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advantage Nr 5 November 2019

Vorteil in Wirtschaft und Leben

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66 <strong>advantage</strong><br />

——— #alternativefacts ———<br />

Der Geist der Aufklärung ist erloschen, die Behauptung rückt an die Stelle der<br />

Tatsache: Postfaktische Diskussionen überwinden die engstirnige Einordnung in<br />

richtig oder falsch. Dabei entstehen zeitgleich alternative, oft auch gegensätzliche<br />

Realitäten, dank sozialer Medien immer und überall kommentier- und vervielfältigbar.<br />

Willkommen in der wundervollen Welt der wirren Wahrheiten.<br />

Von Peter Schöndorfer<br />

„Lutschen Sie an Ihrer<br />

großen Zehe!“<br />

Stellen Sie sich vor, ein Kärntner Schriftsteller<br />

erhält den Literaturnobelpreis,<br />

und kaum jemand freut sich. Peter<br />

Handke, Autor von Weltruf, stolpert über<br />

ein emotionales Naheverhältnis zu Serbien<br />

und dem mörderischen Ungustl Slobodan<br />

Milošević. Das amtierende Staatsoberhaupt<br />

der Bundesrepublik Jugoslawien wurde vom<br />

Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige<br />

Jugoslawien im Mai 1999 wegen<br />

Völkermord, Massenvertreibung und zahlreicher<br />

anderer Kriegsverbrechen angeklagt<br />

und nach seiner Abdankung zwei Jahre<br />

später nach Den Haag ausgeliefert. Der Prozess<br />

gegen ihn begann im Februar 2002 und<br />

zog sich auch aufgrund seines schlechten<br />

Gesundheitszustandes in die Länge. Am 11.<br />

März 2006 wurde Milošević in seiner Zelle<br />

tot aufgefunden und sieben Tage später in<br />

seinem serbischen Heimatort Požarevac<br />

begraben.<br />

Handke hat den Schlächter von Srebrenica<br />

im Gefängnis besucht und an dessen Grab –<br />

zum Teil in Serbokroatisch – gesprochen,<br />

unter anderem: „Die Welt, die sogenannte<br />

Welt, weiß alles über Jugoslawien, Serbien. Die<br />

Welt, die sogenannte Welt, weiß alles über Slobodan<br />

Milošević. Die sogenannte Welt weiß<br />

die Wahrheit. Deswegen ist die sogenannte<br />

Welt heute abwesend, und nicht bloß heute,<br />

und nicht bloß hier. Die sogenannte Welt ist<br />

nicht die Welt. Ich weiß, dass ich nicht weiß.<br />

Ich weiß die Wahrheit nicht. Aber ich schaue.<br />

Ich höre. Ich fühle. Ich erinnere mich. Ich frage.<br />

Deswegen bin ich heute anwesend, nah an<br />

Jugoslawien, nah an Serbien, nah an Slobodan<br />

Milošević.“<br />

Der Aufschrei von Politik und Künstlerschaft<br />

war laut und hallt bis heute nach. Von Handkes<br />

literarischen Worten und Taten völlig losgelöst<br />

bahnt sich der Shitstorm der Missgünstigen<br />

seinen Weg: Der dänische Schriftsteller<br />

Carsten Jensen erklärt Handke taxfrei<br />

zu einem „gefährlichen Rechtsextremisten,<br />

der den Völkermord begrüßt“. Und der slowenische<br />

Philosoph Slavoj Žižek brandmarkt<br />

ihn gar als „Apologet des Völkermords“.<br />

Dabei wird mit einer gewissen intellektuellen<br />

Großzügigkeit über den Unterschied zwischen<br />

Literatur- und Friedensnobelpreis hinweggesehen,<br />

nicht nur inhaltlich: Für die<br />

Auswahl des Literaturnobelpreisträgers ist die<br />

beispielsweise die Schwedische Akademie<br />

zuständig, die dafür bisherige Preisträger,<br />

Hochschulprofessoren, Schriftstellerverbandspräsidenten<br />

aufbietet. Der Träger des Friedensnobelpreises<br />

wird vom fünfköpfigen<br />

Norwegischen Nobelkomitee ausgewählt, das<br />

vom Parlament ernannt wird. Das sind schon<br />

zwei sehr unterschiedliche Paar Schuhe, die<br />

von der (in Österreich mit Vorliebe das<br />

eigene Nest beschmutzenden) Empörungsbewegung<br />

bereitwillig durcheinandergebracht<br />

und absichtsvoll verkehrtherum angezogen<br />

werden.<br />

Auch in Kärnten, wo der zeitlebens Schwierige<br />

trotz seiner Weltläufigkeit dennoch Kontakt<br />

zu seiner Heimat Griffen und zu seinen<br />

slowenischen Wurzeln gehalten hat, hebt wie<br />

so oft das Matschkern an. Statt sich mit dem<br />

großen Sohn des Landes über die erstmals in<br />

der Landesgeschichte zuerkannte Auszeichnung<br />

zu freuen nach dem Motto „Wir sind<br />

Literaturnobelpreis!“, mäkelt man lieber am<br />

dünnhäutigen Verhalten Handkes bei kritischen<br />

Journalistenfragen herum. Die einen<br />

versuchen durch gemeinsame Fotos auf Facebook,<br />

den eigenen Schatten im hellen Lichte<br />

des Geehrten länger werden zu lassen (man<br />

nennt das nicht ohne Grund „parasitäre Publizität“).<br />

Die anderen wollen den Sockel, auf<br />

dem Handke nun für die Ewigkeit steht, vorsorglich<br />

abtragen, damit das eigene Mittelmaß<br />

im Vergleich zur lichten Höhe des Preisträgers<br />

nicht so schonungslos deutlich wird.<br />

Die – auch journalistische – Reduktion eines<br />

lebenslangen literarischen Schaffens auf eine<br />

weltanschauliche Verirrung, ausgerechnet im<br />

Moment des höchsten Triumphs – das würde<br />

wohl auch weniger fein gesponnene Charaktere<br />

überfordern. Immerhin hat er den Kärntner<br />

Journalisten nicht gesagt, was er dem<br />

damaligen Kollegen Karl Wendl schon 1996<br />

bei einer Diskussion im Wiener Akademietheater<br />

entgegengeschleudert hat: „Arschloch,<br />

Arschloch(…) Stecken Sie sich ihre<br />

Betroffenheit in den Arsch, gehen Sie nach<br />

Hause, lutschen Sie an Ihrer großen Zehe.<br />

Hauen Sie ab, ich rede nicht mehr mit Ihnen.“<br />

Man sollte Peter Handke den großen<br />

Moment gönnen. Wie Elfriede Jelinek, die<br />

Nobelpreisträgerin 2004: „Großartig! Er<br />

wäre auf jeden Fall schon vor mir dran gewesen“,<br />

schrieb die Autorin der APA. Sie freue<br />

sich auch, dass die Auszeichnung an jemanden<br />

gehe, „auf den sie in Österreich endlich<br />

stolz sein werden.“<br />

Hoffen wir‘s. |<br />

Foto: Didi Wajand, aufgeschnappt.at

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