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Berliner Zeitung 20.01.2020

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 16 · M ontag, 20. Januar 2020 – S eite 9<br />

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Berlin<br />

Publikumsliebling:<br />

Die sanierte Friedrichswerdersche<br />

Kirche<br />

Seite 14<br />

Mord auf der Fischerinsel: Gericht prüft Wiederaufnahme-Antrag Seite 11<br />

Ärger auf zwei Rädern: E-Scooter-Anbieter planen Expansion Seite 12<br />

Stadtbild<br />

Verzicht<br />

auf Frust<br />

BarbaraWeitzel<br />

steht in der Schlange<br />

und denkt an einen Text.<br />

AmKiosk mit Postschalter warten<br />

drei Kunden. DieFrauhinter der<br />

Ladentheke plaudert schon eine<br />

Weile mit der Kundin ganz vorn, offenbar<br />

eine Kollegin. Es geht um die<br />

Bon-Pflicht. Der Karton neben der<br />

Kasse ist gut gefüllt. Icherwarte,dass<br />

die Inhaberin sich gleich ereifert,<br />

über Papierverschwendung, Mehrarbeit,<br />

all das.<br />

„Weißt du, ich schick die alle an die<br />

Adresse,die meine Tochter mir gegeben<br />

hat“, sagt sie stattdessen.„Die hat<br />

zwar einen an derWaffel, ist ja auch in<br />

der FDP,aber sie will das so.Daschick<br />

ich die alle hin und dann kann sich jemand<br />

damit auseinandersetzen.“ Sie<br />

wirkt geradezu vergnügt bei dem Gedanken.<br />

Als gelte diese neue Zumutung<br />

gar nicht ihr.<br />

In der Bank hat sich vorden Automaten<br />

eine Schlange gebildet. Einaltes<br />

Ehepaar verzweifelt an einer<br />

Überweisung. Sie flüstern und streiten<br />

ein bisschen. „Jaist das denn die<br />

Möglichkeit“, ruft sie einmal aus,die<br />

Hände zur Decke reckend. Er murmelt<br />

irgendwas. Gebückt gehen<br />

beide zu dem Tischchen, an dem sie<br />

papierne Überweisungsträger erhoffen.<br />

Es sind keine da. Das stellen sie<br />

ganz nüchtern fest. Und beschließen,<br />

am nächsten Tagwiederzukommen.<br />

Unter den Wartenden ist viel<br />

Sympathie für die beiden. Mankann<br />

sie spüren.<br />

Im Blumenladen fragt ein Mann<br />

mit Stiernacken und einerWodkaflasche<br />

unter dem Armnach dem Preis<br />

für ein Gesteck. „Zwölf Euro“ antwortet<br />

der schmächtige Blumenhändler.<br />

Der Bullige reckt den Kopf<br />

in seine Richtung und reißt die Augen<br />

auf. Ichducke mich reflexhaft in<br />

Richtung der Rosenkübel. Erwarte<br />

Ungemach. „Zwölf Euro?Dafür kann<br />

ich ja Urlaub machen“, ruft der<br />

Mann, lacht über seinen Witz, wählt<br />

ein kleineres Arrangement und<br />

nimmt einen Schluck aus seiner<br />

Pulle, während der Händler es verpackt.<br />

Dann zieht er von dannen.<br />

Ohne weitere Beschwerden. Über<br />

diese Preise. Und überhaupt alles.<br />

Liegt’s am Wodka?<br />

Oder ist das einer,der„Das hier ist<br />

Wasser“ verinnerlicht hat? In der berühmten<br />

Rede vonDavid FosterWallace<br />

macht dieser den College-Absolventen<br />

klar, umwie vieles besser<br />

der Alltag und das (Zusammen-) Leben<br />

generell wird, wenn man sich<br />

selbst nicht immer als Mittelpunkt<br />

der Welt begreift. Zur Veranschaulichung<br />

beschreibt er einen Supermarktbesuch<br />

nach Feierabend. Samt<br />

all der „Rindviecher“, die einem<br />

ständig im Wegsind, langsam, rücksichtslos<br />

und hässlich sowieso.Doch<br />

man habe, so Wallace, immer die<br />

Wahl. Wie und worüber man nachdenkt,<br />

während man zum Beispiel in<br />

der Schlange steht oder im Stau.<br />

Oder in Berlin, füge ich innerlich<br />

hinzu, in der vollen Bahn. Oder vor<br />

der Tür einer Praxis, wo man mit<br />

20 anderen Genervten um die Akutsprechstunde<br />

konkurriert. Auch das<br />

habe ich vorkurzemerlebt. Mich gewundert<br />

und gefreut über den resignativen<br />

Frieden in dem kaltenTreppenhaus<br />

morgens um halb acht. Einer<br />

hat alle fünf Minuten das Licht<br />

wieder angeschaltet. Der kam am<br />

Ende gar nicht zum Zuge. Doch er<br />

hatte die Wahl. Er ging ohne Getöse.<br />

Vielstimmiger Protest<br />

Akten des Misstrauens<br />

Baustadtrat Florian Schmidt soll Dokumente manipuliert haben. Die Opposition fordert seinen Rücktritt<br />

