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Berliner Kurier 18.11.2019

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BERLIN<br />

DER<br />

ROTE<br />

TEPPICH<br />

Ehre, wemEhregebührt!<br />

Martin<br />

Rennert,<br />

65 Jahrealt,<br />

ist Universitätspräsident.<br />

Noch sitzen die Sicherungsverwahrten<br />

hinter der<br />

dicken Mauer der JVATegel.<br />

Bald aber sollen die, denen<br />

Lockerungen genehmigt<br />

wurden, in einem Haus<br />

direkt davorwohnen.<br />

Angst im<br />

Tür an Tür mit<br />

Berlin will den ersten offenen Vollzug für<br />

Sicherungsverwahrte einrichten.<br />

Doch Anwohner wollen<br />

die Kriminellen<br />

nicht als Nachbarn<br />

Foto: dpa<br />

DieKonzertgitarre ist<br />

nicht das lauteste aller<br />

Instrumente. Martin Rennert,<br />

studierter Gitarrist,<br />

Professor und seit 14 Jahren<br />

Präsident der <strong>Berliner</strong><br />

Universität der Künste, hat<br />

dafür immer seine Stimme<br />

erhoben. Er sieht seine Universität<br />

als Verteidigerin<br />

der Kunst und damit der<br />

Freiheit selbst. Er stemmte<br />

sich Stammtischparolen<br />

über die Europäische entgegen<br />

und forderte Leidenschaft<br />

für die EU, um Frieden<br />

und Gedankenfreiheit<br />

für die junge Generation zu<br />

schützen. Als Sohn eines jüdischen,<br />

deutsch-österreichischen<br />

Elternpaars, das<br />

im Kindesalter den Nazis in<br />

die USA entkam, wurde er<br />

in New York geboren, als er<br />

zwölf Jahre alt war, zog die<br />

Familie nach Europa. Er<br />

studierte klassische Gitarre<br />

in Wien, Graz und Granada,<br />

um schließlich in Berlin zu<br />

landen. Es sei die einzige<br />

deutsche Stadt gewesen, in<br />

der er sich vorstellen konnte<br />

zu leben. Sie sei Europas<br />

amerikanischste Stadt und<br />

doch durch und durch europäisch,<br />

vor allem aber<br />

egalitär –keine Metropole<br />

sei sozial so durchlässig.<br />

Am Freitag wird Professor<br />

Rennert vom Regierenden<br />

Bürgermeister Michael<br />

Müller bei einer Feierstunde<br />

in den Ruhestand verabschiedet.<br />

GL<br />

Fragen?<br />

Wünsche?<br />

Tipps?<br />

Redaktion: Tel. 030/63 33 11 456<br />

(Mo.–Fr. 10–18 Uhr)<br />

10969 Berlin, Alte Jakobstraße 105<br />

E-Mail: leser-bk@berlinerverlag.com<br />

Abo-Service: Tel. 030/232777<br />

Von<br />

ANNIKA LEISTER<br />

Justizsenator Dirk<br />

Behrendt (Grüne) ist<br />

für die Umsetzung<br />

des Pilotprojekts<br />

zuständig.<br />

Tegel – Berlin will dendeutschlandweit<br />

ersten offenen Vollzug<br />

für Sicherungsverwahrte<br />

einrichten –direkt vor den Gefängnismauern<br />

der JVA Tegel.<br />

Anwohner beunruhigt das zutiefst.<br />

Nur ein paar Schritte trennen die<br />

Wohnung des Ehepaars Schäfer<br />

(Name von der Redaktion geändert)<br />

von der Gefängnismauerder<br />

Justizvollzugsanstalt Tegel. Aus<br />

ihrem Wohnzimmerfenster im<br />

zweitenStock blicken die Rentner<br />

direkt auf die massive graue Mauer<br />

und die dahinterliegenden Zellen.<br />

Katina Schäfer lebt seit 60<br />

Jahren hier.Fast ihr ganzes Leben<br />

lang. Unsicher gefühlt habe sie<br />

sichinder Umgebung der JVAbisher<br />

noch nie, sagt die 68-Jährige.<br />

