Berliner Zeitung 20.01.2020
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 16 · M ontag, 20. Januar 2020 3· ·<br />
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Seite 3<br />
Neuanfang mit Sixpack<br />
Läuten nun halb nackte Tänzer auf der Bühne am zugigen, immer noch seelenlosen und in jeder Beziehung widerspenstigen Potsdamer Platz eine neue Zukunft ein –inder Mitte Berlins?<br />
MMACM.COM /DIGITAL<br />
Esriecht gut. Das ist keineswegs das<br />
einzig Erfreuliche, das man über<br />
den neuen Theater-Club „Magic<br />
Mike live“ tief unter dem Musical-<br />
Theater am Potsdamer Platz sagen kann,<br />
aber etwas Wesentliches. Denn der Vorgänger,<br />
das „Adagio“, vor knapp zwei Jahrzehnten<br />
zum exklusiven Nacht-Etablissement<br />
ausgerufen, atmete trotz tausend Kerzen<br />
und riesiger Liliensträuße lange diesen feinen<br />
Kellergeruch. „Magic Mike“ dagegen<br />
fühlt sich schon zur Eröffnung an wie flirrendes<br />
Amüsement.<br />
DasFoyer und der Saal auf mehreren Ebenen<br />
mit Bars, Bistrostühlen und Samtsofas<br />
leuchten in tiefem Türkisgrün. Die Tanzebene<br />
thront wie ein Boxring hoch in der<br />
Mitte.Trotz seiner Größe für 600 Gäste wirkt<br />
alles leger, einladend und intim. Die zwölf<br />
Millionen Euro, die hier in Entkernung und<br />
Neubau investiert wurden, flossen augenscheinlich<br />
vorallem in Licht und Hightech.<br />
Dennoch denkt man gleich an die vollmundigen<br />
Versprechen, die die Unterhaltungsbranche<br />
ja beherrscht wie keine zweite:<br />
„Magic Mike“ ruft sich schon vorab zur<br />
Show-Premieredes Jahres aus –imJanuar!<br />
Ignoriert alles, was dieses Auftaktjahr zu<br />
den Goldenen Zwanzigern in Berlin noch<br />
auffahren wird, etwa den Einzug des Cirque<br />
du Soleil im Theater direkt hier, über dem<br />
neuen Club, oder die nächste Inszenierung<br />
im Friedrichstadt-Palast. Das Revuetheater<br />
in der Friedrichstraße kann sich ja schon wegen<br />
der neuen Konkurrenz am Potsdamer<br />
Platz nicht lumpen lassen. Unddiesen Show-<br />
Giganten sollen 18 junge Stripper das Terrain<br />
streitig machen? Auch noch mit der Behauptung,<br />
gleichzeitig das Klischee des Männer-<br />
Strips außer Kraft zu setzen?<br />
Na, das wollen wir sehen. „Magic Mike“<br />
entstand nach dem Film von Steven Soderbergh,<br />
in dem Channing Tatum die Hauptattraktion<br />
spielt. Darin rasten die Mädchen<br />
beim Ausrücken der Männer mit nackten<br />
Hinternineinem schummerigen Lokal kreischend<br />
aus und greifen beherzt zu. Einzig die<br />
Schwester eines Tänzers seziert das aufdringliche<br />
Gerekel mit unbewegtem Blick –<br />
und verschwindet. Nichts vonder aufgeheizten<br />
Atmosphäreerreicht sie.Soderbergh verherrlicht<br />
das Sex-und-Drogen-Milieu nicht,<br />
sondern bildet es ab und verwebt es mit einer<br />
Sozialstory.<br />
So nicht!<br />
Undwie beginnt das Live-Spektakel am Potsdamer<br />
Platz? Mit einem schmierigen Moderator<br />
im Glitzeranzug, der abfällig das Wort<br />
„Trockenpflaume“ fallen lässt und kauende<br />
Kerle in Macho-Haltung präsentiert, verkleidet<br />
als Tiroler, Kapitän und Polizist. Unter<br />
Getöse stürmt ein Feuerwehrmann auf die<br />
Bühne,der –Achtung, doppeldeutig –mit einem<br />
