Leseprobe Gesang vom Leben
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in ein Bild überführen. Wer <strong>Gesang</strong> <strong>vom</strong> <strong>Leben</strong> betrachtet, braucht<br />
Zeit und die Bereitschaft zum Perspektivwechsel. Formen, Farben<br />
und Inhalte überwältigen. Zudem bricht das von Gustav Mahlers Lied<br />
von der Erde inspirierte Kunstwerk unzählige Erwartungen, denn es<br />
illustriert nicht Musik und deutet auch keine Musikgeschichte. Stattdessen<br />
schafft es Assoziationsräume. Die vier Bestandteile Orchester,<br />
Lied der Stadt, Mächte der Finsternis und Lied <strong>vom</strong> Glück sind keine<br />
Abfolge. Im unablässigen Abschreiten ergänzen sie sich zu einem Bild,<br />
das schon beim nächsten Betrachten ganz anders wirken kann.<br />
Auch der Blick auf die Musikstadt Leipzig unterliegt solch unablässiger<br />
Veränderung: Mancher Fokus im Buch lässt erstaunen, manche<br />
Lücke verwundern. Die Hauptstränge dieser Biografie tragen die<br />
Titel der Abschnitte von Gilles Gemälde. Lied der Stadt zeigt, wie die<br />
Vielfalt wuchs, die zur Basis einer einzigartigen Musikkultur wurde.<br />
Orchester beschreibt – keinesfalls ausschließlich, aber vorrangig – jene<br />
Institution, deren Ruf auch dazu führte, dass Leipzig in aller Welt als<br />
Musikstadt bekannt wurde. Der abschließende Teil des Buches, der<br />
<strong>vom</strong> zerrissenen 20. Jahrhundert mit seinen Kulturbrüchen bis in die<br />
vielschichtige Gegenwart reicht, verbindet die Mächte der Finsternis<br />
und das Lied <strong>vom</strong> Glück. Schon Sighard Gille selbst hat in seinen Vorstudien<br />
zum Bild beide Abschnitte als Einheit gesehen.<br />
Längst ist <strong>Gesang</strong> <strong>vom</strong> <strong>Leben</strong> Teil der Historie: Als am Abend des<br />
9. Oktober 1989 auf dem Platz, der zu dieser Zeit noch nach Karl Marx<br />
benannt war, zehntausende Menschen Freiheit und Demokratie forderten,<br />
ging ihr Blick auch zum Gewandhaus. Aus ihm kam Stunden<br />
zuvor der von Kurt Masur initiierte Aufruf zur Gewaltlosigkeit,<br />
der wesentlichen Anteil am Erfolg der Friedlichen Revolution hatte.<br />
An diesem Abend zeigte sich die Tragweite von Gilles Kunstwerk an<br />
der hell erleuchteten Fassade des Gewandhauses mit aller Prägnanz.<br />
Denn der Abschnitt Lied <strong>vom</strong> Glück ist einzig von jener Stelle aus vollständig<br />
zu sehen, wo damals die Demonstranten versammelt waren.<br />
Er zeigt die Vision einer zukünftigen Welt, ein idyllisches Arkadien.<br />
Im Herbst 1989 gingen Träume in Erfüllung. Ob die folgenden Jahrzehnte<br />
die Biografie der Musikmetropole in ein Lied <strong>vom</strong> Glück wandelten,<br />
sollen spätere Generationen bewerten.<br />
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