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SEITE19<br />
BERLINER KURIER, Montag, 9. Dezember 2019<br />
Von<br />
ANDREASKOPIETZ<br />
Berlin – Die Masche ist immer<br />
gleich: Ein Mann betritt die<br />
Drogerie-Filiale, Sekunden<br />
später kommt ein Gehbehinderter<br />
auf Krücken mit einer<br />
großen Reisetasche auf dem<br />
Rücken. Schließlich erscheint<br />
ein Dritter, passt auf und deckt<br />
die Sicht auf den Krücken-<br />
Mann ab. Nun verschwinden<br />
Milchpulver-Packungen aus<br />
dem Regal in der Reisetasche<br />
des Gehbehinderten. Was aussieht<br />
wie gewöhnlicherLadendiebstahl<br />
ist Teil eines Millionengeschäfts<br />
mit dem illegalen<br />
Handel von Milchpulver.<br />
Der Gesamtschaden aller Ladendiebstähle<br />
ist riesig: Im vergangenen<br />
Jahrbezifferte die Polizei<br />
ihn allein inBerlin auf mehr als<br />
266 Millionen Euro.Bundesweit<br />
sindes3,7 Milliarden Euro –eine<br />
Steigerungvon fastfünf Prozent<br />
gegenüberdem Vorjahr.<br />
Trotzdem spielt Ladendiebstahl,den<br />
dieHändler durch steigende<br />
Preise kompensieren, bei<br />
der <strong>Berliner</strong> Polizei nur eine untergeordnete<br />
Rolle. Sie hat schon<br />
genug mit dem Kampf gegen anderePhänomene<br />
der Organisierten<br />
Kriminalität, Clansund Islamismus<br />
zu tun. Entsprechend<br />
selten sind Fahndungserfolge.<br />
Der Krückenmann und seine<br />
beiden Kumpane –alle drei aus<br />
Georgien –wurden im November<br />
dennoch festgenommen. Die<br />
vermeintlichen kleinen Ladendiebe<br />
sind in Wirklichkeit eine<br />
Bande und Teil eines weltweit<br />
agierenden Netzwerks, das sich<br />
auf Diebstahl und Handel mit<br />
Milchpulver für Säuglinge spezialisiert<br />
hat. „Die Gewinnspannen<br />
sind größer als bei Rauschgift“,soein<br />
Ermittler.<br />
Seiteinigen Jahrenbeobachten<br />
Polizisten in ganz Deutschland<br />
einen zunehmenden Trend. Er<br />
wurde ausgelöst durch einen<br />
Milchpulverskandal, der vor etwa<br />
zehn Jahren den asiatischen<br />
Raum erschütterte. Chinesische<br />
Herstellerhatten das Pulvermit<br />
Melamin gestreckt, das eine Zutat<br />
für Klebstoff ist.Hunderttausende<br />
Babys bekamen davon<br />
Oben: Ein Dieb<br />
verstaut Waren<br />
in einer Tasche, die<br />
mit Alu-Folie<br />
ausgeschlagen ist.<br />
Unten: EIn Mann lässt<br />
Kosmetikartikel<br />
verschwinden.<br />
schwere Nierenschäden, viele<br />
starben. Seitdem ist das Vertrauen<br />
in chinesische Kindernahrung<br />
zerstört, Asiaten versorgen<br />
sichmit Milchpulver aus Europa<br />
und besonders gernaus Deutschland.<br />
Bei der Drogeriekette Rossmannkosteteine<br />
Packung Aptamil<br />
der Firma Milupa, jenach<br />
Sorte zwischen 15und 20 Euro.<br />
In China bringt eine solche Packung<br />
ein Vielfaches.<br />
Wie Überwachungsvideos, die<br />
dem KURIER vorliegen zeigen,<br />
sammeln DiebedieMilchpackungen<br />
in Drogerie-Märkten geradezu<br />
ein. Betroffen sind vor allem<br />
Rossmann-Filialen, in denen das<br />
Milchpulver nur wenige Meter<br />
vom Ausgang entfernt steht und<br />
das Detektiv-Büro mitden Überwachungskameras<br />
weit abseits<br />
liegt,sodassdie Täter längst weg<br />
sind, wenn der Wachmann naht.<br />
Das Unternehmen Rossmann<br />
gibt nach Angaben einer Sprecherin<br />
mit Hinweisauf das „sensible<br />
Thema“ keine Auskunft,<br />
auchnicht zur Schadenshöhe.<br />
Wenndie Diebedas Milchpulver<br />
gestohlen haben, fahren sie<br />
nach Wilmersdorf. Nach Erkenntnissen<br />
von Polizisten ist<br />
der Preußenpark von Frühjahr<br />
bis Herbst der Umschlagplatz<br />
für das Diebesgut. Die Grünanlage<br />
ist bei Touristen bekannt als<br />
„Thaipark“, weil dort an Ständen<br />
asiatisches Essen zubereitet<br />
wird. Polizisten beobachteten,<br />
wie immer dieselben Ankäuferinnen<br />
den ganzen Tag über auf<br />
Bänken sitzen, gestohlenes<br />
Milchpulver entgegennehmen,<br />
es dann in mitgebrachten Trolleys<br />
verstauen und den Dieben<br />
gefaltete Fünf-, Zehn-, und 20-<br />
Euro-Scheine als „Provision“zustecken.<br />
Jeden Tag sitzen auf den Bänken<br />
die gleichen Leute.AmEnde<br />
des Tages laden sie die Ware an<br />
der Westfälischen Straße in Autoanhänger.<br />
Im Winter befinden<br />