elenden Schlauch zwischen den Beinen<br />
durch die Gegend spritzt. So weit, so unappetitlich.<br />
Dann bricht die Musik ab, das Bild<br />
friertein. Dieersten Minuten sind rum.<br />
Es wird etwas geboten am Potsdamer Platz:<br />
Wo früher der Danceclub „Adagio“ residierte, rücken jetzt die 18 Tänzer<br />
der Show „Magic Mike live“ ein. Die Eröffnung fühlte sich an wie<br />
flirrendes Entertainment, aber ob die Men-Stripper sich hier behaupten<br />
können, bleibt offen. In Berlins kühler Mitte ist schon so manche<br />
Entertainment-Hoffnung gescheitert.<br />
Die Moderatorin Natacza Sooszie Boon<br />
betritt die Szene und verlangt im Namen von<br />
Frauen: „So nicht! So ein Volltrottel soll nie<br />
wieder jemanden vollspritzen!“ Oben auf der<br />
Empore versteht man von der Moderation –<br />
Autorin: Gayle Tufts –leider kaum einen Satz,<br />
aber offenbar geht es darum, dass Männer<br />
keine Ahnung haben vondem, was dem anderen<br />
Geschlecht gefällt. Frauen wollen<br />
keine Kerle,die tun, als hätten sie wilden Sex,<br />
sondern solche, die etwas können –Tänzer,<br />
Sportler,Musiker,gernmit Charme und Humor.<br />
Dann geht die Show neu los, und zwar in<br />
der gehobenen Form,die die Macher um den<br />
Schauspieler und ehemaligen Stripper<br />
Channing Tatum für Berlin vorgesehen haben.<br />
Mitder Filmvorlage hat die Show wenig<br />
zu tun, hier springen18 Tänzer in Jeans oder<br />
Anzug auf die Bühne. Ihre Faszination geht<br />
nicht von Nacktheit aus, sondern von umwerfender<br />
Beweglichkeit, wenn sie sich so<br />
kraftvoll, rasant und synchron produzieren.<br />
Die Choreografien sind zackig und raffiniert,<br />
die stilistische Bandbreite reicht von<br />
DirtyDancing über Latin bis Flying Steps.90<br />
Minuten lang füllen die Tänzer den Saal bis<br />
unter die Decke, schwingen sich wie Tarzan<br />
an Leinen durch den Raum, fegen akrobatisch<br />
auf der Emporevor dem Geländer entlang,<br />
produzieren sich an Flügel und Saxofon.<br />
EinDrummer schwebt samt Schlagzeug<br />
vonoben herunter.Später öffnet sich die Decke,<br />
umein Wasserbassin samt Großdusche<br />
und einem Liebespaar am Trapezhinabgleiten<br />
zu lassen. Es wirdwas geboten.<br />
Schließlich erlebt man die Athleten mit<br />
ihren begnadeten Körpern–keiner ohne Sixpack<br />
–durchaus ganz nah, im engen Slip,<br />
wenn sie sich tanzend und in ausdrücklich<br />
koitaler Pose über Zuschauerinnen auf ihren<br />
Sesseln beugen. Anfassen erlaubt. „Magic<br />
Mike live“ bricht keineswegs mit Klischees,<br />
sondernhievt den Stripdance einfach auf ein<br />
anständiges heutiges Niveau –wirklich sehenswert.<br />
Undirrsinnig laut. DieBässe spürt<br />
man körperlich von den Zehen bis zu den<br />
Zähnen, selbst der Metallreißverschluss meines<br />
Kleides vibriert. Enthemmter Jubel und<br />
Geschrei bei den jungen Frauen, die das Publikum<br />
zu 90 Prozent dominieren. Die Show<br />
peilt Mädels-Abende an. Aber die funkelnde<br />
VonBirgit Walter<br />
Party-Hochstimmung zur Premieremit zahllosen<br />
geladenen Influencerinnen und Gratis-Cocktails<br />
ohne Ende wird sich sicher<br />
nicht an jedem Wochentag herstellen lassen.<br />
Großkonzerne und Investoren<br />
Läuten nun halb nackte Tänzer auf dem zugigen,<br />
