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Berliner Kurier 10.11.2019

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21<br />

Interessieren Sie sich<br />

fürs Klima?“, fragt<br />

die Frau mit der<br />

Schirmmütze eine<br />

junge Dame in roter<br />

Jacke neben der Gedächtniskirche<br />

in<br />

Charlottenburg.<br />

Die Dame sitztneben dem<br />

Eingang und scheint verwirrt.<br />

Abernach einerWeile<br />

wird sie sich der kleinen<br />

Gruppe von Aktivisten anschließen,<br />

die sich am Breitscheidplatz<br />

versammelt hat.<br />

Binnen Sekunden packen<br />

sie Plakate aus, auf denen<br />

„Listentothe climate bells“<br />

steht und „Strejk för Klimatet“.<br />

Sie halten sie für genau<br />

zwei Minuten hoch –solange<br />

wie die Kirchenglocken<br />

um 18 Uhr läuten.<br />

Seit fast zwei Monaten<br />

kommen jeden Tag um<br />

diese Zeit einpaar <strong>Berliner</strong><br />

hierher, um auf den<br />

Klimaschutz aufmerksam<br />

zu machen.<br />

„Aufmerksamkeit<br />

ist unsere heutige<br />

Währung“, erklärt<br />

Annette Ahme,<br />

jene Frau mit der<br />

Mütze, die die Aktion<br />

gestartet hat<br />

und ebenfalls rot<br />

angezogen<br />

ist, inspiriert<br />

von<br />

JaneFonda,<br />

die in<br />

Washington<br />

die<br />

„Fire<br />

Drill<br />

Fridays“<br />

ausgerufen hat, welche<br />

sich auf das berühmte<br />

Zitat von Greta Thunberg<br />

beziehen: „Wirmüssenuns<br />

verhalten, als ob unser Haus<br />

brennt –denn so ist es.“<br />

Der Dresscode für die<br />

„Brandschutzfreitage“ ist<br />

entsprechend feuerwehrrot.<br />

Annette Ahme ist die einzige,<br />

die jeden Tag kommt.<br />

OhneAusnahmen.<br />

Und jedes Mal spricht sie<br />

auch Passanten an, ob sie<br />

sich nicht an der Mahnwache<br />

beteiligen wollen.<br />

Viele gehen einfach vorbei.<br />

„Ungefähr die Hälfte ist<br />

am Klimaschutz interessiert,<br />

das finde ich schon<br />

gut“, sagtsie.<br />

Die Umwelt lag der Historikerin<br />

immer schon am<br />

Herzen. Kurz nach ihrem<br />

Abitur wurde in den USA<br />

die Umweltstudie „Global<br />

2000“ veröffentlicht, die<br />

den Anstoß für viele grüne<br />

Initiativen gab.<br />

Der Bericht beschrieb<br />

1977 noch kaum bekannte<br />

Probleme der Menschheit:<br />

Luftverschmutzung, überproportionales<br />

Bevölkerungswachstum<br />

und Klimaveränderungen.<br />

„Das war<br />

damals unser Thema, jeder<br />

hat darüber gesprochen.“<br />

Zwischen 1985 und 1987<br />

war sie für die Alternative<br />

Liste für Demokratie und<br />

Umweltschutz, die später<br />

im Bündnis 90/Die Grünen<br />

Berlin aufging, im Abgeordnetenhaus,<br />

außerdem arbeitete<br />

sie in der Bezirksverordnetenversammlung<br />

Kreuzberg und trug zu einigen<br />

Verkehrsberuhigungsprojekten<br />

bei.<br />

Nachder Aktionbegleiten<br />

wir Annette Ahme in die<br />

Kapelle der Gedächtniskirche.<br />

Jeder kennt sie hier.<br />

Pfarrer Martin Germer lächelt<br />

und plaudert mit ihr<br />

wie mit einer alten Bekannten.<br />

Die Kaiser-Wilhelm-<br />

Gedächtniskirche ist ohnehin<br />

so etwas wie eine Umweltkirche:<br />

Die Gemeinde<br />

unterstützt Klimaaktionen,<br />

und in der Kapelle ist eine<br />

Fotoausstellung von Sven<br />

Hoffmann zum Thema<br />

Wasser zu sehen. Der<br />

Künstler zeigt das Wasser<br />

dort, wo es bald verschwindet:<br />

das Tote Meer, den<br />

Aralsee, den Tschadsee.<br />

AnnetteAhmegehtweiter<br />

in die Kapelle hinein und<br />

zeigt auf den Boden: „Hier<br />

ist alles rund und wolkenförmig,<br />

das ist typisch für<br />

Vor einem<br />

Jahr sah<br />

sie<br />

einen<br />

Bericht<br />

und<br />

handelte.<br />

Egon Eiermanns Architektur.Mitten<br />

in der Stadt entsteht<br />

durch den begrünten<br />

Umgang zwischen den<br />

Kirchwänden ein ruhiges<br />

Kloster.“<br />

Sie ist von Eiermanns<br />

