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Unterwegs im Namen des Herrn: Maria, Mutter Jesu, ziertdas Heckfenster<br />
des VW-Busses des Bonifatiuswerks.<br />
„Vier Schritte nach<br />
vorne, drei Schritte<br />
zur Seite, vorbei an<br />
einem Tisch, einem<br />
Stuhl, dem Waschbecken<br />
und dem Klo.“<br />
So beschreibt Torsten<br />
Hartung seine Zelle<br />
in Tegel.<br />
Für mich stand fest: Das mit<br />
dem Wunsch ist voll in die Hose<br />
gegangen!“ Seine Freundin<br />
sah das anders: Du bist nicht<br />
tot, weil Gott noch was mit dir<br />
vorhat. „Sie hatte recht. Doch<br />
das begriff ich erst später.“<br />
Im Oktober 1992 wurde er<br />
festgenommen, auf der Fähre<br />
von Sassnitz nach Trelleborg.<br />
Antje trennte sich endgültig<br />
von ihm. Der Festnahme<br />
schloss sich eine U-Haft in einer<br />
Einzelzelle an. Die Staatsanwaltschaft<br />
wollte verhindern,<br />
dass er Kontakt zu seinen<br />
Komplizen hält.<br />
Mehrere Prozesse folgten.<br />
Die Tage zogen sich dahin. Das<br />
Tagebuch wurde sein bester<br />
Freund.<br />
Im November 1998 wurde<br />
Hartung wegen Mordes, unerlaubten<br />
Waffenbesitzes und<br />
räuberischer Erpressung zu 15<br />
Jahren Gefängnis verurteilt.<br />
Ein halbes Jahr zuvor hatte<br />
sich ihm zufolge etwas ereignet,<br />
das sein Leben von Grund<br />
auf änderte. Es war der 15. Mai,<br />
16 Uhr: „Ich lag auf meiner<br />
Pritsche und hatte wegen der<br />
Sonne ein Laken vor das Gitter<br />
gehängt. Da blähte sich der<br />
Stoff wie ein Segel auf, drückte<br />
sich einen Moment gegen die<br />
Gitterstäbe und ich sah den<br />
Schatten des Fenster- Kreuzes.<br />
Ich bekam Gänsehaut und hörte<br />
mich rufen: Gott, wenn es<br />
dich gibt, dann gib mir ein Zeichen,<br />
schenke mir ein neues<br />
Leben! Ich bin ein böser<br />
Mensch. So will ich nicht länger<br />
leben.“<br />
Dann habe er geweint –und<br />
plötzlich eine Stimme gehört:<br />
Ich weiß!<br />
„Plötzlich war meine Zelle<br />
kein Gefängnis mehr“, sagt<br />
Hartung. „Ich fühlte mich so<br />
frei wie nie zuvor.“ Von da an<br />
studierte Hartung die Bibel,<br />
verzichtete auf Freigänge, ließ<br />
sich sogar früher einschließen,<br />
um mehr Zeit zum Lesen zu<br />
haben. „Ich brauchte sehr viel<br />
Zeit für mich. Tief in mir fühlte<br />
ich das begangene Unrecht, betete<br />
und bereute meine Taten.“<br />
Acht Jahre nach dem Mord<br />
ließ er sich in der katholischen<br />
Gefängniskirche taufen.<br />
Nach 5510 Tagen war er ein<br />
freier Mann, mit 750 Euro in<br />
der Tasche und dem Vorsatz<br />
„Hierher will ich nie zurück!“<br />
Als ihm Tage später ein alter<br />
Kumpel einen „Traumjob“ anbot,<br />
lehnte er ab.<br />
Stattdessen nahm er das Angebot<br />
eines Pfarrers an, eine<br />
Pilgerreise nach Bosnien zu<br />
unternehmen. Am Flughafen<br />
Schönefeld wurde er festgenommen.<br />
Man hatte vergessen,<br />
ihn aus dem Fahndungsregister<br />
zu löschen. Nach zwanzig<br />
Minuten war das Missverständnis<br />
aufgeklärt.<br />
„Von nun an fügte sich alles<br />
zusammen“, sagt Hartung,<br />
„weil Gott es so wollte.“<br />
Ein mitreisender Priester aus<br />
Südkorea lud ihn ein, um seine<br />
Lebensgeschichte zu erzählen.<br />
Bei einer Veranstaltung lernte<br />
er die Frau kennen, mit der er<br />
seit zwölf Jahren verheiratet<br />
ist: Claudia. Mit der Sonderpädagogin<br />
baute er unter dem<br />
Dach des Bonifatiuswerks den<br />
Verein „Maria hilf-t“ auf, für<br />
Menschen in Not. Keiner muss<br />
katholisch, nicht einmal Christ<br />
sein.<br />
Es gibt noch viel zu tun an<br />
dem 110 Jahre alten Backsteinbau<br />
in Frohburg im Landkreis<br />
Leipzig. Und es gibt Menschen,<br />
die dem Verein zurückhaltend<br />
gegenübestehen, Menschen,<br />
die raunen: Ein Mörder<br />
bleibt ein Mörder!<br />
„Ich kann niemanden verübeln,<br />
so zu denken“, sagt Hartung.<br />
Er freue sich, dass die<br />
meisten Frohburger Bürger<br />
ihn und seine Arbeit unterstützen.<br />
„Ein Mensch, der sich ungeliebt<br />
fühlt, gerät schnell auf<br />
die dunkle Seite des Lebens.<br />
Jeder Mensch braucht einen<br />
anderen, der sich für ihn interessiert.“<br />
Sein Leben und seine Läuterung<br />
hat er zu Papier gebracht<br />
(mit Christoph Fasel: Du musst<br />
dran glauben. Vom Mörder<br />
zum Menschenretter, Adeo-<br />
Verlag; 17,99 Euro).<br />
Als ich mich von ihm verabschiede,<br />
schaue ich noch einmal<br />
auf die Jesusstatue, der eine<br />
Hand fehlt, und auf den<br />
dreibeinigen Kater, der gerade<br />
die Treppe herunterhoppelt.<br />
Nichts auf der Welt ist vollkommen,<br />
denke ich.<br />
Rolf Kremming