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WAHRNEHMUNG DER GEDANKEN<br />

© Manfred Witt/picturedesk.com<br />

Jahre lang und beschloss, nach Indien<br />

zu gehen, um sein Wissen weiterzugeben.<br />

Dort fehlte ihm aber die religiöse<br />

Autorität – Anhänger des Hinduismus<br />

fühlten sich nicht angesprochen. Sinnsuchende<br />

aus westlichen Ländern fanden<br />

seine Meditationstechnik<br />

dagegen attraktiv, unter ihnen<br />

auch einige Juden aus den USA.<br />

Jene, die sich vom Buddhismus<br />

angesprochen fühlten,<br />

waren meist säkular lebende<br />

Juden, sagt der Religionswissenschaftler<br />

Jeff Wilson, der<br />

2014 das Buch Mindful America<br />

herausbrachte. Er weist<br />

zudem auf eine Parallele zwischen<br />

Buddhismus und Psychoanalyse<br />

hin: Beide orten die<br />

Quelle von Leiden in der Seele.<br />

Hier setzten Kabat-Zinn, Goleman,<br />

Salzberg und Co. teilweise<br />

unabhängig voneinander<br />

an. Kabat-Zinn gründete 1979<br />

eine Stress Reduction Clinic in<br />

Massachusetts, wo er begann,<br />

sein Programm der achtsamkeitsbasierten<br />

Stressreduktion<br />

(MBSR – Mindfulness-Based<br />

Stress Reduction) zu vermitteln. Die darin<br />

enthaltenen Übungen setzen sich aus<br />

Hatha Yoga, Vipassana und Zen zusammen.<br />

1995 etablierte er, ebenfalls in Massachusetts,<br />

ein Zentrum für Achtsamkeit<br />

in Medizin, Gesundheitswesen und<br />

Gesellschaft.<br />

Sieht man sich die Publikationen Kabat-Zinns<br />

an (einige von ihnen liegen<br />

auch in deutscher Übersetzung vor),<br />

fällt der Aspekt des Selbstheilens auf.<br />

Gesund durch Meditation. Das große Buch<br />

der Selbstheilung mit MBSR nennt sich<br />

zum Beispiel eines seiner Standardwerke.<br />

Sein deutscher Verlag Knaur unterstreicht,<br />

ihm sei es als Erstem gelungen,<br />

die Achtsamkeitspraxis systematisch in<br />

die medizinische Praxis zu integrieren.<br />

In einer Einführung in die MBSR-<br />

Praxis umreißt Kabat-Zinn den Unterschied<br />

zwischen seiner Methode und<br />

anderen Meditationspraktiken. „In der<br />

Übung von Achtsamkeit macht man anfangs<br />

Gebrauch von einer eingerichteten<br />

Aufmerksamkeit, um Ruhe und Beständigkeit<br />

zu kultivieren, doch anschließend<br />

geht man darüber hinaus, indem man die<br />

Objekte der Beobachtung erweitert sowie<br />

ein Element des Erforschens einbringt.<br />

Wenn Gedanken oder Gefühle<br />

entstehen, ignoriert man sie nicht, noch<br />

unterdrückt man sie, noch analysiert oder<br />

beurteilt man ihren Inhalt. Stattdessen betrachtet<br />

man sie, absichtlich und so gut<br />

man kann, ohne sie zu bewerten, wie sie<br />

von Moment zu Moment als Ereignisse<br />

im Feld des Gewahrsams entstehen. Ironischerweise<br />

führt diese umfassende Wahrnehmung<br />

der Gedanken, die im Geist entstehen<br />

und vergehen, dazu, dass man sich<br />

weniger in ihnen verstrickt. Der Beobachter<br />

erhält einen tieferen Einblick in seine<br />

Reaktionsweisen auf das Alltägliche und<br />

auf Schwierigkeiten. Indem die Gedanken<br />

und Gefühle aus einem gewissen Abstand<br />

heraus betrachtet werden, kann klarer erkannt<br />

werden, was tatsächlich im Geist<br />

abläuft. Es wird gesehen, wie ein Gedanke<br />

nach dem anderen entsteht und vergeht.<br />

Man kann den Inhalt der Gedanken benennen,<br />

die Gefühle, die mit ihnen verbunden<br />

sind, und dann auch die Reaktionen<br />