Doch das hat sich inden letzten<br />

Monaten drastisch geändert.<br />

Grund dafür sind die Pläne der<br />

Senatsjustizverwaltung, einen offenen<br />

Vollzug für Sicherungsver-<br />

wahrte inTegel einzurichten. Sicherungsverwahrte<br />

sind die gefährlichsten<br />

Straftäter hinter Gittern–Sexualstraftäterundextrem<br />

brutale Gewaltverbrecher – bei<br />

denen ein Gericht entschieden<br />

hat, das¦ssie auch nach Verbüßen<br />

ihrer Haftstrafe noch eine so große<br />

Gefahr für die Allgemeinheit<br />

darstellen, dass sie von ihr ferngehaltenwerdenmüssen.<br />

Der offene Vollzug für diese<br />

Straftäter ist ein Pilotprojekt in<br />

Berlin,nach Einschätzung der Senatsjustizverwaltung<br />

vermutlich<br />

deutschlandweit der erste. Man<br />

setze damit einen klaren gesetzlichenAuftragaus<br />

dem Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz<br />

um,<br />

heißt es.<br />

50 Sicherungsverwahrte sitzen<br />

zurzeit in Tegel. Darunter: Keith<br />

M., verurteilt 2005, weil er mit 16<br />

einen siebenjährigen Nachbarsjungen<br />

zu Todequälte und zu seinen<br />

Gründensagte, dass „er schon<br />

immer wissen wollte, wie das so<br />

ist“. Die Sicherungsverwahrung<br />

erhielt M. erst später, weil er im<br />

Gefängnis immer wieder gewalttätig<br />

wurde.<br />

Auf KURIER-Nachfrage der erklärt<br />

die Justizverwaltung, dass<br />

alle Sicherungsverwahrten inTegel<br />

verurteilt wurden wegen<br />

„Straftaten gegen die sexuelle<br />

Selbstbestimmung und Gewaltdelikten“.<br />

Vor ihrer Sicherungsverwahrung<br />

müssen sie ihre Haftstrafen<br />

absitzen, die kürzeste<br />

HaftstrafederzurzeitInhaftierten<br />

betrug zwei Jahre und sechs Monate<br />

wegen sexuellen Missbrauchs,<br />

die längste Haftstrafe 15<br />

Jahre wegen Totschlags. Zuletzt<br />

hat die Justizverwaltung<br />

2016/2017 erhoben, wie lange die<br />

Sicherungsverwahrten insgesamt<br />

–also mit Haftstrafe und Sicherungsverwahrung–bereits<br />

hinter<br />

Gitternsitzen: im Schnitt 15 Jahre.<br />

Die Sicherungsverwahrten können<br />

sich schon jetzt für „Lockerungsmaßnahmen“<br />

qualifizieren<br />

–und dann zum Beispiel ehrenamtlich<br />

in einer Suppenküche arbeiten.<br />

Zuvor müsse „immer ein<br />

externes Sachverständigengutachten<br />

vorliegen“,schreibt die Senatsjustizverwaltung<br />

zum jetzigen<br />

Prozedere. Bewährensichdie<br />

Sicherungsverwahrten auf ihren<br />

Ausgängen, haben sie Aussicht<br />

aufFreiheit.Seit2015sind15Menschen<br />

in Berlin aus der Sicherungsverwahrung<br />

entlassen worden,<br />

erklärt die Senatsjustizverwaltung.<br />

Für den offenen Vollzug könnten<br />

sich in Zukunft nur Sicherungsverwahrte<br />

qualifizieren, die<br />

bereits für Lockerungen zugelassen<br />

und erprobt seien, teilt die<br />

Verwaltung weiter mit. Sachverständige<br />

und JVA müssten zueiner<br />

„günstigen Gesamtabwägung“<br />

gelangen. Vor der endgültigen<br />

Entscheidung sei das zuständige<br />

Gerichtzuhören.<br />

Die Schäfers beruhigt das nicht.<br />

Gutachter können irren, sagensie.<br />

Und ihr größtes Problem:Der offene<br />

Vollzug soll nicht hinter der<br />

dicken Gefängnismauer eingerichtet<br />

werden. Sondern in der

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