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Berliner Kurier 13.10.2019

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15<br />

Unterwegs im Namen des Herrn: Maria, Mutter Jesu, ziertdas Heckfenster<br />

des VW-Busses des Bonifatiuswerks.<br />

„Vier Schritte nach<br />

vorne, drei Schritte<br />

zur Seite, vorbei an<br />

einem Tisch, einem<br />

Stuhl, dem Waschbecken<br />

und dem Klo.“<br />

So beschreibt Torsten<br />

Hartung seine Zelle<br />

in Tegel.<br />

Für mich stand fest: Das mit<br />

dem Wunsch ist voll in die Hose<br />

gegangen!“ Seine Freundin<br />

sah das anders: Du bist nicht<br />

tot, weil Gott noch was mit dir<br />

vorhat. „Sie hatte recht. Doch<br />

das begriff ich erst später.“<br />

Im Oktober 1992 wurde er<br />

festgenommen, auf der Fähre<br />

von Sassnitz nach Trelleborg.<br />

Antje trennte sich endgültig<br />

von ihm. Der Festnahme<br />

schloss sich eine U-Haft in einer<br />

Einzelzelle an. Die Staatsanwaltschaft<br />

wollte verhindern,<br />

dass er Kontakt zu seinen<br />

Komplizen hält.<br />

Mehrere Prozesse folgten.<br />

Die Tage zogen sich dahin. Das<br />

Tagebuch wurde sein bester<br />

Freund.<br />

Im November 1998 wurde<br />

Hartung wegen Mordes, unerlaubten<br />

Waffenbesitzes und<br />

räuberischer Erpressung zu 15<br />

Jahren Gefängnis verurteilt.<br />

Ein halbes Jahr zuvor hatte<br />

sich ihm zufolge etwas ereignet,<br />

das sein Leben von Grund<br />

auf änderte. Es war der 15. Mai,<br />

16 Uhr: „Ich lag auf meiner<br />

Pritsche und hatte wegen der<br />

Sonne ein Laken vor das Gitter<br />

gehängt. Da blähte sich der<br />

Stoff wie ein Segel auf, drückte<br />

sich einen Moment gegen die<br />

Gitterstäbe und ich sah den<br />

Schatten des Fenster- Kreuzes.<br />

Ich bekam Gänsehaut und hörte<br />

mich rufen: Gott, wenn es<br />

dich gibt, dann gib mir ein Zeichen,<br />

schenke mir ein neues<br />

Leben! Ich bin ein böser<br />

Mensch. So will ich nicht länger<br />

leben.“<br />

Dann habe er geweint –und<br />

plötzlich eine Stimme gehört:<br />

Ich weiß!<br />

„Plötzlich war meine Zelle<br />

kein Gefängnis mehr“, sagt<br />

Hartung. „Ich fühlte mich so<br />

frei wie nie zuvor.“ Von da an<br />

studierte Hartung die Bibel,<br />

verzichtete auf Freigänge, ließ<br />

sich sogar früher einschließen,<br />

um mehr Zeit zum Lesen zu<br />

haben. „Ich brauchte sehr viel<br />

Zeit für mich. Tief in mir fühlte<br />

ich das begangene Unrecht, betete<br />

und bereute meine Taten.“<br />

Acht Jahre nach dem Mord<br />

ließ er sich in der katholischen<br />

Gefängniskirche taufen.<br />

Nach 5510 Tagen war er ein<br />

freier Mann, mit 750 Euro in<br />

der Tasche und dem Vorsatz<br />

„Hierher will ich nie zurück!“<br />

Als ihm Tage später ein alter<br />

Kumpel einen „Traumjob“ anbot,<br />

lehnte er ab.<br />

Stattdessen nahm er das Angebot<br />

eines Pfarrers an, eine<br />

Pilgerreise nach Bosnien zu<br />

unternehmen. Am Flughafen<br />

Schönefeld wurde er festgenommen.<br />

Man hatte vergessen,<br />

ihn aus dem Fahndungsregister<br />

zu löschen. Nach zwanzig<br />

Minuten war das Missverständnis<br />

aufgeklärt.<br />

„Von nun an fügte sich alles<br />

zusammen“, sagt Hartung,<br />

„weil Gott es so wollte.“<br />

Ein mitreisender Priester aus<br />

Südkorea lud ihn ein, um seine<br />

Lebensgeschichte zu erzählen.<br />

Bei einer Veranstaltung lernte<br />

er die Frau kennen, mit der er<br />

seit zwölf Jahren verheiratet<br />

ist: Claudia. Mit der Sonderpädagogin<br />

baute er unter dem<br />

Dach des Bonifatiuswerks den<br />

Verein „Maria hilf-t“ auf, für<br />

Menschen in Not. Keiner muss<br />

katholisch, nicht einmal Christ<br />

sein.<br />

Es gibt noch viel zu tun an<br />

dem 110 Jahre alten Backsteinbau<br />

in Frohburg im Landkreis<br />

Leipzig. Und es gibt Menschen,<br />

die dem Verein zurückhaltend<br />

gegenübestehen, Menschen,<br />

die raunen: Ein Mörder<br />

bleibt ein Mörder!<br />

„Ich kann niemanden verübeln,<br />

so zu denken“, sagt Hartung.<br />

Er freue sich, dass die<br />

meisten Frohburger Bürger<br />

ihn und seine Arbeit unterstützen.<br />

„Ein Mensch, der sich ungeliebt<br />

fühlt, gerät schnell auf<br />

die dunkle Seite des Lebens.<br />

Jeder Mensch braucht einen<br />

anderen, der sich für ihn interessiert.“<br />

Sein Leben und seine Läuterung<br />

hat er zu Papier gebracht<br />

(mit Christoph Fasel: Du musst<br />

dran glauben. Vom Mörder<br />

zum Menschenretter, Adeo-<br />

Verlag; 17,99 Euro).<br />

Als ich mich von ihm verabschiede,<br />

schaue ich noch einmal<br />

auf die Jesusstatue, der eine<br />

Hand fehlt, und auf den<br />

dreibeinigen Kater, der gerade<br />

die Treppe herunterhoppelt.<br />

Nichts auf der Welt ist vollkommen,<br />

denke ich.<br />

Rolf Kremming

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