Berliner Zeitung 21.01.2020
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20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 17 · D ienstag, 21. Januar 2020<br />
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Feuilleton<br />
Meermonster und fliegende Gelenke<br />
Purple, das Tanzfestival für Kinder und Jugendliche, eröffnet mit „Hocus Pocus“ von der Compagnie Philippe Saire in den Uferstudios<br />
VonMichaela Schlagenwerth<br />
Nackte Oberkörper können<br />
fliegen. Ellbogen<br />
und Füße auch. Es<br />
braucht dafür nur einen<br />
dunklen Raum und zwei Leuchtstoffröhren.<br />
Dann ist es ganz einfach.<br />
Zumindest sieht es so aus bei<br />
„Hocus Pocus“, dem Stück der<br />
Compagnie Philippe Saire, mit dem<br />
das Tanzfestival Purple für Kinder<br />
und Jugendliche in den Uferstudios<br />
eröffnet. „Hocus Pocus“ ist eine fantastische<br />
Reise,inder die Requisiten<br />
vorallem aus den eigenen Gelenken<br />
und Extremitäten zweier Tänzer bestehen.<br />
Ganz langsam ins Licht geschoben<br />
kann so ein Ellbogen<br />
schon mal wie ein kleines, verhutzeltes<br />
Wichtelgesicht aussehen und<br />
ein nackter Rücken gleich wie ein<br />
ganzes Ungeheuer.<br />
Ein„Nein!“ kann helfen<br />
Die Compagnie Philippe Saire lässt Figuren fliegen und Albträume platzen.<br />
„Hocus Pocus“ ist ein zauberhafter<br />
Festivalauftakt mit zwei Abenteurern,<br />
die in ihren Albträumen durch<br />
die Lüfte und manchmal auch unter<br />
Wasser fliegen und dort Meeresungeheuern<br />
und anderen Monstern<br />
begegnen. Sie werden bedroht und<br />
verschluckt, und am Ende geht doch<br />
alles gut. Weil man zum Beispiel<br />
manchmal nur „Nein!“ sagen muss.<br />
Dann hörtdas Monster sofortauf.<br />
Vor fünf Jahren, als die Finnin<br />
Virve Sutinen die Leitung des Festivals<br />
Tanz im August übernahm, fand<br />
sie klare Worte zum Thema Tanz,<br />
Kinder und Jugendliche in Berlin. Sie<br />
war fassungslos, denn für Kinder<br />
und Jugendliche gab es jenseits der<br />
Märchenballette so gut wie keine<br />
professioniellen Tanzproduktionen<br />
in der Stadt. Selbstverständlich<br />
müsse ein Festival voneiner Größenordnung<br />
wie Tanz im August auch<br />
internationale Produktionen für die<br />
jüngeren Zuschauer präsentieren,<br />
sagte sie damals.<br />
Bislang ist daraus nichts geworden.<br />
DasGeld reicht nicht für eine eigene<br />
Kuratorin. Bei Tanz im August<br />
gibt es dafür jetzt familiengeeignete<br />
Stücke.Das ist schon ein gutes Angebot,<br />
aber Produktionen, die sich explizit<br />
an Kinder und Jugendliche<br />
richten, sind trotzdem etwas anderes.<br />
DieSituation war und ist eigentlich<br />
immer noch absurd. In Berlin leben<br />
so viele Choreografinnen und<br />
Choreografen wie nirgendwo sonst<br />
in Deutschland. Aber professionelle<br />
Produktionen für ein junges Publikum<br />
gab es –bis auf wenige Solitäre–<br />
vorvier Jahren so gut wie nicht in der<br />
Stadt. Damals fand zum ersten Mal<br />
das von der Tänzerin und Choreografin<br />
Canan Erek gegründete Tanzfestival<br />
Purple statt. Parallel gründete<br />
der Verein TanzZeit die Tanzkomplizen,<br />
die ebenfalls die Produktion<br />
von zeitgenössischen<br />
