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LEBEN IM VERBORGENEN<br />

Existenzen, die sich dahinter, im Schatten abgespielt<br />

haben. Es hat Personen gegeben, die sich eine illegale<br />

Identität verschafft haben. Es hat Personen gegeben,<br />

die versucht haben, ihre Einordnung im Rahmen der<br />

Nürnberger Rassegesetze zu verändern, also von einem<br />

„Volljuden“ zu einem „Mischling 1. Grades“ zu<br />

werden. Es hat Familien gegeben, wo die Frauen dann<br />

angeführt haben, dass der Vater gar nicht der Vater war,<br />

einfach um für die Kinder eine bessere Einordnung<br />

zu bekommen. Ich habe jüdische U-Boote in meiner<br />

Kartei aufgenommen beziehungsweise dann in<br />

den Statistiken behandelt, die hauptsächlich in Wien<br />

im Verborgenen gelebt haben, unabhängig von der<br />

Staatsbürgerschaft. Ein prominenter Fall zum Beispiel<br />

waren Dorothea Neff und Lilli Wolff, sie waren<br />

beide deutsche Staatsbürgerinnen.<br />

Wie viele Menschen haben Sie gefunden, die in Wien<br />

als U-Boot gelebt haben, und wie viele Menschen haben<br />

das Kriegsende auch erlebt?<br />

❙ Ich habe etwa 1.500 Personen, die in die Kategorie<br />

fallen, die ich behandelt habe, gefunden. Bei ungefähr<br />

einem Drittel ist es beim Versuch geblieben.<br />

Sie wurden aus den verschiedensten Gründen aufgegriffen,<br />

festgenommen und kamen dann eben in die<br />

Mühlen der NS-Behörden. Einige wenige haben das<br />

dann überlebt, aber ein Großteil dieser Aufgegriffenen<br />

ist genauso deportiert und ermordet worden wie<br />

viele andere auch.<br />

Das heißt, ungefähr 1.000 Menschen haben als U-<br />

Boot oder mit einer falschen Identität in Wien überlebt.<br />

❙ Ja. Es gibt unter diesen 1.000 Menschen, die überlebt<br />

haben, noch eine Gruppe von Personen, hauptsächlich<br />

Männer und hauptsächlich Personen, die entweder<br />

als „Geltungsjuden“ oder als „Mischlinge“ eingeordnet<br />

waren, die ab Herbst 1944 versucht haben, von<br />

der Bildfläche zu verschwinden. Das ging damit zusammen,<br />

dass ab diesem Zeitpunkt vor allem jüngere<br />

Männer rekrutiert wurden zum Schanzen Graben –<br />

im Burgenland zum Beispiel, in der Steiermark. Mein<br />

Vater war zum Beispiel beim so genannten Schanzenbau<br />

und war dann ein paar Monate dort zwangsverpflichtet.<br />

Der frühere Präsident der Kultusgemeinde,<br />

Paul Grosz, sollte sich auch melden und ist damals<br />

mit seinem Vater in die Castellezgasse zu dieser Meldestelle<br />

gegangen. Er hat aber dann mit seinem Vater<br />

einen Weg gefunden, wegzugehen von dort, und war<br />

dann von dem Zeitpunkt an versteckt.<br />

Sie haben Ihren Vater erwähnt – hat er auch in Wien<br />

überlebt?<br />

❙ Mein Vater hat hier überlebt, aber eben nicht als U-<br />

Boot, er war so genannter „Mischling 1. Grades“, er<br />

war eine Zeit lang als Totengräber am Zentralfriedhof,<br />

dann war er als Kürschner zwangsverpflichtet und<br />

30 wına| Juli_August 2019<br />

BUCHTIPP<br />

Brigitte Ungar-Klein:<br />

Schattenexistenz.<br />

Jüdische U-Boote in Wien<br />

1938−1945.<br />

Picus Verlag 2019,<br />

367 Seiten, € 28<br />

„Die Betroffenen<br />

haben<br />

wirklichJahre<br />

lang um Anerkennung<br />

ringen müssen,<br />

wie überhaupt<br />

Juden als Opfer<br />

spät anerkannt<br />

wurden.“<br />

dann ein paar Monate beim so genannten Schanzen<br />

eingeteilt.<br />

Ihr Vater war also bedroht, konnte aber offiziell hier<br />

überleben.<br />

❙ So ist es, er war offiziell gemeldet. Es haben ja zwischen<br />

5.000 und 5.500 Juden hier das Kriegsende<br />

erlebt, das waren zum Großteil Personen, die in<br />

„Mischehen“ gelebt haben, die eben einen Status als<br />

„Geltungsjuden“ gehabt haben, Arik Brauer war zum<br />

Beispiel ein so genannter „Geltungsjude“.<br />

Wer fiel denn in die Kategorie „Mischling“, wer in die<br />

Kategorie „Geltungsjude“?<br />

❙ „Mischling 1. Grades“ war jemand, der einen jüdischen<br />

und einen nicht-jüdischen Elternteil hatte und<br />

nicht in der Kultusgemeinde eingeschrieben war, das<br />

heißt, kein Glaubensjude war, und zwar zum Zeitpunkt<br />

des Inkrafttretens der Nürnberger Rassegesetze<br />

1935, was natürlich für die österreichische jüdische<br />

Bevölkerung sehr prekär war, denn wie sollten die<br />

1935 schon wissen, was auf sie zukommt. Bei meinen<br />

Großeltern und bei meinem Vater war der Fall so gelagert,<br />

dass sie – ich nehme an, aus politischen Gründen<br />

– etwa 1927 aus der Kultusgemeinde ausgetreten<br />

sind, und daher war mein Vater so genannter „Mischling<br />

1. Grades“. „Geltungsjuden“ sind hingegen in der<br />

Kultusgemeinde eingeschrieben gewesen.<br />

Menschen überlebten Jahre ohne medizinische Versorgung,<br />

ohne regelmäßiges Essen, in Angst, teilweise<br />

ohne fixes Dach über dem Kopf, ohne Heizung,<br />

ohne Sanitäranlagen. Doch nach dem Krieg wurde<br />

ihnen abgesprochen, Opfer zu sein. Wie lange hat es<br />

gedauert, bis auch die U-Boote als Opfer, die es zu<br />

entschädigen gilt, anerkannt wurden?<br />

❙ Erst mit der 12. Novelle des Opferfürsorgegesetzes<br />

wurden U-Boote 1961 finanziell entschädigt. Der<br />

behördliche Terminus ist Leben im Verborgenen.<br />

Dieses musste in menschenunwürdigen Bedingungen<br />

vonstattengegangen sein. Die Betroffenen haben<br />

wirklich Jahre lang um Anerkennung ringen müssen,<br />

wie überhaupt Juden als Opfer spät anerkannt wurden.<br />

Das Opferfürsorgegesetz hat es ja schon relativ<br />

bald nach Kriegsende gegeben, und Juden waren<br />

gar nicht berücksichtigt, weil es darum gegangen ist,<br />

dass man für ein freies, demokratisches, unabhängiges<br />

Österreich gekämpft haben musste. Auch eine der<br />

bekanntesten Helferinnen, Dr. Ella Lingens, musste<br />

über viele Jahre kämpfen, um eine Entschädigung für<br />

ihren Aufenthalt in Auschwitz und in anderen Lagern<br />

zu bekommen.<br />

1961 kam es also zu dieser Novellierung. Wurden<br />

dann alle U-Boote entschädigt?<br />

❙ Wenn man für die Opferfürsorge eingereicht hat,<br />

musste man eine Art Erlebnisbericht verfassen, man

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