sich die Ankäuferinnen, meist<br />
Asiatinnen, im Umfelddes Parks<br />
–mitunter in den U-Bahnhöfen<br />
Konstanzer Straße und Fehrbelliner<br />
Platz,hinter einer Tankstelle,<br />
in einem Bistro. Von Wilmersdorf<br />
wird die Ware laut Ermittlern<br />
offenbar unter anderem zu<br />
Händlern ins Dong-Xuan-Center<br />
in Lichtenberg gebracht. Es<br />
findet dann über verschiedene<br />
Routen den Weg nach China und<br />
Hongkong:überTschechien mit<br />
dem Flugzeug, über Rotterdam<br />
per Schiff. Das Pulver wirddann<br />
in Chinaverkauft –für 30 bis 150<br />
Euro pro Packung.<br />
Nicht nur Milchpulver sondern<br />
alles, was sich auf dem Hehlermarkt<br />
zu Geld machen lässt,wird<br />
geklaut –von Zahnpasta bis zu<br />
Parfüm.<br />
Die allermeisten Ladendiebstähle<br />
werden dezentral in den<br />
örtlichen Polizeiabschnitten bearbeitet.<br />
„Die Fällewerdeninder<br />
Regel nicht zusammengeführt“,<br />
sagt Daniel Kretzschmar vom<br />
Bund Deutscher Kriminalbeamter.<br />
„Wenn das mal einer ineinem<br />
Abschnitt macht, dannkann<br />
er es nur, wenn er von der restlichen<br />
Arbeit frei gehalten wird,<br />
aber das passiert selten.“ Nach<br />
Kretzschmars Worten könnte<br />
man Schwerpunkte identifizieren<br />
und beispielsweise mit einer<br />
Ermittlungsgruppetätig werden<br />
unddenTäternnachweisen,dass<br />
sie gewerbsmäßig vorgehen und<br />
Fotos: zVg<br />
damit ihren Lebensunterhalt<br />
verdienen. „Doch dafür fehlen<br />
die Ressourcen.ImMoment stehen<br />
andere Themen auf der politischen<br />
Agenda.“<br />
2018 erfasste diePolizeiinBerlin<br />
35310 Fälle von Ladendiebstahl<br />
–eine Steigerung um1,5<br />
Prozent. Bundesweit gingen dagegen<br />
die Fälle zurück auf<br />
316953. Allerdings steigen die<br />
Fälle von schwerem Ladendiebstahl<br />
seitJahren an –bundesweit<br />
auf 22 068. In Berlin waren es<br />
2236 Fälle. Schwerer Ladendiebstahlliegtvor,wennzumBeispiel<br />
Sicherungssystemeüberwunden<br />
werdenoder die TäterinBanden<br />
agieren.<br />
Die Diebe kommen meist aus<br />
verschiedenen Ländern Osteuropas.<br />
Laut Polizei tratenbesonders<br />
polnische und rumänische<br />
Staatsangehörige in Erscheinung,<br />
gefolgt von Tatverdächtigen<br />
aus der Republik Moldau.<br />
„Zahlenmäßig bedeutsame Anstiege<br />
im Vergleich zum Jahr<br />
2017 sindzuTatverdächtigen aus<br />
Georgien und der Ukraine festzustellen,<br />
zudem bei Tatverdächtigen<br />
mit afghanischer<br />
Staatsangehörigkeit“, sagt die<br />
Polizeisprecherin.<br />
Nicht nur die Masche der georgischen<br />
Diebes-Trios ist beliebt.<br />
Manche verstauen zum Beispiel<br />
ihreBeute in so genannten Klautaschen,<br />
die sie anderem aus<br />
Tschechien beziehen. Diesesind<br />
innen mit Alufolie ausgeschlagen.Sokönnendie<br />
Täter mit ihrem<br />
Diebesgut ungehindert aus<br />
dem Laden spazieren, ohne dass<br />
der Alarm am Ausgang auslöst.<br />
BerlinsPolizei verweistdarauf,<br />
dass sie im vergangenen Jahr<br />
31 575 Fälle aufklärte. Davonseien<br />
27 300 Fälle von „alleinhandelnden<br />
Tatverdächtigen“ begangenworden.<br />
Jedochsagt das<br />
nichts darüber,wie hochder Anteil<br />
von Bandenist. Oderobversäumt<br />
wurde, Zusammenhänge<br />
zu anderen „Einzeltätern“ herzustellenunddarüber,wieoftein<br />
Täter schon gefasst wurde.<br />
Die hohe Aufklärungsquote<br />
von 86,5Prozent, aufdie die Polizei<br />
verweist, ist dem Umstand<br />
geschuldet, dass Wachmänner<br />
die Diebeschnappen und der Polizei<br />
übergeben. Können sich<br />
Einzelhändler keine Ladendetektive<br />
leisten,verzichten sie auf<br />
eine Strafanzeige, weil ohnehin<br />
nicht ermittelt werde.Laut HandelsverbandDeutschland<br />
(HDE)<br />
ergibt sich so eine hohe Dunkelziffer<br />
von rund98Prozent. In der<br />
Realität liege die Aufklärungsquote<br />
daher bei unter zwei Prozent<br />
der vollendeten Taten.<br />
NachAngaben des EHI Retail-<br />
Instituts gabesim2018 Verluste<br />
durch Diebstahl in Höhe von 3,75<br />
Milliarden Euro. Davonentfielen<br />
2,38 Millionen auf Kunden, der<br />
Rest verteilte sich auf Mitarbeiter<br />
und Lieferanten.<br />
Die drei Georgier, die imNovember<br />
festgenommen wurden,<br />
sindübrigens inzwischen wieder<br />
auf freiemFuß.