Tanzstücken für junges Publikum<br />
auf ihreAgenda gesetzt haben.<br />
Eigentlich, so könnte man glauben,<br />
wurde mit Purple und Tanzkomplizen<br />
eine riesige Angebotslücke<br />
zumindest ansatzweise geschlossen.<br />
Endlich zeitgenössische<br />
Tanzstücke für Kinder und Jugendliche!<br />
Getanzt von professionellen<br />
Tänzern und entwickelt von professionellen<br />
Choreografen! Doch am<br />
Anfang war es mitnichten ein Selbstläufer.„Für<br />
die erste Festivalausgabe<br />
mussten wir uns unser Publikum<br />
erst noch erkämpfen“, sagt die Kuratorin<br />
Canan Erek. Kindern und Jugendlichen<br />
wurde das Selbst-Tanzen<br />
durch den Verein TanzZeit und Tanz<br />
ist klasse! vom <strong>Berliner</strong> Staatsballett<br />
damals zwar schon eine Weile ermöglicht.<br />
Aber selbst Tanz zu sehen<br />
PHILIPPE PACHE<br />
ist noch einmal etwas anderes.Denn<br />
die Zuschauer, egal welchen Alters,<br />
sind dabei vor allem auf sich selbst<br />
zurückgeworfen, auf ihre eigene<br />
sinnlicheWahrnehmung und ihreeigenen<br />
Assoziationen. Gerade das<br />
macht ja das Besondereund Großartige<br />
von Tanz aus. Aber für diejenigen,<br />
die die Kinder erst ins Theater<br />
bringen müssen, für die Erwachsenen<br />
und vorallem für die Lehrer,die<br />
vor allem an kognitiven Zugängen<br />
arbeiten, ist das auch eine Herausforderung.<br />
Nach nur vier Jahren Aufbauarbeit<br />
müssen sich weder Canan Erek<br />
mit Purple noch die Tanzkomplizen<br />
um Publikum Sorgen machen. Ihre<br />
Vorstellungen sind regelmäßig ausverkauft.<br />
Wernoch eine der Vorstellungen<br />
des Festivals besuchen<br />
möchte,sollte sich unbedingt vorher<br />
informieren. Im Theater Strahl, im<br />
Theater o. N. und in der Jugendtheaterwerkstatt<br />
Spandau geht das Festival<br />
mit Produktionen für unterschiedlichste<br />
Altersgruppen weiter.<br />
Förderungen<br />
Und viele gute Nachrichten gibt es<br />
auch. Eine verkündete der Kultursenator<br />
Klaus Lederer beim Festivalauftakt<br />
in seinem Grußwortpersönlich.<br />
Purple wird auch im nächsten<br />
Jahr weiter gefördert. Ebenso die<br />
Tanzkomplizen. Darüber hinaus<br />
haben sich die beiden Akteure mit<br />
dem Theater Strahl und dem Theater<br />
o. N. zusammengeschlossen und<br />
als Offensive Tanz für junges Publikum<br />
Berlin für 2020 und 2021 eine<br />
Förderung von Tanzpakt Stadt-<br />
Land-Bund erhalten. Sechs Tanzproduktionen<br />
werden so finanziert,<br />
Vermittlungsformate für Kinder<br />
und Jugendliche, aber auch für<br />
Lehr- und Erziehungskräfte und<br />
insgesamt drei Symposien.<br />
Die Entscheidung der Tanzpakt-<br />
Jury setzt für das Land Berlin ein klares<br />
Zeichen: Hier besteht Bedarf!<br />
Nunkann man nur hoffen, dass dieses<br />
Signal auch ankommt. Denn für<br />
den zeitgenössischen Kinder- und<br />
Jugendtanz besteht noch einiges an<br />
Bedarf. Da könnte Berlin von anderen<br />
Ländern, von Schweden etwa<br />
oder den Niederlanden, noch eine<br />
Menge lernen.<br />
Purple −internationales Tanzfestivalfür junges<br />
Publikum noch bis 26.Januar,Karten und<br />
Programm unterpurple-tanzfestival.de<br />
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