Leseprobe Gesang vom Leben
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jenen Rang einnimmt, den in vorherigen Jahrhunderten etwa Bach<br />
oder Mendelssohn beansprucht haben. Sicher: Im 20. Jahrhundert<br />
lebt Max Reger hier, und mit Hanns Eisler wird 1898 in Leipzig sogar<br />
jemand geboren, den der sozialistische Staat später am liebsten zum<br />
Nationalkomponisten erheben würde. Doch für die Geschichte der<br />
Musikstadt sind dies nur noch Randnotizen. Denn schleichend, aber<br />
unumkehrbar haben sich die Rollenbilder verschoben. Nicht die<br />
Individualität des Tonsetzers ist jetzt das Entscheidende, sondern<br />
die Individualität des Interpreten, der Bekanntes gleichsam immer<br />
wieder neu entdeckt. Dass Leipzig auch im 20. und 21. Jahrhundert<br />
unumstritten eine Musikstadt ist, liegt daran, dass hier gleich eine<br />
ganze Reihe von Interpreten von Weltruhm wirken – allen voran die<br />
großen Dirigenten in Gewandhaus, Oper und Rundfunk, aber auch<br />
unzählige andere Musiker, die mit ihren Ideen der Stadt immer wieder<br />
neue Impulse geben.<br />
Im Gewandhaus beginnt diese neue Zeit, als 1895 ein alter Bekannter<br />
nach Leipzig zurückkehrt. Schon zwischen 1878 und 1889 hatte<br />
Arthur Nikisch als Kapellmeister am Theater, zum Teil unter den<br />
eifersüchtigen Blicken des Kollegen Gustav Mahler, für Furore gesorgt.<br />
Die von ihm organisierte Uraufführung von Anton Bruckners Siebter<br />
Sinfonie im Jahr 1884 – Nikisch war zu dieser Zeit noch keine 30 Jahre<br />
alt – hat den Grundstein für eine atemberaubende Dirigentenkarriere<br />
gelegt. Insgesamt sechs Jahre in Boston und Budapest haben den<br />
Ungarn zu einem Weltstar geformt, als er mit gerade erst 40 Jahren<br />
zum Gewandhauskapellmeister ernannt wird. Bis zu seinem Tod im<br />
Jahr 1922 bleibt Nikisch diesem Amt treu – 27 Jahre, in denen er das<br />
moderne musikalische Leipzig entscheidend gestaltet. Dabei macht<br />
der Dirigent im Konzerthaus einfach nur dort weiter, wo er sechs<br />
Jahre zuvor im Theater aufgehört hat. Da aber im Gewandhaus unter<br />
seinem Vorgänger Zeitgenössisches kaum eine Rolle spielte, verschieben<br />
sich dort jetzt die Proportionen. Bruckners Musik wird zu einer<br />
der tragenden Säulen des Repertoires, in der Saison 19/20 dirigiert<br />
Nikisch sogar sämtliche Sinfonien des Österreichers. Auch für die<br />
Zeitgenossen ist genügend Platz: Strauss, Mahler und Reger stehen<br />
ebenso auf dem Programm wie Schönberg.<br />
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