Loccumer Pelikan 4/2019
Mensch und Tier
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54 informativ<br />
Kleinbäuerliche<br />
Landwirtschaft in<br />
Verneuil-sur-Avre,<br />
Frankreich: Während<br />
die kleineren<br />
Höfe durch den<br />
niedrigen Milchpreis<br />
zunehmend unter<br />
Druck geraten und<br />
aufgeben, fließen<br />
Millionen in riesige<br />
Landwirt schaftsbetriebe.<br />
© Lucas van Oort /<br />
Unsplash<br />
gang des adeligen Kleingrundbesitzers Aymeric,<br />
der in einem baufälligen Schloss in der Normandie<br />
lebt und Viehzucht und Milchwirtschaft<br />
betreibt. Aymeric versucht sich an die Anforderungen<br />
des Bio-Siegels zu halten. Seine Milchkühe<br />
haben Platz und dürfen sogar in den Wintertagen<br />
draußen weiden. Es handelt sich also<br />
um keine industrielle Aufzucht. „Aber je mehr<br />
ich alles korrekt zu machen versuche, desto<br />
schlechter komme ich über die Runden“, so Aymeric<br />
kurz vor seinem Suizid (145).<br />
Im Jahr 2016 kam es zu einer Suizid-Welle<br />
unter Landwirten in Deutschland. Alarmierende<br />
Berichte aus europäischen Nachbarländern<br />
zeigen, dass – bedingt durch den Strukturwandel<br />
– die klein- und mittelständischen landwirtschaftlichen<br />
Betriebe zunehmend unter Druck<br />
geraten. Zugleich profitieren landwirtschaftliche<br />
Großbetriebe mit industrieller Ausrichtung<br />
von den Pauschalzahlungen bzw. Agrarsubventionen,<br />
die eine Marktregulierung verhindern.<br />
Nimmt man die Milchwirtschaft in den Blick, so<br />
ist eine merkwürdige Diskrepanz zu beobachten:<br />
Während die kleineren Betriebe durch den<br />
niedrigen Milchpreis zunehmend unter Druck<br />
geraten und aufgeben – mit teilweise dramatischen<br />
Folgen für ganze Familien –, fließen Millionen<br />
in riesige Landwirtschaftsbetriebe. Die<br />
Verzweiflung unter den Kleinbauern nimmt zu.<br />
Im Schweizer Kanton Waadt wurde nach einer<br />
Serie von Suiziden eigens eine Stelle zur Suizidvorbeugung<br />
unter den Landwirt*innen eingerichtet.<br />
Der zuständige Pfarrer Pierre-A. Schütz<br />
geht in Interviews („Die Zeit“, Nr. 50/ 2016, und<br />
die „Neue Zürcher Zeitung“ 2 ) davon aus, dass<br />
2<br />
www.nzz.ch/schweiz/suizidgefaehrtede-landwirteder-bauernfluesterer-ld.149017<br />
(am 28.10.<strong>2019</strong>).<br />
die Landwirte sich von der Gesellschaft im Stich<br />
gelassen fühlen. Doch auch die Großbetriebe<br />
mit industrieller Ausrichtung stehen vor der Herausforderung,<br />
trotz millionenschwerer Subventionen<br />
ihre Betriebe so zu organisieren, dass sie<br />
(auch im digitalen Zeitalter) betriebswirtschaftlich<br />
gut aufgestellt sind.<br />
Die agrarwirtschaftliche Gesamtsituation ist<br />
– nimmt man die Milchwirtschaft als Beispiel –<br />
so komplex, dass sie für einen Menschen ohne<br />
Fachexpertise nur schwer zu durchschauen<br />
ist. Gerade die Themenkomplexe Landwirtschaft,<br />
Tierwohl, Ernährungswandel etc. besonders<br />
anfällig für Ideologien. Damit sind<br />
nicht nur die „klassischen“ ideologischen Grabenkämpfe<br />
zwischen Landwirtschaft und Umweltschutz<br />
gemeint. Das Problem besteht darin,<br />
dass die Thematik jeweils von einer bestimmten<br />
Interessensgemeinschaft aus einem bestimmten<br />
Standpunkt heraus aufgerollt wird.<br />
Es lassen sich drei Standpunkte unterscheiden:<br />
Erstens werden Menschen in den Blick genommen,<br />
die bäuerlich leben (anthropologischer<br />
Standpunkt). Zweitens stehen Tiere und andere<br />
Lebewesen im Mittelpunkt der Überlegungen<br />
(tierethischer Standpunkt). Drittens rückt<br />
das Ökosystem (Stichwort: Greta Thunberg) in<br />
den Fokus (ökologischer Standpunkt). Es ließen<br />
sich andere Standpunkte hinzufügen.<br />
Im Blick auf die religiöse Bildungsaufgabe<br />
stellt sich die Frage: Welche Zugänge zu diesem<br />
komplexen Themenkonglomerat sind für die Bildungsaufgabe<br />
geeignet? Und was soll theologisch<br />
und religionspädagogisch bei diesen Zugängen<br />
geklärt werden?<br />
Eine elementare theologische<br />
und religionspädagogische<br />
Klärungshilfe – drei<br />
Zugänge als Beispiel<br />
Zunächst ist der eigene Standpunkt bzw. die<br />
eigene Tendenz zu reflektieren: Interessiere ich<br />
mich für Menschen, die bäuerlich leben, für das<br />
Tierwohl oder das Ökosystem? Entsprechend<br />
unterschiedliche Literatur und Netzwerke werden<br />
mit dem jeweiligen Standpunkt aufgerufen:<br />
Während im Blick auf bäuerliches Leben das<br />
seelsorgerliche Interesse im Vordergrund steht<br />
(Bsp.: Pfarrer Pierre-A. Schütz), wird in der tierethischen<br />
Literatur die Frage nach dem Milchund<br />
Fleischverzicht traktiert. Der Frage nach<br />
dem Ökosystem kommt spätestens seit der Fridays-For-Future-Bewegung<br />
große mediale Aufmerksamkeit<br />
zu.<br />
<strong>Loccumer</strong> <strong>Pelikan</strong> | 4/ <strong>2019</strong>