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Loccumer Pelikan 4/2019

Mensch und Tier

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28 praktisch<br />

KIRSTEN RABE<br />

GELESEN:<br />

Hilal Sezgin:<br />

Artgerecht ist nur die Freiheit<br />

Hilal Sezgin (*1970) ist freie Schriftstellerin und Journalistin. Sie studierte Philosophie in Frankfurt<br />

a.M. und arbeitete mehrere Jahre in der Feuilletonredaktion der Frankfurter Rundschau. Heute<br />

lebt sie in der Lüneburger Heide und betreut einen Gnadenhof mit Schafen und Hühnern. Sie<br />

schreibt u.a. für DIE ZEIT, Süddeutsche Zeitung und taz. In ihrem Buch „Artgerecht ist nur die<br />

Freiheit“ (2014) entwirft sie eine umfassende und radikal umdenkende Tierethik.<br />

Hilal Sezgin<br />

Artgerecht ist nur<br />

die Freiheit<br />

Eine Ethik für Tiere oder<br />

Warum wir umdenken<br />

müssen.<br />

Verlag C.H.Beck<br />

2. Aufl. München 2014<br />

ISBN 978-3-406-65904-1<br />

Paperback, 301 Seiten<br />

16,95 €.<br />

Moralische Verantwortung<br />

fängt […] mit dem Wissen<br />

an, dass ich jemand bin, der<br />

sich so oder anders verhalten<br />

kann – gegenüber anderen,<br />

die auch ein eigener Jemand sind. Das<br />

Recht, moralisch berücksichtigt zu werden, beginnt<br />

hingegen bereits da, wo jemand bewusste<br />

Empfindungen hat. Warum reite ich so darauf<br />

herum? Weil man die Frage, ob jemand<br />

berücksichtigt werden muss, nicht mit der anderen<br />

verwechseln darf, ob der andere selbst<br />

auch ein moralisches Wesen ist. Ein Tier, ein<br />

kleines Kind, ein dementer alter Mensch oder<br />

ein Mensch in einer extremen Krisensituation<br />

mögen nicht in der Lage sein, moralisch zu denken<br />

und verantwortlich oder zurechnungsfähig<br />

zu handeln. Trotzdem verlieren sie dadurch<br />

nicht ihren Anspruch darauf, selbst moralisch<br />

berücksichtigt zu werden. […]<br />

Ein empfindungsfähiges Wesen ist Subjekt<br />

eines eigenen Lebens, und es will leben. Ob<br />

dieses Subjekt nun hochintelligent oder eher<br />

ein Einfaltspinsel ist, ob es die Welt im Flug betrachtet<br />

oder sich nur auf dem Erdboden fortbewegen<br />

kann, ob es viele Freunde oder Nachkommen<br />

hat oder wenige, ob es jeden Tag tolle<br />

Abenteuer erlebt oder nur vor dem Fernseher<br />

sitzt, ob es überall gute Laune verbreitet oder<br />

eine Plage für seine ganze Umgebung ist – all<br />

das sind völlig irrelevante Kriterien um zu beurteilen,<br />

ob jemand ein Recht auf Leben hat. Es<br />

gibt schlicht keine Kriterien für das Recht auf<br />

Leben, außer dass ein Individuum bewusste<br />

Empfindungen hat, dass den biologischen körperlichen<br />

Vorgängen also subjektive Wahrnehmungen<br />

korrespondieren, somit jemand „da“<br />

ist, der sein Leben lebt.<br />

Ich habe übrigens die obige Aufzählung von<br />

Intelligenz, Fliegen-Können, Familie, Abenteuer<br />

etc. ganz ohne Hintergedanken angefangen<br />

und erst im Verlauf gemerkt: All diese Merkmale<br />

können genauso gut auf ein Tier Anwendung<br />

finden wie auf einen Menschen. Selbst<br />

wenn wir völlig irrig versuchen würden, erfülltere<br />

Leben gegen weniger erfüllte abzuwägen,<br />

fiele die Bilanz keineswegs immer zugunsten<br />

des Homo sapiens aus. Wer sieht denn zum<br />

Beispiel mehr, wer verarbeitet mehr optische Informationen:<br />

ein Fliegenauge mit seinem zeitlichen<br />

Auflösungsvermögen von 250 Reizen<br />

pro Sekunde oder ein Menschenauge mit seinen<br />

30? Wer hat denn das aufregendere Leben:<br />

die Inhaberin einer Edelboutique oder ein<br />

Wildschwein im Wald? Wer hat im Laufe dieses<br />

Tages mehr und intensiveres Glück empfunden<br />

und mehr geleistet: die Schwalbe, die<br />

ihren zahlreichen hungrigen Kindern zig Mal<br />

Nahrung in den Schnabel gestopft hat, oder<br />

ich, die ich es gerade mal geschafft habe, mei-<br />

<strong>Loccumer</strong> <strong>Pelikan</strong> | 4/ <strong>2019</strong>

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