auf diese Gefühle.“<br />

Kabat-Zinn arbeitet auch bei dem 1990<br />

vom Dalai Lama ins Leben gerufenen<br />

Mind and Life Institute in Virginia mit.<br />

Ziel der Organisation ist es, einen Dialog<br />

zwischen moderner Wissenschaft und<br />

Buddhismus zu fördern, um die Möglichkeiten<br />

und Einsichten, die sich aus einem<br />

solchen Dialog ergeben können, zu erforschen.<br />

Einer, der ebenfalls an den Konferenzen<br />

dieser Einrichtung beteiligt ist,<br />

ist Daniel Goleman. Auch er setzt auf die<br />

heilende Kraft der Gefühle und ist sich<br />

sicher, dass destruktive Emotionen überwunden<br />

werden können. Sharon Salzberg,<br />

Jack Kornfield und Joseph Goldstein wiederum<br />

gründeten in den 1970er-Jahren in<br />

Massachusetts die Insight Meditation Society.<br />

Sie widmet sich dem Studium des<br />

Buddhismus und vermittelt in Klausuren<br />

Meditationstechniken.<br />

Interessant ist, dass das Thema Achtsamkeit<br />

inzwischen auch aus jüdischer religiöser<br />

Perspektive beleuchtet und eingesetzt<br />

wird. Dieses Frühjahr veröffentlichte<br />

Rabbiner Benjamin Epstein das Buch Living<br />

in the Presence: A Jewish Mindfulness<br />

Guide to Everyday Life. Er betont, dass die<br />

psychologische Forschung gezeigt habe,<br />

dass es ebenso wichtig ist, in der Gegenwart<br />

zu leben, wie zu atmen, zu essen und<br />

zu schlafen. Es mache Menschen krank,<br />

wenn sie die Vergangenheit bedauern<br />

oder die Zukunft fürchten. „Wenn wir<br />

konstant woanders leben als in der Gegenwart,<br />

können wir emotional nicht<br />

überleben“, meint Epstein.<br />

Was allen Achtsamkeitsvertretern gemeinsam<br />

ist: Sie legen den Fokus auf das<br />

Hier und Jetzt. Sie lehren, wie man im<br />

Moment lebt und sich auf diesen konzentriert.<br />

Sie leiten an, wie durch das Besinnen<br />

auf vermeintlich Kleines mehr Klarheit<br />

im Blick auf das Ganze entsteht. Dass<br />

große Firmen inzwischen auf Achtsamkeitstrainings<br />

setzen, zeigt, dass durch<br />

Achtsamkeit am Ende auch effizienteres<br />

Arbeiten möglich gemacht wird. Es ist allerdings<br />

zu bezweifeln, dass dies im Sinn<br />

von Kabat-Zinn, Goleman oder Salzberg<br />

ist. Sie setzen auf Achtsamkeit, um zu einer<br />

inneren Ausgeglichenheit und in der<br />

Folge auch zu einer besseren Gesundheit<br />

zu kommen. Ihnen geht es um das Individuum<br />

und dessen besseren Umgang<br />

mit allem, womit es konfrontiert ist – und<br />

nicht um das Optimieren etwa von Arbeitsabläufen<br />

oder eine Anleitung, wie<br />

die einzelne Person künftig alles anders<br />

macht.<br />

Hier sei nochmals Kabat-Zinn zitiert:<br />

„Viele Leute denken, dass das Ziel der<br />

Meditation darin bestünde, die Wellen zu<br />

verhindern, so dass die Oberfläche flach,<br />

friedlich und ruhig wird. Doch dies ist<br />

eine irreführende Vorstellung. Viel besser<br />

wird der wahre Geist der Achtsamkeitspraxis<br />

von folgendem Bild illustriert, das<br />

mir einst jemand beschrieb: Es zeigt einen<br />

etwa 70-jährigen Yogi, Swami Satchidananda,<br />

wie er, mit weißem Rauschebart<br />

und wehenden Roben, auf einem Surfbrett<br />

stehend in Hawaii auf einer Welle<br />

reitet. Die Überschrift lautete: ‚Du kannst<br />

die Wellen nicht stoppen, aber du kannst<br />

lernen, sie zu reiten.‘ “ <br />

wına-magazin.at<br />

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