18.10.2019 Aufrufe

Berliner Kurier 17.10.2019

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

*<br />

KULTUR<br />

SEITE19<br />

BERLINER KURIER, Donnerstag, 17.Oktober 2019<br />

Jugendliche machen Theater<br />

Da waren die Russen<br />

von den Socken<br />

Foto: Sabine Gudath<br />

In dem ungewöhnlichen Stück „30. nach 89.“ erzählen<br />

Jugendliche aus Deutschland, Polen und Russland die<br />

Geschichte der Wende über ihreeigenen Familien<br />

UtaPlate, Jahrgang<br />

1968, hat das Stück<br />

„30. nach 89.“ als<br />

Regisseurin auf die<br />

Bühne des Deutschen<br />

Theaters gebracht.<br />

Kuhns<br />

Kulturstück<br />

Helmut Kuhn<br />

schaut,liest<br />

und hörtfür<br />

den KURIER.<br />

Achtzehn Jugendliche<br />

stürmen die Bühne, jeweils<br />

sechs aus Polen,<br />

Deutschland und Russland. Jeder<br />

trägt ein Wäschebündel. Sie<br />

entknäueln ihr Gepäck. Aus den<br />

Laken, Kleidern, Hemden formen<br />

sich Puppen, Gestalten. Es<br />

sind ihre Eltern und Großeltern.<br />

Sie beginnen, durch ihre<br />

Kinder und Enkel zu sprechen.<br />

Über die Zeit der Wende in<br />

Leipzig, den Zusammenbruch<br />

der Sowjetunion, die polnische<br />

Gewerkschaft Solidarnosc.<br />

„Solidarnosc war für mich als<br />

Kind immer ganz groß“, sagt<br />

Uta Plate, Jahrgang 1968, die<br />

das Stück „30. nach 89.“ als Regisseurin<br />

auf die Bühne des<br />

Deutschen Theaters bringt.<br />

„Heute wissen die Jugendlichen<br />

kaum etwas von der Geschichte<br />

der oppositionellen<br />

Werftarbeiter. Es ist auch ein<br />

Stück gegen die Geschichtsvergessenheit“.<br />

Drei Familien sitzen<br />

bald an einem Tisch, es<br />

geht ans Eingemachte. Jeder<br />

der 18 Jugendlichen ist eigens<br />

gecastet worden. Nicht im Sinne<br />

von „Deutschland sucht den<br />

Superstar“. „Die Aufgabe war:<br />

Ein Familienmitglied zu den<br />

Themen Zusammenbruch der<br />

DDR, UdSSR oder freie Wahlen<br />

in Polen zu interviewen“, sagt<br />

Plate. Das Projekt hat eine –<br />

kirchliche –Vorgeschichte.<br />

2015 wandte sich der Superintendent<br />

des evangelischen Kirchenkreises<br />

Teltow-Zehlendorf<br />

an das Deutsche Theater,<br />

Jugendliche aus diesen drei<br />

Ländern zu Fragen des Zweiten<br />

Weltkriegs zusammenzubringen.<br />

Daraus entstand Plates erste<br />

Arbeit, „Jugenderinnerung“.<br />

In einem zweiten Stück, „Hier.<br />

Steh. Ich.“, ging es um Martin<br />

Luther und das Denken gegen<br />

den Mainstream. Das mag wie<br />

ein pfäffischer Quatsch klingen,<br />

ist es aber nicht. Denn über Wochen<br />

und Monate reisten, lebten,<br />

recherchierten diese jeweils<br />

18 jungen Leute zusammen<br />

und erfuhren etwas, das<br />

sie nie vergessen werden: „Es<br />

geht darum, zu verstehen, wie<br />

wir wurden, was wir sind.“<br />

Jeder bringt Gespräche und<br />

Erlebnisse der eigenen Familie<br />

ein. Plate webt daraus ein<br />

Stück, das mithilfe der Puppenspielerin<br />

Viviane Podlich Gestalt<br />

annimmt. „Es geht dabei<br />

nicht um Schuld oder Scham<br />

sondern um das, was uns unsere<br />

Ahnen uns mitgegeben haben.<br />

Wir wissen heute aus der Epigenetik,<br />

dass Traumata und<br />

Haltungen auch vererbt werden<br />

können“, sagt Plate. „Man<br />

sitzt mit der Oma oft beim Kaffee.<br />

Aber im Interview erzählt<br />

sie Geschichten, die sie noch<br />

nie erzählte. Und man versteht:<br />

Das sind meine Wurzeln.“<br />

In Jaroslaw lernten die Jugendlichen<br />

eineGruppe oppositioneller<br />

Künstler kennen. „Da<br />

waren siesehr überrascht, denn<br />

die hielten sich sehr bedeckt.“<br />

Die russischen Jugendlichen<br />

verstanden das. „Wir reden<br />

nicht über Politik“, sagen sie.<br />

„Denn dann bekommen wir<br />

nach fünf Minuten Kopfweh.<br />

Wir versuchen,das Glück in den<br />

Augen der Anderen zu finden“.<br />

Diskussionen entstanden auf<br />

allen Fahrten. Auch über die Jugendinitiative<br />

„Fridays for Future“<br />

für den Klimaschutz. Russische<br />

Jugendliche können daran<br />

nicht teilhaben, weil sie<br />

sonst im Gulag landen. Die polnischen<br />

Jugendlichen seien<br />

frustriert über den hohen Wahlsieg<br />

der nationalkonservativen<br />

PIS. Bei den deutschenJugendlichen<br />

setze sich die Erkenntnis<br />

durch: „Okay, Es musste schnell<br />

gehen. Aber musste eswirklich<br />

so schnell gehen? Hätte man<br />

sich nicht ein bisschen mehr<br />

Zeit lassen können bei der gemeinsamen<br />

Gestaltung?“ In<br />

Berlin sprachen die Jugendlichen<br />

mit Annette Simon, Tochter<br />

von Christa Wolf, undWolfgang<br />

Thierse, waren auf der Demo<br />

„Nazis keine Mitte geben“.<br />

„Daswar ein großer Augenblick<br />

für sie“,sagt Plate. „Sie fürchteten,<br />

nicht mehr zurück zum<br />

Deutschen Theater zu gelangen<br />

und wurden vor der Polizei eigens<br />

eskortiert. Da waren die<br />

Russen von den Socken. Die<br />

kennen Polizei anders.“ Kurzum:<br />

„Das Projekt hatdas Leben<br />

der Jugendlichen verändert“,<br />

sagt Plate. Das Stück wiederum<br />

zeigt uns allen ganz unverblümt,<br />

wo wirstehen –und woher wir<br />

kommen. Die Jugendlichen des<br />

ersten Stücks treffen sich noch<br />

immer. Über alle Grenzen und<br />

Entfernungen hinweg.<br />

„30.nach 89. Talking about<br />

your Generation“, Regie: UtaPlate,<br />

Deutsches Theater,Schumannstraße<br />

13a, 19. bis 21. Oktober.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!