VonElmar Schütze<br />

Friedrichshain-Kreuzbergs<br />

Baustadtrat Florian Schmidt<br />

(Grüne) muss um sein Amt<br />

fürchten. Grund ist sein umstrittener<br />

Umgang mit Akten. Während<br />

Schmidt aus seiner Partei Rückendeckung<br />

erfährt, kritisieren Oppositionspolitiker,<br />

aber auch Vertreter<br />

der SPD den Politiker scharf. Es<br />

gibt Forderungen nach seinem Rücktritt<br />

und der Einsetzung eines Sonderermittlers.<br />

Obder Zwist das Zeug<br />

zum handfesten Koalitionskrach hat,<br />

wirdsich zeigen.<br />

Schaden für das Land?<br />

Die SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung<br />

(BVV) Friedrichshain-Kreuzbergwirft<br />

dem Politiker<br />

vor, Akten rund um die Vorgänge<br />

zum Vorkaufsrecht zugunsten einer<br />

Genossenschaft nicht vollständig zur<br />

Verfügung gestellt zu haben. Dies<br />

habe er vorher nicht transparent gemacht.<br />

Die Fraktion stellte dem<br />

Stadtrat das Ultimatum, bis zum<br />

27. Januar alle Akten vorzulegen und<br />

eidesstattlich zu versichern, dass<br />

diese vollständig sind –andernfalls<br />

müsse er zurücktreten. Die Opposition<br />

von CDU und FDP kündigte<br />

Strafanzeige an, Schmidt selbst und<br />

die BVV-Fraktion der Grünen bezeichneten<br />

dieVorwürfe als haltlos.<br />

Konkret geht es um drei Akten. Sie<br />

enthalten Details zum Kauf vonWohnungen<br />

durch den Bezirkzusammen<br />

mit der Genossenschaft „Diese eG“.<br />

Schmidt wollte das Vorkaufsrecht zugunsten<br />

der Genossenschaft durchsetzen,<br />

allerdings scheiterte die Finanzierung<br />

des Deals schließlich. In<br />

Milieuschutzgebieten zum Erhalt der<br />

Sozialstruktur haben die Bezirke ein<br />

Vorkaufsrecht, wenn private EigentümerWohnhäuser<br />

veräußern.<br />

In einerErklärung, die der <strong>Berliner</strong><br />

<strong>Zeitung</strong> vorliegt, schildert der Stadtrat<br />

den Vorgang und rechtfertigt sein<br />

Vorgehen. Sosei im Falle des Grundstücks<br />

Rigaer Straße 101 eine Akte<br />

„noch nicht vorgelegt, weil<br />

es sich um einen noch laufenden<br />

Vorgang handelt“.<br />

Wegen begrenzter Arbeitskapazitäten<br />

habe „noch<br />

nicht geprüft werden können,<br />

ob und inwieweit<br />

schutzwürdige Belange<br />

Dritter tangiert werden<br />

könnten“, schreibt er. Sobald<br />

dies abgeschlossen<br />

sei, sei die Akte selbstverständlich<br />

einsehbar.<br />

Außerdem wurden nach Schmidts<br />

Aussage zwei weitereAkten nicht zur<br />

Einsicht bereitgestellt. Er erklärt dies<br />

damit, dass sich die Diese eG„in einem<br />

laufenden Finanzierungsprozess“<br />

befinde. Es sei nicht auszuschließen,<br />

„dass eine Einsicht dem<br />

Wohle des Landes Berlin und schützenswerten<br />

Belangen Dritter erhebliche<br />

Nachteile bereiten würde“,<br />

schreibt er. Sobald der Finanzierungsprozess<br />

abgeschlossen sei,<br />

könnten auch diese beiden Akten<br />

eingesehen werden.<br />

Antje Kapek, Co-Fraktionschefin<br />

der Grünen im Abgeordnetenhaus<br />

und früher selbst Bezirksverordnete<br />

von Friedrichshain-Kreuzberg, hält<br />

Florian<br />

Schmidt<br />

GERD ENGELSMANN<br />

das Vorgehen ihres Parteifreunds für<br />

fachlich völlig korrekt. Alle Mitarbeiter<br />

