REPORT Mareile Vander Wyst ist stolz auf ihren Geburtsort. So stolz, dasssogar ein Foto des Gebäudes ihre Visitenkarte ziert.„Ich bin ein Reichstagsbaby. Dasist einfach eine irre Geschichte“, erzählt die lebenslustige Rentnerin.
SEITE23 BERLINER KURIER, Freitag, 6. September 2019 GeborenimReichstag, Bunker-Etage! Im Krieg gabeshier eine Geburtsstation, Sonntag treffen sich die Babys von damals Walter Waligorawurde am 8. September 1943 im Reichstagsgebäude geboren. Am Sonntag feiert er seinen 76.Geburtstag an seinem Geburtsort– dem Reichstag. Von TANJABRANDES Berlin – Im Zweiten Weltkrieg befand sich im Reichstag eine Geburtsstation der Charité. Etliche Kinder kamen hier in den letzten Kriegsjahren zur Welt – so wie Walter Waligora und Mareile Van der Wyst. Walter Waligora muss 14 oder 15 Jahre alt gewesen sein, als er mit seiner Klasse das Reichstagsgebäude besuchte. Da, sagt er, sei er doch ein klein bisschen stolz gewesen. „Hier bin ich geboren“, habe er damals zu seinen Kumpels gesagt. Die trauten ihren Ohren kaum. Walter Waligora sitzt auf dem Sofa in seiner Spandauer Wohnung. Er ist ein großer Mann mit breitem Kreuz, um seine Beine schleicht Kater Billy und guckt misstrauisch. Waligora hat sein ganzes Leben in Berlin verbracht, davon mehr als 20 Jahre in Spandau. In die Mitte der Stadt kommen er und seine Frau selten, im Nikolaiviertel sind sie ein paar Mal gewesen. Und auch an dem Ort, der wie wenige andere das deutsch-deutsche Schicksal symbolisiert, und an dem Walter Waligora zur Welt Der brennende Reichstag von 1933, Symbol deutscher Geschichte. kam, am 8. September vor fast 76 Jahren. „Als es bei meiner Mutter losging, war wahrscheinlich gerade Luftschutzalarm –also hat sie sich aufgemacht zum Reichstag.“ Die Familie wohnte damals in Tiergarten, in der Lübecker Straße, Ecke Birkenstraße. In den Kriegsjahren suchten viele <strong>Berliner</strong> aus den umliegenden Vierteln in den Kellerräumen unter dem Reichstag Schutz. Bis heute ist nicht geklärt, ob es zwischen 1943 und 1945 im Reichstagsbunker eine richtige gynäkologische Station gab oder ob lediglich Bunkerräume für Wöchnerinnen ausgebaut wurden. Nicht einmal die genaue Lage der Station im Keller, dessen Räumlichkeiten durch Umbauten inzwischen verändert wurden, ist bekannt. Sicher ist, dass hier in den Kriegsjahren etliche <strong>Berliner</strong> zur Welt kamen, Schätzungen zufolge zwischen 60 und 80. Bei den Reichstagskindern jedenfalls steht „Im Reichstagsgebäude“ als Ortsangabe auf ihren Geburtsurkunden. Mareile Van der Wyst bewahrt ihre Geburtsurkunde im Safe auf. „Meine Eltern wohnten damals in Lichtenberg“, schildert Van der Wyst die Situation ihrer Familie 1944. „Tagelang pendelte meine hochschwangere Mutter jeden Abend in den Reichstagsbunker und morgens wieder zurück in die Wohnung.“ Das sind zehn Kilometer hin und zehn Kilometer wieder zurück.“ Schließlich entband die Mutter ein gesundes Töchterchen und nannte es Mareile. Auch auf der Urkunde von Walter Waligora steht es schwarz auf weiß. Seine Mutter, vermutet er, muss die knapp drei Kilometer von ihrem Zuhause zum Reichstag zu Fuß zurückgelegt haben. „Eine andere Möglichkeit gab es ja ei- Fotos: Ullstein, dpa, Gudath gentlich nicht.“ Wie es für sie gewesen sein muss, hochschwanger und mit einsetzenden Wehen durch die Straßen zu laufen, in Angst vor einem bevorstehenden Luftangriff, kann Walter Waligora nur ahnen. Genau weiß er es nicht –er hat mit seiner Mutter nicht darüber gesprochen. Auch sein ungewöhnlicher Geburtsort interessierte ihn lange nicht besonders. Für Waligora waren damals andere Dinge wichtig. Den größten Teil der Schulzeit verbrachten er und sein älterer Bruder in der Lübecker Straße. Mit seinen Freunden zog Waligora durch die Straßen, spielte in den Ruinen. Dass sie oft baden gingen, im Plötzensee, das weiß er auch noch. Eine normale Kindheit im Nachkriegsberlin. „Und gekloppt haben sie sich“, sagt seine Frau. Dabei sei er eigentlich eher der Typ, der Streit aus dem Weg geht, sagt Waligora. Später wagte es wohl ohnehin kaum jemand mehr, sich mit ihm anzulegen: Mit 14 Jahren fing Waligora mit dem Boxen an. Bis zu seinem 20. Lebensjahr bestritt er 78 Amateurwettkämpfe. „Das war eine schöne Zeit!“ Später lernte Waligora Industriestraßenbauer und fing bei der Straßenaufsicht in Spandau an. Hier ist sein Lebensmittelpunkt und der Reichstag weit weg. Im Frühjahr 2019 aber liest seine Frau in der Zeitung einen vom Bundestagsabgeordneten Peter Stein initiierten Aufruf: Bürger, die während des Zweiten Weltkrieges im Reichstag geboren wurden, sollen sich melden. Walter Waligora ist einer von 14 Personen, die dem Aufruf folgen; unter ihnen ist auch eine Frau, die ihre Tochter im Reichstag entbunden hat –mit eben dieser Tochter. Am Sonntag sind die Waligoras mit anderen „Reichstagskindern“ im Bundestag zu Gast. Sie werden von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble begrüßt und bekommen eine Führung. Für Waligora ist es ein doppelt besonderer Tag, schließlich wird Walter Waligora am Sonntag 76 Jahre alt.