immer noch seelenlosen und in jeder<br />
Beziehung widerspenstigen Platz eine neue<br />
Zukunft ein in der Mitte Berlins? Seinem<br />
Charakter nach blieb der in den Neunzigerrjahren<br />
erbaute Potsdamer Platz ein Produkt<br />
von Großkonzernen und Finanzinvestoren,<br />
die kommen und gehen. Kein Ort, an den es<br />
Kultur- oder Vergnügungsunternehmer lehrte der Potsdamer<br />
Platz von Anfang an das Fürchten. ISTOCKPHOTO<br />
Künstler zieht. Eigentlich trifft man nicht<br />
mal Bettler hier. Kultur- oder Vergnügungsunternehmer<br />
lehrte das Areal vonBeginn an<br />
das Fürchten: Die Diskotheken „Blu“, „Dorian<br />
Gray“ und „Amadeus“, das Erotik-Theater<br />
„Belle et fou“, das Musical-Theater, der<br />
Nachtclub „Adagio“, zuletzt das Cinestar<br />
Original und das Imax –alle haben erwartungsvoll<br />
am Potsdamer Platz eröffnet und<br />
aus Gästemangel dichtgemacht, mitunter<br />
hoch verschuldet. Selbst die Spielbank, eigentlich<br />
ein Hort des Geldes, war schon auf<br />
dem Sprung zurück an den Kurfürstendamm,<br />
als das Musical-Theater genau über<br />
dem neuen Theater-Club 2016 schloss. Der<br />
Theater-Betreiber Stage Entertainment war<br />
in die Hände von Finanzinvestoren gelangt,<br />
die die Bühne aus Renditegründen mit eisiger<br />
Gleichgültigkeit fallen ließen. Seitdem<br />
bleibt das Haus für 1800 Zuschauer dunkel,<br />
füllt sich nur zu vereinzelten Gastspielen und<br />
im Februar als Berlinale-Kino. Gleichzeitig<br />
zogdie Mall of Berlin am Leipziger Platz massenhaft<br />
Kundschaft ab aus den zwischenzeitlich<br />
brummenden Shopping-Arkaden,<br />
ein Geschäft nach dem anderen machte zu,<br />
hinterließ noch mehr Leere inder kühlen<br />
<strong>Berliner</strong> Mitte.<br />
Werhier nach dem Konzert von der Philharmonie<br />
zur U-Bahn eilt, hat das Pflaster<br />
manchmal ganz für sich. Das entging auch<br />
Michael Hildebrandt aus Hamburg nicht,<br />
MediaLane-Geschäftsführer für Deutschland.<br />
Er bringt „Magic Mike Live“ zusammen<br />
mit den amerikanischen Produzenten nach<br />
Berlin, die die Show bereits in Las Vegas und<br />
London erfolgreich etablierten.<br />
Als Hildebrandt 2019 die Möglichkeiten<br />
in Berlin inspizierte und an einem Januarabend<br />
durch die Gegend hier lief, erschrak er<br />
über die Verlassenheit. Aber der zuvorkommende<br />
Manager und erstklassige Branchenkenner<br />
findet den Platz mit seinen ungezählten<br />
Hotels und der hervorragenden Verkehrsanbindung<br />
trotzdem absolut passend.<br />
Er war Stücke-Entwickler bei dem Musical-<br />
Unternehmen Stage Entertainment und verließ<br />
es mit Eintreffen der Heuschrecke. Aber<br />
er kennt natürlich jeden Winkel des Theaters<br />
aus alter Zeit, war mit zuständig für das Entstehen<br />
des Lindenberg-Musicals 2011 und<br />
für den Import der Blue ManGroup 2004.<br />
Die blauen Männer im Theater gegenüber<br />
blieben tatsächlich die einzige Show,<br />
die sich hier nie vertreiben ließ. Ein anderer<br />
Ort als Berlin kam für Hildebrandt nie infrage,<br />
denn hierher wollten die Amerikaner<br />
unbedingt, „die sind ganz wild auf die Stadt.<br />
Siekennen vielleicht gar keine andere.“Und<br />
außerdem zieht ja auch der Cirque du Soleil<br />