der Verwaltung hätten versichert,<br />

dass sie nach bestem Wissen und Gewissen<br />

gehandelt hätten, sagte Kapek<br />

am Sonntag der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>.<br />

„Daran istnichts Seltsames.“<br />

Der SPD-Abgeordnete Sven Kohlmeier,<br />

mit dem sich Kapek bekanntlich<br />

in einer Koalition befindet, kritisiert<br />

Schmidt dagegen scharf. „Was<br />

darf sich der selbsternannte<br />

Robin Hood noch<br />

alles so erlauben?“, fragt<br />

Kohlmeier rhetorisch via<br />

Twitter.Für FDP-Fraktionschef<br />

Sebastian Czaja ist<br />

Schmidts Vorgehen „eventuell<br />

kriminell und korrupt“.<br />

Der für seine Immobilienbranchen-freundliche<br />

Haltung bekannte<br />

CDU-Bundestagsabgeordnete<br />

Jan-Marco Luczak twittert: „Wer<br />

seine eigene Ideologie selbstherrlich<br />

über Rechtund Gesetz stellt, kann in<br />

einem demokratischen Rechtsstaat<br />

keine öffentlichen Ämter bekleiden!“<br />

Und der AfD-Abgeordnete Carsten<br />

Ubbelohde sieht die gesamte rot-rotgrüne<br />

Fraktion gar auf dem Weg„zu<br />

einer ökofaschistischen DDR 2.0“.<br />

Kapekzufolge hat sich Schmidt un-<br />

CHRISTIAN MANG<br />

Unter dem Motto„Wir haben es satt“ sind am Sonnabend zum zehnten<br />

Mal Tausende Menschen für eine ressourcenschonende Landwirtschaft<br />

auf die Straße gegangen. Anlass war wie jedes Jahr der Auftakt der<br />

Agrarmesse GrüneWoche.Organisiertwirddie Demo voneinem Bündnis<br />

aus Ökobauern, Klima-, Natur-und Tierschützern. DieDemonstration<br />

begann um 8Uhr mit einer „Sternfahrt“: Öko-Bauern und -Bäuerinnen<br />

fuhren auf mehr als 150 Traktoren aus drei verschiedenen Richtungen<br />

durch die Stadt bis zur Straße des 17. Juni. Beider Kundgebung<br />

vordem Brandenburger Torund einem anschließenden Protestmarsch<br />

zählten die Veranstalter 27 000 Teilnehmer. Die Liste der Forderungen<br />

von „Wir haben es satt“ ist sehr vielfältig. Aber zentral ist dabei ein<br />

grundlegender Richtungswechsel in der Agrarpolitik der EU.<br />

terdessen juristische Unterstützung<br />

geholt. So seider Vorwurfder Korruption<br />

strafbar.Auchder Straftatbestand<br />

der Beleidigung stehe im Raum.<br />

Doch in der Affäre geht es nicht<br />

nur um den Vorwurf der Aktenmanipulation.<br />

Für besonderen Zorn bei<br />

derkommunalen SPD sorgte der Versuch<br />

Schmidts,ihnen vertraulichseinen<br />

Umgang mit den Akten zu erklärenund<br />

sie damit mit zu sich ins Boot<br />

zu holen. SPD, Grüne und Linke bilden<br />

auch in Friedrichshain-Kreuzberg<br />

ein Bündnis, auf Bezirksebene<br />

spricht man von Zählgemeinschaft.<br />

Anfang voriger Woche erklärte<br />

Schmidt den Partner-Fraktionen in<br />

einem vertraulichen Gespräch, dass<br />

er eine „Instrumentalisierung“ durch<br />

politische Gegner fürchte, wenn die<br />

sensiblen Daten öffentlich würden.<br />

Einsicht und Reue?<br />

Die SPD habe nach Worten ihres<br />

Kreis-Chefs Harald Georgii „ein paar<br />

Tage der Debatte gebraucht, um das<br />

einzuordnen“. Inzwischen sei man sicher:„Wirtolerieren<br />

dieses Verhalten<br />

auf keinen Fall“, sagte Georgii am<br />

Sonntag der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>. Besonders<br />

