischen Familie Max<br />

Hacker. Mit seinen drei Räumen ist es<br />

Schauplatz der Dauerausstellung im Zeitgeschichtemuseum<br />

der 3.108 Einwohner<br />

zählenden Marktgemeinde, zehn Kilometer<br />

südlich von Wiener Neustadt.<br />

Zwei Besucherpaare wandern umher,<br />

eine Dame steht vor einem Glaskasten<br />

mit einem wunderschönen Schofar, dem<br />

traditionellen Widderhorn, das bereits in<br />

der Bibel als rituelles Musikinstrument erwähnt<br />

wird. In der Erlacher Privatsynagoge<br />

wurde dieser Schofar von Leopold<br />

Hacker, dem Sohn des Synagogengründers<br />

Simon, geblasen. Zum jüdischen Neujahr<br />

am 14. September 1939 schickte Leopold<br />

das Horn seinem Neffen Manfred<br />

Ehrenreich an dessen Fluchtort Nizza.<br />

Dieser Neffe, seine Frau und weitere Verwandte<br />

wurden in der Schoah ermordet.<br />

Doch der Schofar ging nicht verloren, sondern<br />

kehrte jetzt als Leihgabe nach Bad<br />

Erlach zurück: Dank Simon Hackers Urenkelin<br />

Dr. Lieselotte Kastner, die mit ihrer<br />

Familie in London lebt, ist das vielgewanderte<br />

Objekt hier zu sehen. Ihre Söhne Robert<br />

und Raphael Kastner setzen in dritter<br />

und vierter Generation die Familientradition<br />

des Schofarblasens fort.<br />

„Diese Objekte, die mit den überlebenden<br />

Menschen mitgegangen sind, tragen<br />

so viele Erinnerungen in sich – manchmal<br />

quer durch die Welt“, sinniert Martha<br />

Keil, Kuratorin der Dauerausstellung sowie<br />

der Wechselausstellung Mit ohne Juden<br />

(bis 19. März 2021), die in der angebauten<br />

gläsernen Ellipse jüdische Lebenswelten<br />

in der gesamten Region Bucklige Welt<br />

und Wechselland vor 1938 zeigt. In 21<br />

Ortschaften existierte ein religiös-traditionelles,<br />

kulturell aufgeschlossenes und<br />

sozial engagiertes Landjudentum. „Die<br />

meisten jüdischen Familien der Region<br />

stammten aus Westungarn, dem heutigen<br />

Burgenland“, erzählt Keil. „Man lebte<br />

nicht in einem ‚Stetl‘, sondern teilte die<br />

Kultur der Umgebung.“ Kaschrut und<br />

Feiertage wurden allerdings streng eingehalten.<br />

In Erlach und in Krumbach errichteten<br />

die Familien Hacker und Blum<br />

private Synagogen, die organisatorisch zu<br />

Das Hacker Haus<br />

in Bad Erlach<br />

Das neue Museum für Zeitgeschichte wird zum<br />

Zentrum der Erinnerung an 21 niederösterreichische<br />

Gemeinden, in denen Juden vor 1938 lebten.<br />

Reportage: Marta S. Halpert<br />

den Kultusgemeinden Wiener Neustadt<br />

und Neunkirchen gehörten.<br />

Die Geschichte des heutigen Museums<br />

für Zeitgeschichte im Hacker Haus<br />

beginnt im Jahr 2016 mit dem Start des<br />

Forschungsprojekts Die jüdische BevölkerungderRegionBuckligeWelt<br />

–Wechselland.<br />

Mit Unterstützung des Landes Niederösterreich<br />

und der EU (Leader+) wird in diesem<br />

Jahr ein Projekt initiiert, bei dem die<br />

Geschichte der jüdischen Bevölkerung in<br />

26 Gemeinden der Region von 1848 bis zu<br />

deren Verfolgung, Vertreibung und Ermordung<br />

in den Jahren ab 1938 erforscht wird.<br />

Unter der Leitung von Johann Hagenhofer,<br />

Gert Dressel und Werner Sulzgruber<br />

arbeitet ein 18-köpfiges Forschungsteam<br />

an diesem erst- und einmaligem Projekt.<br />

Das 2019 erschienene Buch Eine versunkene<br />

Welt. Jüdisches Leben in der Buckligen<br />

Welt - Wechselland, das auch Interviews mit<br />

noch lebenden Zeitzeugen enthält, ist eines<br />

der Ergebnisse.<br />

Durch diese Forschungsarbeit angeregt,<br />

wurde 2017 auf Initiative von ÖVP-<br />

Nationalrat und Bürgermeister Johann<br />

Rädler das ehemalige Wohnhaus der Familie<br />

Max Hackers von der Marktgemeinde<br />

Bad Erlach angekauft, um darin<br />

ein Zeitgeschichtemuseum einzurichten.<br />

„Ich wurde kurzfristig mit beiden Ausstellungen<br />

betraut, weil ein anderer Kurator<br />

ausgefallen war. Ich hatte nur 13<br />

Monate, das ist ziemlich knapp. Aber da<br />

die Vorarbeiten durch das Forschungsprojekt<br />

geleistet waren und mit der fantastischen<br />

Mitwirkung der zuständigen<br />

Rechercheure und der Nachkommen der<br />

vertriebenen Familien war es zu bewerkstelligen“,<br />

berichtet Martha Keil, Leiterin<br />

des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs<br />

(INJOEST) in St. Pölten.<br />

54 wına| Juli_August 2019

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