im Oktober hier ein und der Umbau der<br />
Shopping-Arkaden beginnt in diesem Jahr.<br />
Aufbruchstimmung also.<br />
Kann man die gewesenen Pleiten eines<br />
Tages vielleicht einfach vergessen? Manche<br />
waren schlicht selbst verschuldet. Das Erotik-Theater<br />
„Belle et fou“ zum Beispiel, 2006<br />
mit hohem Aufwand in eine Etage der Spielbank<br />
eingebaut, bot einiges an Nacktheit,<br />
wollte aber partout nicht erotisch werden,<br />
auch nicht mit Kaviar und Champagner. Im<br />
Nachtclub„Adagio“ ließ sich keine Exklusivität<br />
herstellen. Die aber war gerade das Konzept<br />
des Kulturmanagers Peter Schwenkow,<br />
der hier einen Club für Erwachsene einrichtete<br />
–mit pompös-überladener Einrichtung.<br />
„Natürlich wirddas ein Erfolg“<br />
Ihm schwebte ein Zwei-Klassen-Etablissement<br />
vor: Oben in den Separees sollten sich<br />
Clubmitglieder für 1000 Mark Beitrag wohlfühlen<br />
und auf das gemeine Volk unten herabblicken.<br />
Die Feier-Gemeinden im nicht<br />
hierarchischen Berlin widersetzten sich,<br />
nicht nur,weil man erst Malkeinen Zutritt in<br />
Sneakers hatte. Zwischenzeitlich modernisiert<br />
hielt der Club als Wochenend- und<br />
Event-Location immerhin bis 2017 durch.<br />
Trotzdem bleibt die Frage, ob sich die<br />
„Adagio“-Nachfolger,die schicken Strip-TänzerinBerlin<br />
behaupten werden. ZurPremiere<br />
wusste ein Gast eine glasklareAntwortdarauf,<br />
der frühere Produzent Joop van den Ende:<br />
„Natürlich wird das ein Erfolg, so viel Geld,<br />
wie wir da drin haben!“ –„Wir“? Derlegendäre<br />
Niederländer, der seine ersten zig Millionen<br />
als Teil der TV-Firma Endemol verdient und<br />
nach der Jahrhundertwende mit seiner Stage<br />
Entertainment das deutsche Musicalgeschäft<br />
dominiert hat, bevor er sie an erwähnte Finanzinvestoren<br />
verkaufte,also er ist weiter involviert.<br />
Seiner Tochter Iris van den Ende gehört<br />
das Unternehmen MediaLane, sie teilt<br />
sich das „Magic Mike“-Risiko mit den amerikanischen<br />
Produzenten.<br />
Geraten nun in Berlin jeden Abend 500<br />
bis 600 Ladys außer Kontrolle? Oder ist die<br />
Show doch zu speziell? Vielleicht findet die<br />
große Gay-Community Gefallen an „Magic<br />
Mike“? Bei Ticketpreisen zwischen 45 und<br />
145 Euro wirdder Abend kein günstiges Vergnügen,<br />
aber an der Show ist auch nichts billig,<br />
schon gar nicht der internationale Cast<br />
mit nur einem Deutschen. Das sind keine<br />
Stripper wie im Film, sondern bestens trainierte<br />
Tänzer,schwer zu verpflichten. Werso<br />
viel kann, hat die Wahl. Will sich vielleicht<br />
auch nicht achtmal die Woche verausgaben<br />
und dabei so nah „am Gast“ arbeiten, sondernlieber<br />
mit einem Popstar durch die Welt<br />
touren. Gewissheiten gibt es nicht.<br />
Undwer kennt schon wirklich diese Stadt,<br />
in deren Cafés nicht mal mehr die Kellner<br />
Deutsch verstehen. 20000 Tickets sollen<br />
schon verkauft sein. Michael Hildebrandt<br />
sagt, die Show seinicht für <strong>Berliner</strong>innen gemacht,<br />
sondern für Berlin. Dazu gehört der<br />
Potsdamer Platz mitten in der Mitte. Die<br />
Neubelebung hat begonnen.<br />
Birgit Walter<br />
beobachtet Theater und Clubs am<br />
Potsdamer Platz seit ihrer Eröffnung.