empörend sei es,dass man vom<br />

Schmidt „zum Mitwisser“ gemacht<br />

wurde. Erspricht von „erheblich erschüttertem<br />

Vertrauen“, Schmidt<br />

müsse Einsicht und Reue zeigen.<br />

Grünen-Fraktionschefin Kapek<br />

sieht in demVerhalten„eine Kooperation<br />

der SPD mit der Opposition“ und<br />

nennt das„ein dickes Ding“. Zwar polarisiereund<br />

provoziereSchmidt und<br />

müsse sich auch den Vorwurf einer<br />

„großen Klappe“ machen lassen.<br />

Aber insgesamt handele es sich um<br />

eine „hässliche Instrumentalisierung“<br />

gegen Schmidt, sagte Kapek.<br />

Elmar Schütze<br />

wünscht sich saubere und<br />

ordnungsgemäße Akten.<br />

BVG-Bus<br />

überrollt<br />

Radfahrerin<br />

Frau stirbt bei<br />

Unfall in Johannisthal<br />

Esist der zweite tödliche Fahrradunfall<br />

in diesem Jahr: ImTreptow-Köpenicker<br />

Ortsteil Johannisthal<br />

wurde am Sonntag eine Radfahrerin<br />

voneinem BVG-Bus erfasst<br />

und getötet. Gegen 12.20 Uhr ging<br />

der Notruf bei der Feuerwehr ein.<br />

Am Groß-<strong>Berliner</strong> Damm, Ecke Pilotenstraße<br />

in Johannisthal hatte<br />

ein rechts abbiegender Bus der<br />

BVG-Linie 265 eine Radfahrerin erfasst,<br />

die auf dem Radweg des Groß-<br />

<strong>Berliner</strong> Damms fuhr und geradeaus<br />

in Richtung Segelfliegerdamm<br />

weiterfahren wollte. Eine Ampelregelung<br />

gibt es an der Kreuzung<br />

nicht. DerFahrer bemerkte den Unfall<br />

offenbar zunächst gar nicht.<br />

Zeugen zufolge fuhr er noch mehrere<br />

Meter inder Pilotenstraße weiter<br />

und schleifte die Radfahrerin<br />

mit, bevor er anhielt.<br />

Der Bus musste angehoben werden,<br />

um die Radfahrerin zu befreien.<br />

Um nicht auf den Kran und den<br />

Rüstwagen der Feuerwehr warten zu<br />

müssen, die nach einer halben<br />

Stunde eintrafen, behalfen sich die<br />

Feuerwehrleute mit Wagenhebern,<br />

um den Busanzuheben und die Verunglückte<br />

zu befreien. Doch die Einsatzkräfte<br />

konnten nur noch den Tod<br />

der Frau feststellen. Näheres zu der<br />

Verunglückten wollte die Polizei zunächst<br />

nicht sagen. DieAngehörigen<br />

müssten erst informiert werden, so<br />

eine Polizeisprecherin.<br />

An dem Einsatz waren nach Angaben<br />

eines Feuerwehrsprechers<br />

40 Einsatzkräfte beteiligt. Der Busfahrer<br />

und ein Passant, die einen<br />

Schock erlitten, seien ins Krankenhaus<br />

gebracht worden. Während<br />

der Unfallaufnahme musste der<br />

Groß-<strong>Berliner</strong> Damm in Richtung<br />

Segelfliegerdamm gesperrtbleiben.<br />

Diskussion über die Sicherheit<br />

Bereits am 8. Januar war in Berlin<br />

eine 69-jährige Radfahrerin ums Leben<br />

gekommen. Sie war am Kottbusser<br />

TorinKreuzberg von einem<br />

rechtsabbiegenden Lkw erfasst<br />

worden. Der Unfall in Kreuzberg<br />

hatte eine erneute Diskussion um<br />

die Sicherheit von Radfahrern ausgelöst.<br />

Fahrrad- und Fußgängerverbände<br />

forderten einen schnelleren<br />

Umbau der Stadt zugunsten der<br />

Radfahrer und Fußgänger.<br />

Im vergangenen Jahr hatte die<br />

Polizei auf <strong>Berliner</strong> Straßen mehr als<br />

8000 Unfälle mit Radfahrern registriert.<br />

Dabei starben sechs Radler.<br />

Bundesweit stieg die Zahl der getöteten<br />

Radfahrer 2019 um elf Prozent.<br />

Im Jahr zuvor zählte die Polizei<br />

sogar elf getötete Radfahrer. Injenem<br />

Jahr gab es insgesamt 7 971<br />

Unfälle mit Radfahrern. (kop.)<br />

Die Hilfe der Einsatzkräfte kam für die Verunglückte<br />

zu spät.<br />

MORRIS PUDWELL

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