Werk fasziniert und engagiert<br />

sich auch imStädtebau,<br />

schon seit den 70er-<br />

Jahren, als sie die Besetzung<br />

der Häuser am Chamissoplatz<br />

organisierteund<br />

diese so vor dem Abriss bewahrte.<br />

Als Vorsitzende des Vereins<br />

HistorischeMitte initiierte<br />

sie letztesJahr den 77-<br />

tägigen Protest gegen den<br />

Bau der Einheitswippe vor<br />

dem <strong>Berliner</strong> Stadtschloss.<br />

Die Max-Liebermann- und<br />

die Heinrich-Zille-Gesellschaft<br />

hat sie mitgegründet.<br />

Auch beim Entstehen des<br />

„AktivenMuseums“ war sie<br />

aktiv, und sie hat um die<br />

Wiederherstellung der historischen<br />

Rathausbrücke<br />

gekämpft.<br />

Vor einem Jahr hat sie zusammen<br />

mit ihren beiden<br />

Töchtern einen Bericht<br />

über Greta Thunberg gesehen<br />

und war von der schwedischen<br />

Schülerin zutiefst<br />

beeindruckt. Auch weil es<br />

sie selbst so mitnimmt, wie<br />

sehr die Natur schon jetzt<br />

aus dem Gleichgewicht geraten<br />

ist: die dürren Sommer,die<br />

Stürme.<br />

Der Aktivistin fiel auch<br />

auf, dassdie Vögel in ihrem<br />

Garten nicht mehr piepen.<br />

„DerInsektenbestand ist in<br />

Deutschlandum75Prozent<br />

zurückgegangen. Es ist logisch,<br />

dass indiesem, spätestens<br />

nächstesoder übernächstes<br />

Jahr viele Vögel<br />

aussterben werden. Nicht<br />

erst in zwanzig Jahren“,<br />

sagtsie traurig.<br />

Ihre Töchter, 17und 21,<br />

beteiligen sich schon lange<br />

an „Fridays for Future“. Sie<br />

selbst hat sich dann mit einer<br />

Verbündeten, der<br />

Schriftstellerin Jenny<br />

Schon, die Zwei-Minuten-<br />

Mahnwache am Breitscheidplatz<br />

ausgedacht, am<br />

2. September haben sie damit<br />

begonnen –als Erinnerung<br />

an das „Zwei-Grad-<br />

Ziel“, nach welchem die<br />

Erderwärmung bis zum<br />

Jahr 2100 auf weniger als<br />

zwei Grad Celsius gegenüber<br />

dem Niveau vor Beginn<br />

der Industrialisierung<br />

begrenztwerden soll.<br />

Annette Ahme hält ihren<br />

Einsatz für selbstverständlich<br />

und uneigen. „Ich will<br />

nicht irgendwie exotisch<br />

aussehen“,sagt sie.Sie fliegt<br />

nicht und hat kein Auto, sie<br />

isst kein Fleisch und versucht,<br />

nichts inPlastikverpackung<br />

zu kaufen. Sie sieht<br />

ihre Mahnwache als Angebot<br />

für all jene, die durchaus<br />

schon umweltfreundlich leben,aber<br />

gerne noch etwas<br />

mehr tun wollen.<br />

Sie ist im Übrigennicht so<br />

pessimistisch, wenn sie in<br />

die Zukunft blickt, sondern<br />

überzeugt, dass die<br />

Menschheit die Krise meistern<br />

kann.<br />

„Wirhaben schon mehrere<br />

Krisen überstanden“,<br />

sagt sie: „Ozonloch, Waldsterben<br />

durch sauren Regen,Wintersmog<br />

in Berlin.“<br />

Als Sofortmaßnameschlägt<br />

sie vor, eine Ein-Kind-Politik<br />

einzuführen –die Vereinten<br />

Nationen könnten<br />

das als Empfehlung aussprechen:<br />

„Je weniger Menschen<br />

es auf der Erde gibt,<br />

desto weniger Fleisch und<br />

Konsumgegenstände<br />

braucht man. Es müssen<br />

weniger Wälder abgefackelt<br />

werden“, sagtsie.<br />

Annette Ahme plant, ihre<br />

Mahnwache bis zum 2. Dezember<br />

abzuhalten, da beginnt<br />

in Santiago de Chile<br />

die UN-Klimakonferenz.<br />

Dass sie tagtäglich zur Gedächtniskirche<br />

kommt, findet<br />

sie gar nicht besonders:<br />

„Die Menschen gehendoch<br />

auch jeden Tag zur Arbeit,<br />

fast jeden Tag einkaufen,<br />

fast jeden Tag zur Schule<br />

oder indie Kita. Wenn ich<br />

eine oderzweiStunden pro<br />

Tag fürs Klima investiere,<br />

finde ich daseigentlich normal.“<br />

Am 31. Oktoberist Annette<br />

62 geworden.<br />

Auch diesen Tag verbrachte<br />

sie an der Gedächtniskirche.<br />

Nasta Reznikava<br />

Foto: Markus Wächter

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